Aus dem Französischen von Jürgen Strasser
Restbestand - nur noch, so lange der Vorrat reicht
Wer Freude an feinsinnigen Nuancen hat, wird sich gerne vom imaginären Schriftsteller bei der Hand nehmen und auf eine Reise durch Paris und andere europäische Städte einladen lassen. Es sind nicht die spektakulären Sehenswürdigkeiten, die uns der Schriftsteller zeigt, sondern die Kleinigkeiten des Lebens, die kaum in einen Reiseführer Eingang finden, uns aber dennoch so vertraut erscheinen, weil wir ihnen an vielen Orten hundertfach begegnet sind. Ähnlich ergeht es uns mit dem Protagonisten selbst, der uns mit seiner Vermengung verschiedener Identitäten den Eindruck vermittelt, schon einmal seine Bekanntschaft gemacht zu haben.
"Maulpoix leistet eine Hommage an die Rolle des Schriftstellers. Sein Buch ist wichtig, weil es den Wesensgrund der Menschheitsgeschichte aufdeckt." Le Monde
"Ein Schriftsteller ist ein imaginäres Geschöpf. Man träumt von ihm, man begegnet ihm nicht. Er existiert nicht, er tut nur so als ob. Es ist fast nur ein Name, eine Art ausgemachtes Bild oder spät eintretende Legende, die Photographie eines einzigen Mannes, die von vielen gemacht wurde." (JMM)
Jean-Michel Maulpoix: geb. 1952 in Montbéliard, Literaturprofessor in Paris / Nanterre, leitet eine Literaturzeitschrift und veröffentlicht Essays und poetische Werke seit vielen Jahren in den renommierten französischen Verlagen Mercure de France und Poésie / Gallimard.
ICH BIN IN DER RUE HAUTEFEUILLE in Paris am 9. April 1821 geboren, dann ein zweites Mal im Spital von Rouen, am 12. Dezember des gleichen Jahres. Ebenso bin ich zweimal gestorben, zunächst in Marseille am 10. November 1891 um 10 Uhr morgens, dann im Abstand von einer Woche, jedoch ein halbes Jahrhundert später, um 9 Uhr am 18. November 1952 in der Avenue de Grevelle in Charenton.
Diese Daten sind nicht sicher, genauso wenig wie diese Orte und Uhrzeiten. Ich habe das Licht der Welt erblickt und habe sie dann verlassen. Ein Nichts reicht, um mich glauben zu machen, daß mein Leben begonnen oder mit einem Schlag sein Ende gefunden hat. Ich habe nie aufgehört zu entstehen, dann zu vergehen und weiß nicht mehr viel über meine eigene Geschichte. Die paar Bücher, die ich geschrieben habe, haben mehr Realität als ich. Vielleicht ist ja das Leben eines Menschen alles in allem allein das: eine schlecht definierte Abfolge von imaginären Geburten und Hinscheiden. Man begreift es gerne als einmalig und stetig, ähnlich einem Fluß, der von seiner Quelle zu seiner Mündung hinabfließt, man verleiht ihm eine Orientierung und ein Geschick, man nennt es glorreich oder verdammt, wo es doch letzten Endes nur ein Haufen von zerknüllten, mit Streichungen und Flekken bedeckten Papieren ist.
Ich weiß nicht wirklich, wessen Sohn ich bin. Ich habe meine Eltern kaum gekannt. Manche erzählen, daß mein Vater ein sehr kultivierter Mann von tadelloser Vornehmheit gewesen sei, der unter dem Ancien Régime eine feine Erziehung genossen hatte. Seine Lektüre der Philosophen und sein Sinn für die Künste hatten ihn von der Religion abgewandt, welcher er sich in seiner Jugend zu verschreiben gedacht hatte. Andere meinen, daß er Vorstand der Anatomie gewesen sei, bevor er, obwohl er Titel und Akademien verabscheute, Chefmediziner geworden sei. Andere wieder meinen, daß er Kapitän gewesen sei, von eher mittlerer Körpergröße, mit blauen Augen, hoher Stirn, kurzer und leichter Stupsnase und einen Schnurrbart nach der Mode des Kaisers getragen habe. Noch andere meinen, daß er Buchhalter, später Warenhändler in Aulnay-sous-Bois gewesen sei.
Meine Mutter, so sagt man, war eine Schneiderin, die aus armen Verhältnissen stammte. Sie kannte die Not und fürchtete stets, wieder dorthin zurückzufallen. Man sagt auch, daß sie die häuslichen Pflichten ihr ganzes Leben lang voll in Beschlag genommen hatten, und daß ihr Sinn für Moral keinerlei Schwächen hatte. Wenn sie meinen Vater nicht getroffen hätte, wäre sie zweifellos eine alte Jungfer geblieben, verdammt zur Mittelmäßigkeit. Ihre Totenmaske ist heute in der Bibliothek von R. aufbewahrt: sie sieht dem Gesicht Charles Baudelaires ähnlich, wie Carjat es photographiert hat.
Als Kind war ich gemütlich. Als Jugendlicher wurde ich schwierig, mißtrauisch und stets bereit zu rebellieren. Meine Studien sollten sich nicht lange fortsetzen. Die Mittelschule schätzte ich kaum, und die Spötteleien meiner Kameraden konnte ich schlecht ertragen. Ich mochte jedoch Latein, die berühmten Männer der Antike und die Fabeln von La Fontaine. Mit dreizehn träumte ich davon, einen Roman über Isabella von Bayern zu schreiben. Mit sechzehn hatte ich bereits den Kopf voller Titel: Der Maskenball, Die rote Geschichte, Die schöne Dorothee, Die Karodame, Komödie des Dursts* ... Ich dichtete einige schwülstige Oden zu Ehren der Märtyrer verflossener Zeiten und skizzierte mehrere Tragödien in Alexandrinern.
Ich machte ohne Überzeugung ein bißchen Medizin und Jus. Meine Professoren erschienen mir grau und farblos. Die Langeweile packte mich zur gleichen Zeit wie die Freude am Müßiggang und am Flanieren. Bald durchstreifte ich die Straßen von Paris.
Ich übte verschiedene Berufe aus, darunter jenen des Großhändlers. Aber eigentlich habe ich nur mit Wörtern Handel getrieben. Ich schrieb Bücher, in Versen oder in Prosa. Ich mochte die Wolken, schöne Sätze, seltene Werke und Gravuren.
Ich bin mit Malern und Musikern in Verbindung gestanden. Ich habe meine Pfeife verkehrt herum geraucht. Ich habe zahlreiche Gifte gekostet. Ich habe mich selten früh zu Bett gelegt.
Ich konnte mir nicht vorstellen, anderswo als in Paris zu leben, wenngleich ich mich fallweise für einige Tage nach Lothringen oder in die Normandie aufs Land zurückzog, wohin ich mir einige Bande bewahrt hatte, im vertrauten Schatten einer Linde, zwischen Schafen und Hühnern.
Ich mochte die Straßen der Hauptstadt gerne und wollte, daß die Menschenmenge dort nicht meine Einsamkeit störe. Ich mochte ihre seltsamen Waren, ihre Lichter, ihre Halbstunden-Freundschaften und ihre Fünfminuten-Maitressen. Zur Abenddämmerung führten mich meine Schritte oft zu irgendeinem leichten Mädchen am Ende einer Sackgasse. Nachmittags folgte ich bisweilen aus Untätigkeit den Leichenzügen oder den Hochzeitsgesellschaften. Meine Tage endeten oft im Halbschatten eines Männer-Boudoirs, wo man raucht, bis spät in die Nacht trinkt, alte Liebschaften erzählt und immer wieder Gründe sucht, weiterzulieben.
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