Samstag den 6. April 1996
Ich begegne ihnen einmal in der Woche an einer abschüssigen Straße. Ich nehme sie mit nach Hause und schaue ihnen beim Leben zu. Scheinbar handelt es sich um Blumen. Scheinbar. Die Dinge sind niemals nur Dinge. Diese Tulpen hier zum Beispiel verleihen der Wohnung eine fröhliche, brüderliche Note. Die Bücher, die ich einfach aufschlagen muss, sobald ich sie erblicke, sind nicht genauso großzügig. Anders als Tulpen können Bücher nicht sterben und wieder geboren werden, um am Ende für eine gute Sache zu sterben. Hilfe wird uns von allem Flüchtigen zuteil. Was aber Ewigkeit für sich beansprucht, kann niemals ein Trost sein.
Sonntag, den 7. April
Ich warte. Ich habe mein ganzes Leben lang gewartet. Ich werde mein ganzes Leben lang warten. Ich bin unfähig zu sagen, worauf ich eigentlich warte und ignoriere das, was dieses endlose Warten beenden könnte. Keineswegs erwarte ich dieses Ende mit Ungeduld. Die Gegenwart ist gelebt, abgelebt, doch sie ist porös, luftig. Was ich erwarte kann nichts Zeitliches sein. Besser vermag ich es nicht auszudrücken. Weshalb überhaupt muss man immer alles erklären? Ich bin Schriftsteller geworden, oder besser, ich habe mich zum Schriftsteller werden lassen, um über die reine Zeit verfügen zu können, ohne eine ernsthafte Beschäftigung.
Montag, den 8. April
Seit ich aufgewacht bin suche ich nach dem, was notwendig ist, um den Tag zu einem Tag zu machen: ein Nichts aus Heiterkeit. Ich suche ohne zu suchen. Es kann von überall herkommen. Im Bruchteil einer Sekunde ist da und reicht für einen ganzen Tag. Die Heiterkeit oder das, was ich so nenne, ist das Kleine und Unvorhersehbare. Ein winziger Hammer aus Licht, der die Bronze der Wirklichkeit durchschlägt. Der Ton, den dieser Schlag erzeugt, erfüllt die Luft, aus nächster Nähe bis in die Ferne.
Wenn wir heiter sind, erwacht Gott.
Dienstag, den 9. April
Auf die immer so lästige Frage, worüber ich gerade schreibe, antworte ich, dass ich über Blumen schreibe und dass ich, wenn möglich, in Zukunft einen noch kleineren, bescheideneren Gegenstand wählen werde. Eine Tasse schwarzen Kaffee. Die Abenteuer eines Kirschblattes. Im Augenblick jedoch gibt es für mich genug zu beobachten: neun Tulpen, die in ihrer durchsichtigen Vase in Gelächter ausbrechen. Ich beobachte ihr Zittern unter den Flügeln der verfließenden Zeit. Ihre strahlende Art und Weise hilflos zu sein, und ich schreibe diesen Satz nieder, als würde man ihn mir diktieren: „All das, was ein Ereignis hervorbringt ist lebendig, und was lebendig ist schützt sich nicht vor dem Verlust seiner selbst.“
Mittwoch, den 10. April
Man soll sein Herz nicht an Phantome hängen. Die Phantome, das sind ganz gewiss nicht die Toten, es sind die Lebenden, wenn sie es zulassen, von ihren Sorgen erstickt zu werden. Je deutlicher sich ihr Ende abzeichnet, desto entschiedener neigen die Tulpen ihre Köpfe dem Fenster zu – als habe das Licht ihnen etwas zu sagen, das sie nicht mehr so recht hören können. Der nahende Tod verschließt ihnen die Ohren. Sie bitten den Tag darum das, was er ihnen anvertraut hat, noch einmal zu wiederholen. Wenn möglich ein wenig lauter. Ein Eimer voller Licht. Man ergießt ihn auf einmal auf den Boden aus weißem Papier.
Donnerstag, den 11. April
Die Spitzen ihrer Blütenblätter färben sich nach und nach schwarz, sie rollen sich auf wie ein Blatt Papier, wenn es sich einer Flamme nähert. Heute Abend oder spätestens morgen, werde ich mich von ihnen verabschieden und werde frische Tulpen in diese Wohnung bringen. Sie werden nicht euren Platz einnehmen, sondern nur eure Arbeit fortsetzen, und genau wie ihr werden sie das Licht auf ihren frischen Wangen zurückwerfen. Ich danke euch, ihr habt gut gearbeitet. Ich danke euch von ganzem Herzen dafür, dass ihr mich begleitet habt, in diesen paar Tagen, in denen sich, sowohl für euch als auch für mich, ein klarer Lebenshorizont verdunkelt hat. Der Morgenhimmel ist wie immer eine Quelle der Erneuerung: Vom Fenster aus beobachte ich die Vögel, im Grau und Weiß spielen sie Himmel und Hölle. Sie lassen sich nicht beirren, auch nach dem Läuten eines Regengusses, denken sie nicht im Traum daran, ins Klassenzimmer zurückzukehren. Sie sind da, um bis ans Ende der Zeiten weiter zu spielen, die Lichter im Hof der Mädchen, die Wolken in dem der Jungen. In Wirklichkeit sollten sie mich bei der Hand nehmen, nach Holland sollten wir aufbrechen, einfach nur so, ohne einen bestimmten Grund, ein kleiner Tapetenwechsel, vielleicht nur um am Ende festzustellen, dass es doch überall gleich ist. Holland, oder irgendein anderes Land, das eine Mischung aus Wasser und Erde ist. Es gibt für mich keine andere Art zu reisen. Doch sobald jemand meine Hand ergreifen will, schreie ich. Für diese Geschichte gibt es keine Lösung.
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