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Roman
Als Lina stirbt, soll ihre Asche unter ihrem Lieblingsbaum in den Wind gestreut werden. Auf dem Friedhof findet ihr Sohn Henrik einen Blumenstrauss mit der Inschrift: Ich liebe dich für alle Zeit, Henning. Henrik wird zum Ermittler. Er beginnt im Nachlass nach dem geheimen Leben seiner Mutter zu forschen und stößt auf Fotos, Liebes- und Abschiedsbriefe von einem Lars und einem Henning. Wer ist Lars? Wer ist Henning? Henriks Mutter hat in der Familie nie von früheren Beziehungen mit Männern erzählt, auch nicht von ihrer Adoption und ihrem biologischen Vater. Henrik reist auf den Spuren Linas durch Schweden und lernt so eine andere Frau kennen als jene, die er als seine Mutter kannte. Allmählich tut sich ein Abgrund auf. Seine Mutter wird ihm mehr und mehr zum Mysterium.
Karl-Gustav Ruch: geb. 1954 in Zürich, aufgewachsen in Bassersdorf (Region Zürich), nach dem Gymnasium in Winterthur Ausbildung zum Gitarrenlehrer, Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie an der Universität Zürich, Gymnasiallehrer, lebt in Barcelona.
Bisherige Veröffentlichungen:
- 2003 Talgo Pendular – Geschichten zwischen Zürich und Barcelona, Eremiten-Presse, Düsseldorf
- 2011 Hinter der Wand – Geschichten zwischen Zürich und Barcelona, edition 8, Zürich
- 2018 Das letzte Fenster (Roman), Hockebooks, München
Preise / Auszeichnungen:
- 2003 Mitgewinner des Opennet-Wettbewerbs der Solothurner Literaturtage mit dem Text „Heimat.02“
- 2009 Nominierung für den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt mit der Erzählung „Hinter der Wand“, Preis der Automatischen Literaturkritik
Links:
https://www.karlgustavruch.com/
https://www.literaturport.de/lexikon/karl-gustav-ruch/
http://bachmannpreis.eu/de/autoren/842
https://lexikon.a-d-s.ch/Person/22227
Videos:
Video-Porträt und Lesung in Klagenfurt
Musikalische Lesung
Als Lina stirbt, soll ihre Asche unter ihrem Lieblingsbaum in den Wind gestreut werden. Auf dem Friedhof findet ihr Sohn Henrik einen Blumenstrauss mit der Inschrift: Ich liebe dich für alle Zeit, Henning. Henrik wird zum Ermittler. Er beginnt im Nachlass nach dem geheimen Leben seiner Mutter zu forschen und stößt auf Fotos, Liebes- und Abschiedsbriefe von einem Lars und einem Henning. Wer ist Lars? Wer ist Henning? Henriks Mutter hat in der Familie nie von früheren Beziehungen mit Männern erzählt, auch nicht von ihrer Adoption und ihrem biologischen Vater. Henrik reist auf den Spuren Linas durch Schweden und lernt so eine andere Frau kennen als jene, die er als seine Mutter kannte. Allmählich tut sich ein Abgrund auf. Seine Mutter wird ihm mehr und mehr zum Mysterium.
Karl-Gustav Ruch: geb. 1954 in Zürich, aufgewachsen in Bassersdorf (Region Zürich), nach dem Gymnasium in Winterthur Ausbildung zum Gitarrenlehrer, Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie an der Universität Zürich, Gymnasiallehrer, lebt in Barcelona.
Bisherige Veröffentlichungen:
- 2003 Talgo Pendular – Geschichten zwischen Zürich und Barcelona, Eremiten-Presse, Düsseldorf
- 2011 Hinter der Wand – Geschichten zwischen Zürich und Barcelona, edition 8, Zürich
- 2018 Das letzte Fenster (Roman), Hockebooks, München
Preise / Auszeichnungen:
- 2003 Mitgewinner des Opennet-Wettbewerbs der Solothurner Literaturtage mit dem Text „Heimat.02“
- 2009 Nominierung für den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt mit der Erzählung „Hinter der Wand“, Preis der Automatischen Literaturkritik
Links:
https://www.karlgustavruch.com/
https://www.literaturport.de/lexikon/karl-gustav-ruch/
http://bachmannpreis.eu/de/autoren/842
https://lexikon.a-d-s.ch/Person/22227
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Musikalische Lesung
1. Kapitel
Eigentlich wollte Lina auf keinen Fall auf einem Friedhof begraben werden, nein, ihre
Asche sollte unter ihrem Lieblingsbaum – dem Weltenbaum, wie sie ihn nannte – in den
Wind gestreut werden. Es war ihr letzter unziemlicher Wunsch gewesen, erstens nicht
auf einem Friedhof und zweitens nicht begraben, sondern auf dem Hügel über dem Dorf
als Asche in den Südwind gestreut zu werden; unter einer windschiefen, knorrigen
Winterlinde mit weitausgreifenden Ästen, die so deplatziert und erratisch auf dem Feld
stand wie Lina in ihrem Leben. Wieso Südwind, hatte er sie bei ihrem letzten Treffen
vor zwei Wochen gefragt. Südwind trägt mich nach Hause, in den Norden, sagte sie.
Nordwind auch gut, weil der kommt von zu Hause und bringt mich an wärmeren Ort.
Meine Asche muss in die Luft, Windstille geht nicht, dann fällt Asche auf Boden und
bleibt hier, und hier weder warm noch kalt, alles gemässigt: gemässigtes Klima,
gemässigtes Temperament, gemässigte Politik, mässig lieb, mässig hübsch und
saumässig dumm, ich friere, friere, hier ein Leben lang gefroren, aber friere nicht an
Kälte wie in Schweden, sondern … das Ende des Satzes und die nächsten Sätze hatte er
nicht verstanden, denn das Artikulieren bei aufgeschnittener Luftröhre mit Sprechkanüle
fiel seiner Mutter schwer.
Nachdem er sich die letzte Aufnahme auf dem Diktiergerät noch einmal angehört hatte,
glaubte er, in ihrem Lallen ein schwedisches Schimpfwort herauszuhören, das er zwar
kannte, aber nie richtig verstanden hatte. Nach einer Pause, während der man nur ihr
angestrengtes Keuchen hörte:
Kindheit war grün. Froschgrün, Grasgrün, Birkengrün, Lindengrün, weiss nicht, ob
glücklich, kommt an auf Grünton. Will nach Haus! – Ein Satz wie ein Denkmal. Darauf
sprach sie wieder von ihrem letzten Wunsch und dem Lieblingsbaum, aber der stand
nun nicht mehr auf dem Hügel über dem Dorf, sondern im Garten der Villa Elversbacke
in ihrem Heimatort Vasselby. – Nordische Birke, breitet grüne Arme schützend über
Garten, bis zu Veranda, am dicksten Arm pendelt Schaukel, schaukle hinauf bis in
Himmel, unter mir tanzt schwarz-weisser Grund, schwarz und weiss und auf und ab,
will nach Haus!
Welcher Baum ist es nun, bei dem du bestattet werden willst?
Weltenbaum im Garten. Mit kosmischer Weltseele, mit Wurzelwerk verbunden mit allen
Seelen von anderen Bäumen.
Morphium, sagte die Krankenschwester, Ihre Mutter ist etwas verwirrt.
Henrik nickte und dachte: Das ist eine ausreichende Antwort für jemanden, der sie nicht
kennt. Aber eigentlich gibt es niemand, der Lina kennt. Zurück zu den Toten wollte sie,
bei den Toten ist es warm, bei den Toten ist es still, und die Toten, sie mögen sie. Schon
seit Jahren unterhielt sie sich mehr mit den Toten als mit den Lebenden, sprach mit
ihrem persönlichen Tod, als hätte er Ohren, redete mit ihren förfäder, den Ahnen, zog,
wenn sie von ihnen erzählte, das deutsche Wort singend in die Länge, bis es so
schwedisch klang, dass es niemand mehr verstand ausser den Eingeweihten – und
kehrte heim, heim nach Schweden, zu ihrer geliebten Tante, moster Ingrid, der sie auf
langen Streifzügen durch den verhexten Elverswald alle ihre Geheimnisse anvertrauen
konnte; heim zu Nanny, dem Kindermädchen, das ihr an den dunklen Wintertagen die
zu Hause verbotenen unchristlichen Geschichten erzählte, mit Vorliebe solche von
gruseligen Trolls, die kleine unartige Kinder rauben; heim zu farfar Olle, dem
Grossvater, der seine geliebte Geige an Heiligabend ins Kaminfeuer warf; heim in die
Villa Elversbacke, wo Tante Ingrid, Nanny und Grossvater Olle immer noch als
verlorene Seelen im Dachstock herumirrten.
Lina erzählte in ihren letzten Jahren immer dieselben Geschichten; sie gehörten alle zu
ihrer Reise zurück in die Vergangenheit. In den letzten Monaten vor ihrem Tod begann
sie mehrmals eine Geschichte zu erzählen, die er noch nie gehört hatte, in der sie
zusammen mit ihrer Jugendfreundin Mebel kurz nach dem Krieg nach Italien reiste …
aber sie kam nie über die anstrengende Zugreise durch das kriegszerstörte Deutschland
hinaus, und sobald Henrik mehr erfahren wollte, gab sie selbst auf beharrliches
Nachfragen nicht mehr preis als Lassen wir alte Geschichten, über ihr Gesicht huschte
ein Lächeln, ein Schimmer von Glück, sie machte zwei tiefe Atemzüge – ein, aus – und
sagte: Men nej, geht niemand etwas an. Dabei wischte sie mit der Hand vor den Augen,
als müsste sie Fliegen vertreiben.
Henrik hatte sie bei seinem letzten Besuch am Spitalbett einmal mehr angehalten, aus
ihrem Leben zu erzählen. Das Aufnahmegerät, in dessen Gegenwart sie sich beim
letzten Besuch zu sprechen geweigert hatte, hatte er dieses Mal in seinem Rucksack
versteckt.
Erzähl bitte von der Geburt an und schön der Reihe nach. – Vergeblich!
Mein Leben beginnt mit Tag, wo ich erwache.
Chronologisch, eins nach dem anderen!
Erinnerungen springen! Alles gleichzeitig, gibt kein Nacheinander, Kontakt zu Dingen
ohne Zeit.
Was ist Kontakt zu den Dingen?
Wenn Dinge sprechen.
Natürlich hatte Lina Recht, aber als Zuhörer verliert man die Orientierung, wenn man
immer hinterherspringen muss; ausserdem hatte Lina einen entscheidenden Vorsprung:
sie war dabei, als es geschah.
Lina machte dann den Versuch, etwas wie ein Zeitsystem in ihre Erzählung zu bringen,
benützte temporale Konjunktionen – darauf, vorher, nachher – aber sie hielt sich nicht
an eine Zeitachse, sondern sprang in Raum und Zeit herum: von der Reise in die
Schweiz mit den zwei grossen Überseekoffern – Kind an der Hand, Pfeifen im Ohr –
zum Unfall ihres Bruders Pelle, der in einer kalten Januarnacht drei Stunden im Schnee
steif gefriert, dann zu ihrer Paralyse, die sie in den Rollstuhl wirft und an der sich
Rheumatologen, Herzspezialisten und Virologen erfolglos üben, bis ein psychologisch
versierter Arzt sie wieder auf die Beine bringt, dann wieder zum kleinen Kind, das sich
an der Schaukel an einem Birkenast in den Himmel schaukelt, unter ihr bewegt sich ein
schwarz-weisses Rautenmuster, schwarz und weiss und auf und ab. Hin und her pendelt
die Erzählung wie ihre Schaukel und findet, wenn sie ausschwingt, immer wieder
zurück zum Ausgangspunkt: Mein Leben beginnt mit Tag, wo ich erwache. Es war
Henrik nie klar, worauf sich dieser Satz bezog. Was meinte sie mit Erwachen? Lina
hüpft über die Fliesen und nähert sich der Tür. Wieso sind Gänge mit Rautenmustern
immer so lang? Schwarz-weiss-schwarz bis zur Türschwelle, Schwarz gewinnt. Bitte
klingeln und warten! Lina drückt die Klingel und wartet. Etwas mit ihren Papieren muss
geklärt werden, hat Frau Hansdotter, ihre Haushaltslehrerin und Tutorin, gesagt, eine
Kleinigkeit, eine Formalität, Ihre Geburtsurkunde … Die Geburtsurkunde? Lina wartet,
denn sie ist ein braves Kind und hat gelernt zu warten: beim Essen, beim Spielen, vor
dem Weihnachtsbaum; ein Fräulein ist geduldig und zeigt niemals Unruhe. Aber Lina ist
unruhig. – Fröken Carlsson, sind Sie sicher, dass Sie in Lindesberg geboren sind? –
Fröken Carlsson, eine Geburt auf Ihren Namen ist hier nie registriert worden. Da ist er
wieder, der Zweifel, der sich seit Jahren wie eine dunkle Wolke in den Elversbacker
Himmel geschoben hat. Mama und Papa verschweigen ihr etwas! Nein, es ist ihr
eigener Schatten, der sich auf sie gelegt hat, denn sie ist ein böses, undankbares Kind,
das Mama und Papa nicht genug liebt. Als die Erzählung schliesslich das entscheidende
Ereignis einzukreisen schien, brach Lina ab mit den Worten: Henning, bin müde, muss
ausruhen. Machen nächstes Mal weiter, versprochen.
Henning? Mama, ich bin Henrik.
HENNING - Die Laute kamen ihm vertraut vor. Sie hatten Aufregung ins abendliche
Familienleben gebracht. Das Telefon läutet im Wohnzimmer. Ich gehe, ruft Lina und
rennt schnell ans Telefon. Aber manchmal ist Henrik schneller. – Hej, det är Henning!
brummelt eine melodische Fagottstimme am Telefon, äh – dann ist Lina schon am
Telefon und nimmt ihm den Hörer aus der Hand, hält die Hand auf die Hörmuschel und
die Fagottstimme verstummt.
Mama, wer ist Henning?
Henning, Henning … murmelte sie und döste weg.
Es war das letzte Mal, dass Henrik seine Mutter sprechen sah. Dann dämmerte sie ein.
– Morphium! wiederholte die Pflegerin, als müsste sie Lina vor ihrem eigenen Sohn
entschuldigen.
Lina hatte in ihren letzten Lebensjahren ihre Gedanken und Erinnerungen in Briefen
und Tagebüchern aufgeschrieben. Sie glichen dem Wildwuchs der windschiefen Linde
am Waldrand, deren Äste auseinandertrieben oder sich kreuzten, aber sie wuchsen
immer in dieselbe Richtung: zum Tod, zur Transformation vom Materiellen zum
Geistigen, zur Seelenwanderung und zur Wiedervereinigung mit den Seelen ihrer
Ahnen, zur Liebe zu ihnen, zur Weltseele und zur kosmischen All-Liebe. Ihre
Erkenntnisse wiederholte sie wie Mantras, die in ihren letzten Jahren in Form von
bunten Zetteln an Wänden und Türen klebten. Darauf standen neben Zitaten von
bekannten Autoren auch Sätze aus der eigenen Feder, in oft unbeholfenem Deutsch.
Bin eingedrungen in Ursprung von Welt.
Tod ist Geburt von Schwerelosigkeit.
Leben ist Vorbereitung auf Tod.
Sie sagte immer, dass sie dem Tod nahe war, nur verstand man das bei ihr nicht so
wörtlich.
Neugierig auf Tod.
Je näher dem Tod, näher dem Leben.
Alle Wege führen zum Tod.
Kurz vor ihrem Tod flüsterte sie Henrik am Telefon mit dünner Stimme:
Freue mich auf Jenseits … auf dem Weg … Verschmelzung mit Seelen von
Verstorbenen … gehe jetzt heim … heim zu meiner Familie.
Heim, nach Hause … Solche Sätze hatte sie immer wieder gesagt in den letzten Jahren.
Sprach sie über ihren bevorstehenden Tod oder allgemein von ihren
Jenseitsvorstellungen? Dann sandte sie Henrik ihren letzten Satz:
Man ruft mich.
Wer?
Als Henrik seine Mutter wiedersah, zog man sie auf einer Bahre aus dem Kühlraum.
Die Leiche, die auf einer Etikette an der grossen Zehe den Namen seiner Mutter trug,
war steif und kalt, ihr Gesicht eine wächserne Maske. Er griff nach ihren gefalteten
Händen und liess sie vor Schreck gleich wieder los. Mama, mit diesen Händen hast du
mir die Kindheit erwärmt! Totenstarre, rigor mortis! Vor dem Wort schauderte ihm mehr
als vor den kalten Händen. Da lag sie nun und hatte ausgehaucht. Ihr Mund blieb
verschlossen. In diesen bleichen Lippen hatte vor wenigen Stunden noch das Leben
gezittert. Nun kein Anzeichen mehr von Leben, nicht die zarteste Welle gleitet über ihre
Gesichtszüge; eine verlassene Körperhülle, die ihn an eine ausgeschlüpfte Libellenlarve
erinnerte, wie er sie als Junge gesammelt hatte. Lina ist geschlüpft. Der Satz gefiel ihm,
aber spendete keinen Trost. Der irdische Ablösungsprozess war zu Ende, und nun: war
sie das, was sie immer hatte sein wollen: reiner Geist, abgelöst vom unseligen Fleisch?
Erst die hinaufgebundene Kinnlade rief ihm ins Bewusstsein, dass aus diesem Mund nie
mehr ein Satz kommen würde. Lina ist heimgegangen, wie sie sagen würde; vier Tage
vor ihrem 88. Geburtstag ist sie gegangen und hat die Tür hinter sich geschlossen,
endgültig. Lisa ist tot. TOT, was für ein Wort. Schon die drei Buchstaben - ein
schreckoffener Mund eingekeilt zwischen zwei Spitzhacken - schlagen alles tot, was
darum herum noch leben könnte. Nicht zu reden von der Aussprache der an- und
auslautendenden Konsonanten, die zurecht den Namen Explosionslaute tragen, weil sie
erst im Mund, dann im Ohr und schliesslich im Kopf explodieren. Erst nach dem
Schauder vor den Wörtern TOT, LEICHE, TOTENSTARRE, RIGOR MORTIS ergriff
Henrik das Grauen vor Linas Leiche. Aber es war nicht ihr toter Körper, vor dem ihm
graute, es war die Abwesenheit des Lebens: das Bewusstsein, dass dieses Leben nun nur
noch in seiner Erinnerung existierte; ihm schauderte vor der Vorstellung, dass alles
Lebende, und damit er selbst, nur Noch-Lebende und Bald-Leichen sind und in
erdgeschichtlich irrelevanten 100 Jahren länger tot sein werden als lebend. Ist das
Höchste, was wir dem Tod abringen können, von unseren Kindern geliebt, von den
Enkeln noch erinnert und dann als Abbilder in verstaubten Alben in finsteren
Abstellräumen dem Vergessen entgegen zu dämmern? Wir sind Opfergaben des Lebens,
dem Tod geweiht. Das grosse Paradox des Lebens: Alles was lebt, will leben; aber alles,
was lebt, geht zu Grunde: Leben ist Sterben, so einfach ist das. Es galt nicht für seine
Mutter. Sie wollte nicht mehr leben und hatte geduldig auf den Tod gewartet.
Wir können Zeitpunkt nicht aussuchen, aber müssen bereit sein und Einverständnis
geben, wenn Moment kommt. Wenn wir am Leben klammern, wir sind tot, bevor wir
sterben.
Wo bist du jetzt? Unterwegs, Transformation, hätte Lina gesagt. Aber ihr Mund
bleibt verschlossen und ihre Hände sind kalt. Ihre Hände, die ihn durch die Kindheit
geführt haben: mit den blau schimmernden Venen und den geröteten Knöcheln; mit dem
Knötchen am kleinen Finger, an dem er sich festhalten konnte. Nun sind sie starr, die
Fingerspitzen schimmern bläulich, die Fingernägel sind lang und krumm. Hat man
vergessen, sie zu schneiden? Wenn sie weiterwachsen, werden sie zu Krallen.
Fingernägel und Haare sind die einzigen Körperteile, die nach dem Tod weiterleben,
sagt man, die sich vom Gesamtorganismus selbstständig machen, sich noch einmal nach
dem Leben strecken und weiterkeimen wie Pflanzen nach Jahrmillionen alten
Vegetations-Gesetzen, als wären sie Petersilie oder Algen, als wollten sie zurück zu den
evolutiven Ursprüngen, zu den Urorganismen und den ersten biochemischen
Stoffwechseln. Alle anderen Körperteile und Organe geben nach Herzstillstand und
Hirntod ihren Überlebenskampf auf, sie ergeben sich den Enzymen und Bakterien und
leiten damit ihre eigene Zersetzung ein. Aber auch Zersetzung ist noch Leben oder, was
hier dasselbe meint, Sterben.
Er betrachtete lange das tote Gesicht seiner Mutter, als wartete er darauf, dass es ihm
noch etwas sagen oder ein Zeichen geben würde. Das Gesicht schien sich zu verändern.
Es war, als schimmere unter der wächsernen Maske nun das Grauen des Todes. Hatte sie
in ihren letzten Minuten doch noch mit dem Tod gerungen? Er nahm ein kleines
Sackmesser, das er immer in seiner Hosentasche trug, und schnitt eine Locke aus dem
noch lebenden weissen Haar seiner Mutter. Er küsste die beiden eiskalten Wangen,
drückte ihre steifen Hände und eilte aus der Leichenhalle. Schon unter der Tür wusste er
nicht mehr, wieso er gelaufen war: Lief er vor Mutters kalten Wangen oder vor seiner
eigenen Kälte? Er stand, mit Linas weisser Locke in den Fingern, auf dem Parkplatz vor
dem Spital und wusste nicht wohin damit. Lina ist tot. Etwas griff nach seinem Hals und
schnürte ihm die Kehle zu; es kam immer wieder in den folgenden Tagen, gemahnte ihn
an seine tote Mutter, an den Tod, an seinen Tod. Als er das Spital verlassen wollte, kam
ein Leichenwagen angefahren und hielt vor dem Eingang des Leichenschauhauses.
Henrik näherte sich und sah, wie man einen Sarg in den Wagen schob. Auf dem
Abdecktuch des Sargs lagen einzelne abgeschnittene weisse Haare. Dann beginnt alles
zu laufen: die Gefühle, die Gedanken, die Beine. Er läuft, läuft mit der Haarlocke in der
Hand ums Spital herum, in die eine Richtung, dann in die Gegenrichtung, ums Quartier
herum und wieder zum Spital zurück, durch die halbe Stadt und wieder zurück zum
Spital. Was hat er dort verloren? Was soll er mit Linas Locke in der Hand? Lauf Henrik,
Mutter ist tot. TOT. Was immer wir uns mit diesem Wort vorstellen, unsere
Vorstellungskraft bleibt auf der Seite des Lebens, sie reicht nur bis zum Grenzgelände,
dem Sterben. Für Lina war der Tod ein Freund, der ihr die Tür zu einem neuen Leben
öffnete. Doch dieser Freund, fand Henrik, ist nichts weniger und nichts mehr als das
schwarze Loch, in das wir fallen, in dem wir erlöschen; wie soll man sich mit dem
Nichts anfreunden, mit dem Feind des Lebens, dem Zerstörer – der Tod: ein Verbrechen
gegen das Leben, eine gemeine Niedertracht! Musst dich mit Tod versöhnen, dann geht
Angst weg.
Lauf Henrik, lauf, solange man läuft, ist man gerettet.
He, wo willst du hin? Eine Hand legt sich auf Henriks Schulter. Es ist Roger, ein alter
Schulfreund. Er sieht auf die Locke, die Henrik in der Hand hält und macht eine
fragende Miene. Komm, trinken wir ein Bier! An alles Weitere kann sich Henrik nicht
erinnern. Es ist anzunehmen, dass es nicht bei einem Bier geblieben ist. Die weisse
Haarlocke ist heute, ausser einem Pferdeschwanz aus goldenem Kinderhaar, das einzige
Relikt seiner Mutter; sie wurde zur Reliquie in einem Bilderrahmen hinter einem sepia-
braunen Foto, auf dem Linas trauriges Lächeln in die trübe Tönung strahlt.
Linas Gespräche mit der Totenwelt waren insofern etwas einseitig, als sie die Einzige
war, die sich als Noch-Lebende in ihrer Welt aufhielt. Die anderen Bewohner waren tot,
viele schon länger tot als lebend, aber das stellte für sie kein ernsthaftes
Verständigungsproblem dar. Sie war dem Gesetz der Steine, wie sie die physische Welt
abschätzig nannte, immer weiter entflohen und war auf dem Weg von den Steinen zum
Plasma, vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen, unterwegs zu den Toten. Sie kannte
die Sprache und die Gesten der Toten und ihre Beziehungen mit ihnen hatten einen
grossen Vorteil: Aus dem Ahnenreich konnte niemand ihren Fragen ausweichen,
niemand sich ihrer spirituellen Monologe entziehen – und nie wieder würde jemand sie
verlassen und allein zurücklassen in der Welt. Nie wieder? Als Henrik nachfragte, was
sie damit meinte, wich sie aus. Das sei so eine Art Lebensgefühl, aber das habe sie
überwunden dank dem Strom von Saraswatis feinstofflichen Wahrheiten, der durch sie
fliesse… Ich atme mit Lunge des Universums. In ihrem grobstofflichen Leben war das
ganz anders gewesen als im Totenreich: Wenn sie bei einer Familien- oder
Verwandtschaftszusammenkunft Saraswatis feinstoffliche Wahrheiten zu verbreiten
begann, wechselte man freundlich und verlegen nickend das Thema und sprach von den
nächsten Karriereschritten, vom letzten Kinofilm, schimpfte über die Politik und das
Scheisswetter, oder man erhob sich und stahl sich kopfschüttelnd vom Tisch. Die Toten
rufen, hatte sie Henrik in den letzten Jahren ihres Lebens manchmal gesagt. Gehöre zu
ihnen, sie verstehen mich, flüstern: Komm Lina, komm! In Träumen rede ich mit ihnen,
hören mir stundenlang zu, höre ihre Stimmen, winken mir, geben mir Zeichen.
Bei der Besichtigung der Linde auf dem Hügel fand Henriks Schwester Brita, dass es
den alten Damen, die Linas geschrumpften Freundeskreis bildeten, nicht zuzumuten
wäre, zuerst über jauchegetränkte Erdschollen zu stapfen und sich dann durch ein
schneebedecktes Stoppelfeld auf den Hügel hinauf zu kämpfen, um sich anzusehen, wie
die Familie Blumer Linas Asche in den Wind streut. Henriks Vater nickte zustimmend.
Die Gräber sind für die Überlebenden, für ihre Erinnerungen; für Lina können wir
nichts mehr tun, brummte er lakonisch, sichtlich bemüht, sachlich zu bleiben. Henrik
stellte sich vor, wie er Linas Asche in die Luft werfen würde, wie der Föhnwind die
alten Damen mit Linas Asche und Schlacketeilen bestreut und wie sie die Asche von
ihren blau getönten Frisuren und Hüten schütteln. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ihn
so eine Szene ergötzt und er hätte heftig protestiert, wenn man diesen letzten Wunsch
seiner Mutter nicht respektiert hätte, aber er fand die Vorstellung der weissen Asche im
blauen Haar der alten Damen so grenzenlos traurig, dass er sich dem zustimmenden
Nicken seines Vaters anschloss.
So kam es, dass Linas letzter Wunsch nicht respektiert wurde – falls er denn wirklich ihr
letzter war. Lina und die mit ihr verbündete Natur sollte sich für den Verrat rächen, wie
sich bald zeigen würde. Schon zwei Tage vor der Beerdigung lag ihr Knurren in der
Luft und grollte tagelang weiter in Henriks Bauch. Bei der Besichtigung des
Dorffriedhofs fand die Familie Blumer weder eine Linde noch eine nordische Birke,
dafür eine Weide, die ihre Äste so schön traurig auf den Boden fallen liess, dass die drei
überzeugt waren, damit einen perfekten Ersatz für die Linde gefunden und sich mit
Linas letztem Wunsch einigermassen versöhnt zu haben.
Zwei Tage vor der Bestattung – die Einladungen waren bereits verschickt – teilte Herr
Rebsamen, Angestellter der Gemeindeverwaltung, Henrik am Telefon mit, dass auf dem
Friedhof nur offizielle Erdbestattungen in Särgen oder Urnen gestattet seien. Die Asche
dürfe auf keinen Fall frei auf dem Friedhof verstreut werden. Wo käme man hin,
gopferteli, wenn man alle Toten in den Wind streuen würde. Zu einem Toten gehöre ein
Ort, ein exakt definiertes Stück Erde, ein Grab und ein Grabstein, der die bestattete
Person identifiziert. Punkt. Herr Rebsamen klärte Henrik darüber auf, dass ein freies
Ausstreuen der Asche ein heidnischer Brauch sei, der die christliche Menschenwürde
missachte und den Menschen einem Wurm oder einer Küchenschabe oder einer
Mehlmotte gleichmache. Und überhaupt: Eine Mutter hat mehr verdient, als von ihrem
Sohn nach dem Ableben in den Föhnwind gestreut zu werden, gopferteli nomal. –
Meine Mutter war eng befreundet mit den Würmern und Käfern, entgegnete der Sohn,
aber Herr Rebsamens Gebrumm liess sich nicht unterbrechen – Und eine Person
braucht auch nach dem Hinschied einen Ort auf der Erde, jawoll, und noch mehr
brauchen die Angehörigen diesen Platz, um dieser Person zu gedenken. Ein Friedhof
bietet diesen Platz. Die Luft ist kein Ort. Der Mensch gehört in die Erde. Punkt. – Je
höher und weiter die Asche von solchen Beamten wegfliegt, desto besser für die Seele
meiner Mutter, rief Henrik in die Hörmuschel, aber das war bereits nach dem letzten
Punkt. Der Beamte hatte aufgelegt.
Lina rächte sich am Tag der Beisetzung. Der Himmel war grau wie ihre Asche; ihr Zorn
färbte sich blaugrau, legte sich als bleierne Regenwolke über den Friedhof und
bespritzte die Trauergemeinde sporadisch mit Regengüssen. Ich friere, hörte er sagen,
aber der Satz kam von seiner Schwester. Die spärlich erschienen Trauergäste standen in
kleinen Gruppen herum, duckten ihre Köpfe unter tropfende Regenschirme und Hüte,
schüttelten in den Regenpausen Schirme, lupften Hüte, reckten flehend ihre Köpfe
empor, als bäten sie den Himmel um Gnade und Versöhnung. Aber Linas bleigraue
Zornwolke war unerbittlich und entlud sich sogleich wieder über den schutzlosen
Köpfen; die Schirme öffneten sich erneut und die Hüte setzten sich wieder auf die
zugehörigen Köpfe.
Eigentlich wollte Lina auf keinen Fall auf einem Friedhof begraben werden, nein, ihre
Asche sollte unter ihrem Lieblingsbaum – dem Weltenbaum, wie sie ihn nannte – in den
Wind gestreut werden. Es war ihr letzter unziemlicher Wunsch gewesen, erstens nicht
auf einem Friedhof und zweitens nicht begraben, sondern auf dem Hügel über dem Dorf
als Asche in den Südwind gestreut zu werden; unter einer windschiefen, knorrigen
Winterlinde mit weitausgreifenden Ästen, die so deplatziert und erratisch auf dem Feld
stand wie Lina in ihrem Leben. Wieso Südwind, hatte er sie bei ihrem letzten Treffen
vor zwei Wochen gefragt. Südwind trägt mich nach Hause, in den Norden, sagte sie.
Nordwind auch gut, weil der kommt von zu Hause und bringt mich an wärmeren Ort.
Meine Asche muss in die Luft, Windstille geht nicht, dann fällt Asche auf Boden und
bleibt hier, und hier weder warm noch kalt, alles gemässigt: gemässigtes Klima,
gemässigtes Temperament, gemässigte Politik, mässig lieb, mässig hübsch und
saumässig dumm, ich friere, friere, hier ein Leben lang gefroren, aber friere nicht an
Kälte wie in Schweden, sondern … das Ende des Satzes und die nächsten Sätze hatte er
nicht verstanden, denn das Artikulieren bei aufgeschnittener Luftröhre mit Sprechkanüle
fiel seiner Mutter schwer.
Nachdem er sich die letzte Aufnahme auf dem Diktiergerät noch einmal angehört hatte,
glaubte er, in ihrem Lallen ein schwedisches Schimpfwort herauszuhören, das er zwar
kannte, aber nie richtig verstanden hatte. Nach einer Pause, während der man nur ihr
angestrengtes Keuchen hörte:
Kindheit war grün. Froschgrün, Grasgrün, Birkengrün, Lindengrün, weiss nicht, ob
glücklich, kommt an auf Grünton. Will nach Haus! – Ein Satz wie ein Denkmal. Darauf
sprach sie wieder von ihrem letzten Wunsch und dem Lieblingsbaum, aber der stand
nun nicht mehr auf dem Hügel über dem Dorf, sondern im Garten der Villa Elversbacke
in ihrem Heimatort Vasselby. – Nordische Birke, breitet grüne Arme schützend über
Garten, bis zu Veranda, am dicksten Arm pendelt Schaukel, schaukle hinauf bis in
Himmel, unter mir tanzt schwarz-weisser Grund, schwarz und weiss und auf und ab,
will nach Haus!
Welcher Baum ist es nun, bei dem du bestattet werden willst?
Weltenbaum im Garten. Mit kosmischer Weltseele, mit Wurzelwerk verbunden mit allen
Seelen von anderen Bäumen.
Morphium, sagte die Krankenschwester, Ihre Mutter ist etwas verwirrt.
Henrik nickte und dachte: Das ist eine ausreichende Antwort für jemanden, der sie nicht
kennt. Aber eigentlich gibt es niemand, der Lina kennt. Zurück zu den Toten wollte sie,
bei den Toten ist es warm, bei den Toten ist es still, und die Toten, sie mögen sie. Schon
seit Jahren unterhielt sie sich mehr mit den Toten als mit den Lebenden, sprach mit
ihrem persönlichen Tod, als hätte er Ohren, redete mit ihren förfäder, den Ahnen, zog,
wenn sie von ihnen erzählte, das deutsche Wort singend in die Länge, bis es so
schwedisch klang, dass es niemand mehr verstand ausser den Eingeweihten – und
kehrte heim, heim nach Schweden, zu ihrer geliebten Tante, moster Ingrid, der sie auf
langen Streifzügen durch den verhexten Elverswald alle ihre Geheimnisse anvertrauen
konnte; heim zu Nanny, dem Kindermädchen, das ihr an den dunklen Wintertagen die
zu Hause verbotenen unchristlichen Geschichten erzählte, mit Vorliebe solche von
gruseligen Trolls, die kleine unartige Kinder rauben; heim zu farfar Olle, dem
Grossvater, der seine geliebte Geige an Heiligabend ins Kaminfeuer warf; heim in die
Villa Elversbacke, wo Tante Ingrid, Nanny und Grossvater Olle immer noch als
verlorene Seelen im Dachstock herumirrten.
Lina erzählte in ihren letzten Jahren immer dieselben Geschichten; sie gehörten alle zu
ihrer Reise zurück in die Vergangenheit. In den letzten Monaten vor ihrem Tod begann
sie mehrmals eine Geschichte zu erzählen, die er noch nie gehört hatte, in der sie
zusammen mit ihrer Jugendfreundin Mebel kurz nach dem Krieg nach Italien reiste …
aber sie kam nie über die anstrengende Zugreise durch das kriegszerstörte Deutschland
hinaus, und sobald Henrik mehr erfahren wollte, gab sie selbst auf beharrliches
Nachfragen nicht mehr preis als Lassen wir alte Geschichten, über ihr Gesicht huschte
ein Lächeln, ein Schimmer von Glück, sie machte zwei tiefe Atemzüge – ein, aus – und
sagte: Men nej, geht niemand etwas an. Dabei wischte sie mit der Hand vor den Augen,
als müsste sie Fliegen vertreiben.
Henrik hatte sie bei seinem letzten Besuch am Spitalbett einmal mehr angehalten, aus
ihrem Leben zu erzählen. Das Aufnahmegerät, in dessen Gegenwart sie sich beim
letzten Besuch zu sprechen geweigert hatte, hatte er dieses Mal in seinem Rucksack
versteckt.
Erzähl bitte von der Geburt an und schön der Reihe nach. – Vergeblich!
Mein Leben beginnt mit Tag, wo ich erwache.
Chronologisch, eins nach dem anderen!
Erinnerungen springen! Alles gleichzeitig, gibt kein Nacheinander, Kontakt zu Dingen
ohne Zeit.
Was ist Kontakt zu den Dingen?
Wenn Dinge sprechen.
Natürlich hatte Lina Recht, aber als Zuhörer verliert man die Orientierung, wenn man
immer hinterherspringen muss; ausserdem hatte Lina einen entscheidenden Vorsprung:
sie war dabei, als es geschah.
Lina machte dann den Versuch, etwas wie ein Zeitsystem in ihre Erzählung zu bringen,
benützte temporale Konjunktionen – darauf, vorher, nachher – aber sie hielt sich nicht
an eine Zeitachse, sondern sprang in Raum und Zeit herum: von der Reise in die
Schweiz mit den zwei grossen Überseekoffern – Kind an der Hand, Pfeifen im Ohr –
zum Unfall ihres Bruders Pelle, der in einer kalten Januarnacht drei Stunden im Schnee
steif gefriert, dann zu ihrer Paralyse, die sie in den Rollstuhl wirft und an der sich
Rheumatologen, Herzspezialisten und Virologen erfolglos üben, bis ein psychologisch
versierter Arzt sie wieder auf die Beine bringt, dann wieder zum kleinen Kind, das sich
an der Schaukel an einem Birkenast in den Himmel schaukelt, unter ihr bewegt sich ein
schwarz-weisses Rautenmuster, schwarz und weiss und auf und ab. Hin und her pendelt
die Erzählung wie ihre Schaukel und findet, wenn sie ausschwingt, immer wieder
zurück zum Ausgangspunkt: Mein Leben beginnt mit Tag, wo ich erwache. Es war
Henrik nie klar, worauf sich dieser Satz bezog. Was meinte sie mit Erwachen? Lina
hüpft über die Fliesen und nähert sich der Tür. Wieso sind Gänge mit Rautenmustern
immer so lang? Schwarz-weiss-schwarz bis zur Türschwelle, Schwarz gewinnt. Bitte
klingeln und warten! Lina drückt die Klingel und wartet. Etwas mit ihren Papieren muss
geklärt werden, hat Frau Hansdotter, ihre Haushaltslehrerin und Tutorin, gesagt, eine
Kleinigkeit, eine Formalität, Ihre Geburtsurkunde … Die Geburtsurkunde? Lina wartet,
denn sie ist ein braves Kind und hat gelernt zu warten: beim Essen, beim Spielen, vor
dem Weihnachtsbaum; ein Fräulein ist geduldig und zeigt niemals Unruhe. Aber Lina ist
unruhig. – Fröken Carlsson, sind Sie sicher, dass Sie in Lindesberg geboren sind? –
Fröken Carlsson, eine Geburt auf Ihren Namen ist hier nie registriert worden. Da ist er
wieder, der Zweifel, der sich seit Jahren wie eine dunkle Wolke in den Elversbacker
Himmel geschoben hat. Mama und Papa verschweigen ihr etwas! Nein, es ist ihr
eigener Schatten, der sich auf sie gelegt hat, denn sie ist ein böses, undankbares Kind,
das Mama und Papa nicht genug liebt. Als die Erzählung schliesslich das entscheidende
Ereignis einzukreisen schien, brach Lina ab mit den Worten: Henning, bin müde, muss
ausruhen. Machen nächstes Mal weiter, versprochen.
Henning? Mama, ich bin Henrik.
HENNING - Die Laute kamen ihm vertraut vor. Sie hatten Aufregung ins abendliche
Familienleben gebracht. Das Telefon läutet im Wohnzimmer. Ich gehe, ruft Lina und
rennt schnell ans Telefon. Aber manchmal ist Henrik schneller. – Hej, det är Henning!
brummelt eine melodische Fagottstimme am Telefon, äh – dann ist Lina schon am
Telefon und nimmt ihm den Hörer aus der Hand, hält die Hand auf die Hörmuschel und
die Fagottstimme verstummt.
Mama, wer ist Henning?
Henning, Henning … murmelte sie und döste weg.
Es war das letzte Mal, dass Henrik seine Mutter sprechen sah. Dann dämmerte sie ein.
– Morphium! wiederholte die Pflegerin, als müsste sie Lina vor ihrem eigenen Sohn
entschuldigen.
Lina hatte in ihren letzten Lebensjahren ihre Gedanken und Erinnerungen in Briefen
und Tagebüchern aufgeschrieben. Sie glichen dem Wildwuchs der windschiefen Linde
am Waldrand, deren Äste auseinandertrieben oder sich kreuzten, aber sie wuchsen
immer in dieselbe Richtung: zum Tod, zur Transformation vom Materiellen zum
Geistigen, zur Seelenwanderung und zur Wiedervereinigung mit den Seelen ihrer
Ahnen, zur Liebe zu ihnen, zur Weltseele und zur kosmischen All-Liebe. Ihre
Erkenntnisse wiederholte sie wie Mantras, die in ihren letzten Jahren in Form von
bunten Zetteln an Wänden und Türen klebten. Darauf standen neben Zitaten von
bekannten Autoren auch Sätze aus der eigenen Feder, in oft unbeholfenem Deutsch.
Bin eingedrungen in Ursprung von Welt.
Tod ist Geburt von Schwerelosigkeit.
Leben ist Vorbereitung auf Tod.
Sie sagte immer, dass sie dem Tod nahe war, nur verstand man das bei ihr nicht so
wörtlich.
Neugierig auf Tod.
Je näher dem Tod, näher dem Leben.
Alle Wege führen zum Tod.
Kurz vor ihrem Tod flüsterte sie Henrik am Telefon mit dünner Stimme:
Freue mich auf Jenseits … auf dem Weg … Verschmelzung mit Seelen von
Verstorbenen … gehe jetzt heim … heim zu meiner Familie.
Heim, nach Hause … Solche Sätze hatte sie immer wieder gesagt in den letzten Jahren.
Sprach sie über ihren bevorstehenden Tod oder allgemein von ihren
Jenseitsvorstellungen? Dann sandte sie Henrik ihren letzten Satz:
Man ruft mich.
Wer?
Als Henrik seine Mutter wiedersah, zog man sie auf einer Bahre aus dem Kühlraum.
Die Leiche, die auf einer Etikette an der grossen Zehe den Namen seiner Mutter trug,
war steif und kalt, ihr Gesicht eine wächserne Maske. Er griff nach ihren gefalteten
Händen und liess sie vor Schreck gleich wieder los. Mama, mit diesen Händen hast du
mir die Kindheit erwärmt! Totenstarre, rigor mortis! Vor dem Wort schauderte ihm mehr
als vor den kalten Händen. Da lag sie nun und hatte ausgehaucht. Ihr Mund blieb
verschlossen. In diesen bleichen Lippen hatte vor wenigen Stunden noch das Leben
gezittert. Nun kein Anzeichen mehr von Leben, nicht die zarteste Welle gleitet über ihre
Gesichtszüge; eine verlassene Körperhülle, die ihn an eine ausgeschlüpfte Libellenlarve
erinnerte, wie er sie als Junge gesammelt hatte. Lina ist geschlüpft. Der Satz gefiel ihm,
aber spendete keinen Trost. Der irdische Ablösungsprozess war zu Ende, und nun: war
sie das, was sie immer hatte sein wollen: reiner Geist, abgelöst vom unseligen Fleisch?
Erst die hinaufgebundene Kinnlade rief ihm ins Bewusstsein, dass aus diesem Mund nie
mehr ein Satz kommen würde. Lina ist heimgegangen, wie sie sagen würde; vier Tage
vor ihrem 88. Geburtstag ist sie gegangen und hat die Tür hinter sich geschlossen,
endgültig. Lisa ist tot. TOT, was für ein Wort. Schon die drei Buchstaben - ein
schreckoffener Mund eingekeilt zwischen zwei Spitzhacken - schlagen alles tot, was
darum herum noch leben könnte. Nicht zu reden von der Aussprache der an- und
auslautendenden Konsonanten, die zurecht den Namen Explosionslaute tragen, weil sie
erst im Mund, dann im Ohr und schliesslich im Kopf explodieren. Erst nach dem
Schauder vor den Wörtern TOT, LEICHE, TOTENSTARRE, RIGOR MORTIS ergriff
Henrik das Grauen vor Linas Leiche. Aber es war nicht ihr toter Körper, vor dem ihm
graute, es war die Abwesenheit des Lebens: das Bewusstsein, dass dieses Leben nun nur
noch in seiner Erinnerung existierte; ihm schauderte vor der Vorstellung, dass alles
Lebende, und damit er selbst, nur Noch-Lebende und Bald-Leichen sind und in
erdgeschichtlich irrelevanten 100 Jahren länger tot sein werden als lebend. Ist das
Höchste, was wir dem Tod abringen können, von unseren Kindern geliebt, von den
Enkeln noch erinnert und dann als Abbilder in verstaubten Alben in finsteren
Abstellräumen dem Vergessen entgegen zu dämmern? Wir sind Opfergaben des Lebens,
dem Tod geweiht. Das grosse Paradox des Lebens: Alles was lebt, will leben; aber alles,
was lebt, geht zu Grunde: Leben ist Sterben, so einfach ist das. Es galt nicht für seine
Mutter. Sie wollte nicht mehr leben und hatte geduldig auf den Tod gewartet.
Wir können Zeitpunkt nicht aussuchen, aber müssen bereit sein und Einverständnis
geben, wenn Moment kommt. Wenn wir am Leben klammern, wir sind tot, bevor wir
sterben.
Wo bist du jetzt? Unterwegs, Transformation, hätte Lina gesagt. Aber ihr Mund
bleibt verschlossen und ihre Hände sind kalt. Ihre Hände, die ihn durch die Kindheit
geführt haben: mit den blau schimmernden Venen und den geröteten Knöcheln; mit dem
Knötchen am kleinen Finger, an dem er sich festhalten konnte. Nun sind sie starr, die
Fingerspitzen schimmern bläulich, die Fingernägel sind lang und krumm. Hat man
vergessen, sie zu schneiden? Wenn sie weiterwachsen, werden sie zu Krallen.
Fingernägel und Haare sind die einzigen Körperteile, die nach dem Tod weiterleben,
sagt man, die sich vom Gesamtorganismus selbstständig machen, sich noch einmal nach
dem Leben strecken und weiterkeimen wie Pflanzen nach Jahrmillionen alten
Vegetations-Gesetzen, als wären sie Petersilie oder Algen, als wollten sie zurück zu den
evolutiven Ursprüngen, zu den Urorganismen und den ersten biochemischen
Stoffwechseln. Alle anderen Körperteile und Organe geben nach Herzstillstand und
Hirntod ihren Überlebenskampf auf, sie ergeben sich den Enzymen und Bakterien und
leiten damit ihre eigene Zersetzung ein. Aber auch Zersetzung ist noch Leben oder, was
hier dasselbe meint, Sterben.
Er betrachtete lange das tote Gesicht seiner Mutter, als wartete er darauf, dass es ihm
noch etwas sagen oder ein Zeichen geben würde. Das Gesicht schien sich zu verändern.
Es war, als schimmere unter der wächsernen Maske nun das Grauen des Todes. Hatte sie
in ihren letzten Minuten doch noch mit dem Tod gerungen? Er nahm ein kleines
Sackmesser, das er immer in seiner Hosentasche trug, und schnitt eine Locke aus dem
noch lebenden weissen Haar seiner Mutter. Er küsste die beiden eiskalten Wangen,
drückte ihre steifen Hände und eilte aus der Leichenhalle. Schon unter der Tür wusste er
nicht mehr, wieso er gelaufen war: Lief er vor Mutters kalten Wangen oder vor seiner
eigenen Kälte? Er stand, mit Linas weisser Locke in den Fingern, auf dem Parkplatz vor
dem Spital und wusste nicht wohin damit. Lina ist tot. Etwas griff nach seinem Hals und
schnürte ihm die Kehle zu; es kam immer wieder in den folgenden Tagen, gemahnte ihn
an seine tote Mutter, an den Tod, an seinen Tod. Als er das Spital verlassen wollte, kam
ein Leichenwagen angefahren und hielt vor dem Eingang des Leichenschauhauses.
Henrik näherte sich und sah, wie man einen Sarg in den Wagen schob. Auf dem
Abdecktuch des Sargs lagen einzelne abgeschnittene weisse Haare. Dann beginnt alles
zu laufen: die Gefühle, die Gedanken, die Beine. Er läuft, läuft mit der Haarlocke in der
Hand ums Spital herum, in die eine Richtung, dann in die Gegenrichtung, ums Quartier
herum und wieder zum Spital zurück, durch die halbe Stadt und wieder zurück zum
Spital. Was hat er dort verloren? Was soll er mit Linas Locke in der Hand? Lauf Henrik,
Mutter ist tot. TOT. Was immer wir uns mit diesem Wort vorstellen, unsere
Vorstellungskraft bleibt auf der Seite des Lebens, sie reicht nur bis zum Grenzgelände,
dem Sterben. Für Lina war der Tod ein Freund, der ihr die Tür zu einem neuen Leben
öffnete. Doch dieser Freund, fand Henrik, ist nichts weniger und nichts mehr als das
schwarze Loch, in das wir fallen, in dem wir erlöschen; wie soll man sich mit dem
Nichts anfreunden, mit dem Feind des Lebens, dem Zerstörer – der Tod: ein Verbrechen
gegen das Leben, eine gemeine Niedertracht! Musst dich mit Tod versöhnen, dann geht
Angst weg.
Lauf Henrik, lauf, solange man läuft, ist man gerettet.
He, wo willst du hin? Eine Hand legt sich auf Henriks Schulter. Es ist Roger, ein alter
Schulfreund. Er sieht auf die Locke, die Henrik in der Hand hält und macht eine
fragende Miene. Komm, trinken wir ein Bier! An alles Weitere kann sich Henrik nicht
erinnern. Es ist anzunehmen, dass es nicht bei einem Bier geblieben ist. Die weisse
Haarlocke ist heute, ausser einem Pferdeschwanz aus goldenem Kinderhaar, das einzige
Relikt seiner Mutter; sie wurde zur Reliquie in einem Bilderrahmen hinter einem sepia-
braunen Foto, auf dem Linas trauriges Lächeln in die trübe Tönung strahlt.
Linas Gespräche mit der Totenwelt waren insofern etwas einseitig, als sie die Einzige
war, die sich als Noch-Lebende in ihrer Welt aufhielt. Die anderen Bewohner waren tot,
viele schon länger tot als lebend, aber das stellte für sie kein ernsthaftes
Verständigungsproblem dar. Sie war dem Gesetz der Steine, wie sie die physische Welt
abschätzig nannte, immer weiter entflohen und war auf dem Weg von den Steinen zum
Plasma, vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen, unterwegs zu den Toten. Sie kannte
die Sprache und die Gesten der Toten und ihre Beziehungen mit ihnen hatten einen
grossen Vorteil: Aus dem Ahnenreich konnte niemand ihren Fragen ausweichen,
niemand sich ihrer spirituellen Monologe entziehen – und nie wieder würde jemand sie
verlassen und allein zurücklassen in der Welt. Nie wieder? Als Henrik nachfragte, was
sie damit meinte, wich sie aus. Das sei so eine Art Lebensgefühl, aber das habe sie
überwunden dank dem Strom von Saraswatis feinstofflichen Wahrheiten, der durch sie
fliesse… Ich atme mit Lunge des Universums. In ihrem grobstofflichen Leben war das
ganz anders gewesen als im Totenreich: Wenn sie bei einer Familien- oder
Verwandtschaftszusammenkunft Saraswatis feinstoffliche Wahrheiten zu verbreiten
begann, wechselte man freundlich und verlegen nickend das Thema und sprach von den
nächsten Karriereschritten, vom letzten Kinofilm, schimpfte über die Politik und das
Scheisswetter, oder man erhob sich und stahl sich kopfschüttelnd vom Tisch. Die Toten
rufen, hatte sie Henrik in den letzten Jahren ihres Lebens manchmal gesagt. Gehöre zu
ihnen, sie verstehen mich, flüstern: Komm Lina, komm! In Träumen rede ich mit ihnen,
hören mir stundenlang zu, höre ihre Stimmen, winken mir, geben mir Zeichen.
Bei der Besichtigung der Linde auf dem Hügel fand Henriks Schwester Brita, dass es
den alten Damen, die Linas geschrumpften Freundeskreis bildeten, nicht zuzumuten
wäre, zuerst über jauchegetränkte Erdschollen zu stapfen und sich dann durch ein
schneebedecktes Stoppelfeld auf den Hügel hinauf zu kämpfen, um sich anzusehen, wie
die Familie Blumer Linas Asche in den Wind streut. Henriks Vater nickte zustimmend.
Die Gräber sind für die Überlebenden, für ihre Erinnerungen; für Lina können wir
nichts mehr tun, brummte er lakonisch, sichtlich bemüht, sachlich zu bleiben. Henrik
stellte sich vor, wie er Linas Asche in die Luft werfen würde, wie der Föhnwind die
alten Damen mit Linas Asche und Schlacketeilen bestreut und wie sie die Asche von
ihren blau getönten Frisuren und Hüten schütteln. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ihn
so eine Szene ergötzt und er hätte heftig protestiert, wenn man diesen letzten Wunsch
seiner Mutter nicht respektiert hätte, aber er fand die Vorstellung der weissen Asche im
blauen Haar der alten Damen so grenzenlos traurig, dass er sich dem zustimmenden
Nicken seines Vaters anschloss.
So kam es, dass Linas letzter Wunsch nicht respektiert wurde – falls er denn wirklich ihr
letzter war. Lina und die mit ihr verbündete Natur sollte sich für den Verrat rächen, wie
sich bald zeigen würde. Schon zwei Tage vor der Beerdigung lag ihr Knurren in der
Luft und grollte tagelang weiter in Henriks Bauch. Bei der Besichtigung des
Dorffriedhofs fand die Familie Blumer weder eine Linde noch eine nordische Birke,
dafür eine Weide, die ihre Äste so schön traurig auf den Boden fallen liess, dass die drei
überzeugt waren, damit einen perfekten Ersatz für die Linde gefunden und sich mit
Linas letztem Wunsch einigermassen versöhnt zu haben.
Zwei Tage vor der Bestattung – die Einladungen waren bereits verschickt – teilte Herr
Rebsamen, Angestellter der Gemeindeverwaltung, Henrik am Telefon mit, dass auf dem
Friedhof nur offizielle Erdbestattungen in Särgen oder Urnen gestattet seien. Die Asche
dürfe auf keinen Fall frei auf dem Friedhof verstreut werden. Wo käme man hin,
gopferteli, wenn man alle Toten in den Wind streuen würde. Zu einem Toten gehöre ein
Ort, ein exakt definiertes Stück Erde, ein Grab und ein Grabstein, der die bestattete
Person identifiziert. Punkt. Herr Rebsamen klärte Henrik darüber auf, dass ein freies
Ausstreuen der Asche ein heidnischer Brauch sei, der die christliche Menschenwürde
missachte und den Menschen einem Wurm oder einer Küchenschabe oder einer
Mehlmotte gleichmache. Und überhaupt: Eine Mutter hat mehr verdient, als von ihrem
Sohn nach dem Ableben in den Föhnwind gestreut zu werden, gopferteli nomal. –
Meine Mutter war eng befreundet mit den Würmern und Käfern, entgegnete der Sohn,
aber Herr Rebsamens Gebrumm liess sich nicht unterbrechen – Und eine Person
braucht auch nach dem Hinschied einen Ort auf der Erde, jawoll, und noch mehr
brauchen die Angehörigen diesen Platz, um dieser Person zu gedenken. Ein Friedhof
bietet diesen Platz. Die Luft ist kein Ort. Der Mensch gehört in die Erde. Punkt. – Je
höher und weiter die Asche von solchen Beamten wegfliegt, desto besser für die Seele
meiner Mutter, rief Henrik in die Hörmuschel, aber das war bereits nach dem letzten
Punkt. Der Beamte hatte aufgelegt.
Lina rächte sich am Tag der Beisetzung. Der Himmel war grau wie ihre Asche; ihr Zorn
färbte sich blaugrau, legte sich als bleierne Regenwolke über den Friedhof und
bespritzte die Trauergemeinde sporadisch mit Regengüssen. Ich friere, hörte er sagen,
aber der Satz kam von seiner Schwester. Die spärlich erschienen Trauergäste standen in
kleinen Gruppen herum, duckten ihre Köpfe unter tropfende Regenschirme und Hüte,
schüttelten in den Regenpausen Schirme, lupften Hüte, reckten flehend ihre Köpfe
empor, als bäten sie den Himmel um Gnade und Versöhnung. Aber Linas bleigraue
Zornwolke war unerbittlich und entlud sich sogleich wieder über den schutzlosen
Köpfen; die Schirme öffneten sich erneut und die Hüte setzten sich wieder auf die
zugehörigen Köpfe.
… seine Erzählungen überzeugen durch ihre Skurrilität und Doppelbödigkeit. Sie stehen in einer Tradition, die von Kafka bis zu Polanski reicht, und haben doch einen eigenen Klang. Oft geht es in ihnen um Sonderlinge und ihre albtraumhaften Konflikte, die aber auch ihre heitere Seite haben. Dass Ruch zwischen den Sprachen und Kulturen lebt, spielt dabei eine grosse Rolle. Manfred Papst, NZZ am Sonntag
… an Robert Walser fühlt man sich erinnert, wenn man von Letie liest, dem Zwerg, der sich dem Leben versagt, um ungestört Grosses zu denken; Kafka wirft seinen Schatten, der sich im berauschenden Sprachspiel dehnt und verschwimmt. Das Glück fliegt über den Walliseller Bahnhof, grüsst Borges, verwandelt sich in einen Satz von Tschechow und steht wie eine Libelle über dem Wasser für 1,5 Sekunden still – nicht länger als die Gegenwart. Katharina Knorr, Literarischer Monat
Sein Einfallsreichtum scheint kaum zu versiegen und wagt sich in der Story vom Furunkel bis hin zur evolutionsgeschichtlichen Groteske. Dabei bescheren Spiel- und Sprachfreude den Lesenden überraschende Kapriolen. (…) Zweifellos zeigt dieser Autor geistreichen Witz, und ab und zu gibt er ein rasantes Tempo vor. Aber er verblüfft auch mit Tiefsinn, wenn er sich auf die Suche nach dem letzten Wort begibt. Beatrice Eichmann-Leutenegger, NZZ
… an Robert Walser fühlt man sich erinnert, wenn man von Letie liest, dem Zwerg, der sich dem Leben versagt, um ungestört Grosses zu denken; Kafka wirft seinen Schatten, der sich im berauschenden Sprachspiel dehnt und verschwimmt. Das Glück fliegt über den Walliseller Bahnhof, grüsst Borges, verwandelt sich in einen Satz von Tschechow und steht wie eine Libelle über dem Wasser für 1,5 Sekunden still – nicht länger als die Gegenwart. Katharina Knorr, Literarischer Monat
Sein Einfallsreichtum scheint kaum zu versiegen und wagt sich in der Story vom Furunkel bis hin zur evolutionsgeschichtlichen Groteske. Dabei bescheren Spiel- und Sprachfreude den Lesenden überraschende Kapriolen. (…) Zweifellos zeigt dieser Autor geistreichen Witz, und ab und zu gibt er ein rasantes Tempo vor. Aber er verblüfft auch mit Tiefsinn, wenn er sich auf die Suche nach dem letzten Wort begibt. Beatrice Eichmann-Leutenegger, NZZ
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Linas Baum von Karl-Gustav Ruch sisifo press im Leipziger Literaturverlag, 2024 Ein geheimnisvoller Roman über eine unglückliche Lebensgeschichte einer Schwedin in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Ihr Sohn Henrik geht nach ihrem Tod der Vergangenheit seiner Mutter nach und entdeckt eine ganz andere Frau als seine Mutter. Spannend erzählt und für Leserinnen und Leser gut umgesetzt. Lebensgeschichte einer Schwedin in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Ihr Sohn Henrik geht nach ihrem Tod der Vergangenheit seiner Mutter nach und entdeckt eine ganz andere Frau als seine Mutter. Spannend erzählt und für Leserinnen und Leser gut umgesetzt.
Zur Rezension -
Der Roman „Linas Baum“ von Karl-Gustav Ruch, der gerade bei sisifo erschienen ist, handelt von Henrik, der nach dem früheren Leben seiner Mutter Lina forscht. Linas Sohn Henrik findet auf ihrer Beerdigung eine rätselhafte Nachricht eines gewissen Hennings. Aufgrund dessen, fängt er an nachzuforschen. Er entdeckt alte Briefe und Fotos und macht sich in Schweden auf die Suche nach ihrem Leben. Stück für Stück erfährt die Leserin oder der Leser immer mehr von Linas Vergangenheit. Mit 19 hat sie herausgefunden, dass sie adoptiert worden ist. Daraufhin begibt sie sich auf die Suche nach ihren verstorbenen Eltern. Zu ihrem biologischem Vater Lars entwickelt sie bald eine skurrile Beziehung. Sie verbringen gemeinsam Zeit in Stockholm, bis plötzlich der Kontakt abbricht und Lars auswandert. Kurze Zeit später wird sie von ihren Adoptiveltern nach Rom geschickt, um dort als Au-Pair zu arbeiten. Zusammen mit ihrer Schwester beginnt für sie eine aufregende Zeit. In Rom lernt sie Henning kennen. Doch auch diese Beziehung hält nicht lange an, schon bald muss Lina zurück nach Stockholm. Ein paar Jahre später lernt sie schließlich Hans kennen, mit dem sie bald darauf ein Kind kriegt und in die Schweiz zieht. „Linas Baum“ zeichnet sich durch eine metaphernreiche Erzählweise aus. Dadurch entsteht beim Lesenden sofort ein Bild im Kopf, lässt allerdings auch Platz für eigene Vorstellungen. Die Geschichte ist fesselnd, da man auch selbst erfahren möchte, was weiter in Linas Leben passiert. Hinzu kommen die interessanten Personen, die Spannung erzeugen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Ruchs spannender Roman wichtige Themen wie Liebe und Tod behandelt. Außerdem werden die Leser zum Nachdenken angeregt. Deshalb ist „Linas Baum“ absolut empfehlenswert für jedes Alter. forscht. Linas Sohn Henrik findet auf ihrer Beerdigung eine rätselhafte Nachricht eines gewissen Hennings. Aufgrund dessen, fängt er an nachzuforschen. Er entdeckt alte Briefe und Fotos und macht sich in Schweden auf die Suche nach ihrem Leben. Stück für Stück erfährt die Leserin oder der Leser immer mehr von Linas Vergangenheit. Mit 19 hat sie herausgefunden, dass sie adoptiert worden ist. Daraufhin begibt sie sich auf die Suche nach ihren verstorbenen Eltern. Zu ihrem biologischem Vater Lars entwickelt sie bald eine skurrile Beziehung. Sie verbringen gemeinsam Zeit in Stockholm, bis plötzlich der Kontakt abbricht und Lars auswandert. Kurze Zeit später wird sie von ihren Adoptiveltern nach Rom geschickt, um dort als Au-Pair zu arbeiten. Zusammen mit ihrer Schwester beginnt für sie eine aufregende Zeit. In Rom lernt sie Henning kennen. Doch auch diese Beziehung hält nicht lange an, schon bald muss Lina zurück nach Stockholm. Ein paar Jahre später lernt sie schließlich Hans kennen, mit dem sie bald darauf ein Kind kriegt und in die Schweiz zieht. „Linas Baum“ zeichnet sich durch eine metaphernreiche Erzählweise aus. Dadurch entsteht beim Lesenden sofort ein Bild im Kopf, lässt allerdings auch Platz für eigene Vorstellungen. Die Geschichte ist fesselnd, da man auch selbst erfahren möchte, was weiter in Linas Leben passiert. Hinzu kommen die interessanten Personen, die Spannung erzeugen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Ruchs spannender Roman wichtige Themen wie Liebe und Tod behandelt. Außerdem werden die Leser zum Nachdenken angeregt. Deshalb ist „Linas Baum“ absolut empfehlenswert für jedes Alter.
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Diesen Artikel haben wir am Montag, 18. September 2023 in den Shop aufgenommen.
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Karl-Gustav Ruch. Linas Baum. Lesen Sie. Es wird Ihnen gehen wie mir. welcher Stelle hätte ich die Seite knicken, das Buch zuschlagen sollen? Ich hätte es nicht gewusst.
Karl-Gustav Ruch. Linas Baum. Lesen Sie. Es wird Ihnen gehen wie mir.
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