Fragment. Mit einem Vorwort von Yvette Centeno und mit 11 Faksimiles. Aus dem Englischen und Portugiesischen von Markus Sahr
Fernando Pessoa schreibt, indem er seine Quellen wiederschreibt. Um die Vision eines Messianismus zu stützen, zitiert er den Schuhmacher Bandarra und die Knittelverse, die er in der Nationalbibliothek las; er zitiert Padre António Vieira und die Lehre vom Fünften Imperium und den Drei Weltzeitaltern ... Wie Lessing versucht auch Pessoa, in der jüdischen Religion einen zivilisatorischen Archetypus zu sehen: ein Zeichen des Fortschritts der menschlichen Spezies, auf dem Weg vom groben Polytheismus zum Monotheismus. Was die Religion Christi anbelangt, so unterscheidet er sie nachdrücklich vom päpstlichen Katholizismus, dem er abschwört zugunsten von etwas seiner Realität und seinem Geheimnis nach Größerem.
Fernando Pessoa: geb. am 13. Juni 1888 in Lissabon, 1893 Tod des Vaters, 26. 7. 1895 erstes Gedicht, Januar 1896 Mutter heiratet João Miguel Rosa, den portugiesischen Konsul in Südafrika, Umzug nach Durban, Besuch einer Schule mit englischer Ausbildung, 1905 Rückkehr nach Lissabon, Arbeit als freier Handelskorrespondent, in der Freizeit Schriftsteller, Gründung einer Druckerei und dem Verlag Ybis mit Hilfe einer kleinen Erbschaft, Konkurs nach kurzer Zeit, 1912 beginnt Tätigkeit als Literaturkritiker und Essayist für verschiedene Zeitungen, u.a. A Águia, 1915 Herausgeber der Zeitschrift Orpheu (ab der 2. Nummer, mit Mário de Sá-Carneiro), Einstellung von Orpheu, weil Campos den Straßenbahn-Unfall des demokratischen Politikers Afonso Costa ungeschickt kommentierte Theaterstück: O Marinheiro (Der Seemann), Gedichte: Chuva oblíqua (Schräger Regen) - F. Pessoa, Ode Marítima (Meeres-Ode) - Álvaro de Campos, Heteronyme: Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos und Bernardo Soare, 1934 Gedichtband Mensagem (Botschaft), 1935 Brief an den Kritiker Adolfo Casais Monteiro, in dem er die Entstehung der Heteronyme offenbart, 30. 11. 1935 Pessoa stirbt an einer akuten Lebererkrankung im Hospital São Luis dos Franceses in Lissabon, seit 1985 Überführung der Gebeine in das portugiesische Nationalheiligtum, das Hieronymus-Kloster in Belém.
"Kierkegaard und Pessoa waren, abgesehen von den äußeren Umständen ihrer Biografien, vor allem Zeugen - und zugleich die theologische, philosophische und poetische Verkörperung - des Werteverfalls ihrer Zeit, der bis jetzt anhält. Diese Krise ist allen westlichen Ländern gemeinsam, obwohl sie in jedem Land eine spezifische Ausprägung annimmt hinsichtlich der lokalen Bedingungen, der geschichtlichen Traditionen, der gegenwärtigen Hoffnungen oder Wünsche." (Joel Serrão)
Leseprobe:
Das Christentum ist eigentlich eine geistige Entwicklung von etwas Hebräischem; es kehrt jene sakramentalen und transzendentalen Eigenschaften hervor, die man in der jüdischen Religion nur in den höchsten Regionen ihrer Geheimlehre, der Kabbala also, findet, und selbst da nur in gewissem Maße. Die wichtigste Eigenschaft des Christentums für unsere Zivilisation ist seine Ethik. Wie wir den Griechen den Geist unserer Kultur verdanken, den Römern den Geist unseres Handelns, so verdanken wir dem Christentum den Geist eines höheren Lebens. Es wird nicht entgangen sein, daß diese Beschreibung von dem, was Christentum ist, den dogmatischen Teil außer acht läßt. Es wurde zurecht außer acht gelassen, nicht nur, weil unsere Zivilisation viele Sekten enthält, von der strengen Dogmatik der Römisch-Katholischen Kirche im Hinblick auf die Person Christi und alles andere bis hin zum Unitarismus, der das göttliche Wesen Christi und die Lehre der Heiligen Dreifaltigkeit leugnet; sondern auch deshalb, weil Zivilisation ein Handeln bedeutet und eine Religion durch ihre Ethik und nicht durch ihre Metaphysik oder ihre Doktrin mit dem Handeln in Berührung kommt. Als Zivilisation stehen wir unter der christlichen Ethik; jeder einzelne kann sich von ihrer doktrinären Gestalt aussuchen, was er will, dies ist seine eigene Sache. Wir sind angehalten zu untersuchen, ob Juden, wie auch immer man den Begriff definiert, bei der Freimaurerei ihre Hand im Spiel hatten oder haben. Für den römisch-katholischen Partisan ist oder bestimmt die römische Kirche “unsere Zivilisation”; ihrer eigenen Voraussetzung folgend, betrachtet diese Kirche alles, was außerhalb von ihr steht, als unrettbar verloren und zivilisationsfeindlich: von diesem Standpunkt aus gesehen, ist die Freimaurerei und sind die Juden, wie auch der Protestantismus oder irgendeine andere Religion oder Sekte, solange sie nicht römisch-katholisch sind oder der Natur nach nicht vollkommen außerhalb der Religion stehen, wie ein Fußballclub, ein Feind “unserer Zivilisation”. Für den römischen Katholiken ist der Fall von vornherein klar. Auf dieser Grundlage jedoch ist es sinnlos, wenn römisch-katholische Autoren oder Redner lang und breit Einwände gegen die Freimaurerei oder die Juden oder gegen irgendeine andere nicht-römische Organisation vorbringen, wie sie es beständig tun. Es sind nicht dreihundert Seiten nötig, um das zu sagen, es sei denn, die Absicht wäre, es anderen, die keine römischen Katholiken sind, zu beweisen. Wir werden versuchen, zu einer brauchbaren Definition dessen zu gelangen, was “unsere Zivilisation” bedeutet, und wir werden uns dabei bemühen, der gegnerischen Partei so viel einzuräumen, wie es geht, ohne der Logik und der Geschichte ausdrücklich Gewalt anzutun ...