Tagebuch-Roman
Aus dem Französischen von Stefanie Golisch
Erscheint demnächst - jetzt zum Vorzugspreis vorbestellen!
Originaltitel: Autoportrait au radiateur, Paris: Gallimard, 1997
Autorenfoto: Francesca Mantovani, Éditions Gallimard
In seinen Aufzeichnungen hält der Autor die täglichen Eindrücke und Gedanken nach dem Tod einer geliebten Frau fest. Sein Buch sei aber gar kein Tagebuch, sagt er selbst, sondern ein Licht, das er entzünde oder ein Tier, das er füttere. Bobin erzählt von seiner Verlorenheit in diesem Trauerjahr, der Suche nach Würde und Schutz und dem unbedingten Willen zu leben. Dabei helfen ihm die frischen Blumen, die er regelmäßig in seine Wohnung trägt und der Kirschbaum vor seinem Fenster, beides Sinnbilder des Werdens und Vergehens. Durch radikale Introspektion gelingt es Bobin, ein facettenreiches Bild dessen zu entwerfen, was ein Mensch über sich selbst erfahren kann, wenn er durch einen Schicksalsschlag gezwungen wird, sich den entscheidenden Fragen des Lebens zu stellen: Wie sehr wünschen wir uns, geliebt zu werden. Ebenso gegenwärtig wie der Tod ist in seinen Aufzeichnungen allemal das Leben.
"Es ist kein Tagebuch, das ich führe, es ist ein Feuer, das ich im Dunkeln entzünde. Es ist kein Feuer, das ich im Dunkeln entzünde, es ist ein Tier, das ich füttere. Es ist kein Tier, das ich füttere, es ist das Blut, dem ich lausche, an meinen Schläfen, wie es schlägt - ein verwilderter Fensterladen an der Wand eines kleinen Hauses."
Christian Bobin (1951 - 2022): arbeitete nach dem Philosophiestudium in der Städtischen Bücherei von Autun, dann im Museum von Le Creusot, schließlich als Redakteur der Zeitschrift Milieux; erste Veröffentlichung 1977, gewann 1993 den Prix des Deux Magots für sein Werk Le Très-Bas, ihm wurde ein Jahr nach seinem Tod der Prix Goncourt für sein Gesamtwerk verliehen.
Stefanie Golisch: geboren 1961 in Deutschland. Germanistin, Schriftstellerin, Übersetzerin. Lebt und arbeitet seit 1988 in Italien.
Samstag den 6. April 1996
Ich begegne ihnen einmal in der Woche an einer abschüssigen Straße. Ich nehme sie mit nach Hause und schaue ihnen beim Leben zu. Scheinbar handelt es sich um Blumen. Scheinbar. Die Dinge sind niemals nur Dinge. Diese Tulpen hier zum Beispiel verleihen der Wohnung eine fröhliche, brüderliche Note. Die Bücher, die ich einfach aufschlagen muss, sobald ich sie erblicke, sind nicht genauso großzügig. Anders als Tulpen können Bücher nicht sterben und wieder geboren werden, um am Ende für eine gute Sache zu sterben. Hilfe wird uns von allem Flüchtigen zuteil. Was aber Ewigkeit für sich beansprucht, kann niemals ein Trost sein.
Sonntag, den 7. April
Ich warte. Ich habe mein ganzes Leben lang gewartet. Ich werde mein ganzes Leben lang warten. Ich bin unfähig zu sagen, worauf ich eigentlich warte und ignoriere das, was dieses endlose Warten beenden könnte. Keineswegs erwarte ich dieses Ende mit Ungeduld. Die Gegenwart ist gelebt, abgelebt, doch sie ist porös, luftig. Was ich erwarte kann nichts Zeitliches sein. Besser vermag ich es nicht auszudrücken. Weshalb überhaupt muss man immer alles erklären? Ich bin Schriftsteller geworden, oder besser, ich habe mich zum Schriftsteller werden lassen, um über die reine Zeit verfügen zu können, ohne eine ernsthafte Beschäftigung.
Montag, den 8. April
Seit ich aufgewacht bin suche ich nach dem, was notwendig ist, um den Tag zu einem Tag zu machen: ein Nichts aus Heiterkeit. Ich suche ohne zu suchen. Es kann von überall herkommen. Im Bruchteil einer Sekunde ist da und reicht für einen ganzen Tag. Die Heiterkeit oder das, was ich so nenne, ist das Kleine und Unvorhersehbare. Ein winziger Hammer aus Licht, der die Bronze der Wirklichkeit durchschlägt. Der Ton, den dieser Schlag erzeugt, erfüllt die Luft, aus nächster Nähe bis in die Ferne.
Wenn wir heiter sind, erwacht Gott.
Dienstag, den 9. April
Auf die immer so lästige Frage, worüber ich gerade schreibe, antworte ich, dass ich über Blumen schreibe und dass ich, wenn möglich, in Zukunft einen noch kleineren, bescheideneren Gegenstand wählen werde. Eine Tasse schwarzen Kaffee. Die Abenteuer eines Kirschblattes. Im Augenblick jedoch gibt es für mich genug zu beobachten: neun Tulpen, die in ihrer durchsichtigen Vase in Gelächter ausbrechen. Ich beobachte ihr Zittern unter den Flügeln der verfließenden Zeit. Ihre strahlende Art und Weise hilflos zu sein, und ich schreibe diesen Satz nieder, als würde man ihn mir diktieren: „All das, was ein Ereignis hervorbringt ist lebendig, und was lebendig ist schützt sich nicht vor dem Verlust seiner selbst.“
Mittwoch, den 10. April
Man soll sein Herz nicht an Phantome hängen. Die Phantome, das sind ganz gewiss nicht die Toten, es sind die Lebenden, wenn sie es zulassen, von ihren Sorgen erstickt zu werden. Je deutlicher sich ihr Ende abzeichnet, desto entschiedener neigen die Tulpen ihre Köpfe dem Fenster zu – als habe das Licht ihnen etwas zu sagen, das sie nicht mehr so recht hören können. Der nahende Tod verschließt ihnen die Ohren. Sie bitten den Tag darum das, was er ihnen anvertraut hat, noch einmal zu wiederholen. Wenn möglich ein wenig lauter. Ein Eimer voller Licht. Man ergießt ihn auf einmal auf den Boden aus weißem Papier.
Donnerstag, den 11. April
Die Spitzen ihrer Blütenblätter färben sich nach und nach schwarz, sie rollen sich auf wie ein Blatt Papier, wenn es sich einer Flamme nähert. Heute Abend oder spätestens morgen, werde ich mich von ihnen verabschieden und werde frische Tulpen in diese Wohnung bringen. Sie werden nicht euren Platz einnehmen, sondern nur eure Arbeit fortsetzen, und genau wie ihr werden sie das Licht auf ihren frischen Wangen zurückwerfen. Ich danke euch, ihr habt gut gearbeitet. Ich danke euch von ganzem Herzen dafür, dass ihr mich begleitet habt, in diesen paar Tagen, in denen sich, sowohl für euch als auch für mich, ein klarer Lebenshorizont verdunkelt hat. Der Morgenhimmel ist wie immer eine Quelle der Erneuerung: Vom Fenster aus beobachte ich die Vögel, im Grau und Weiß spielen sie Himmel und Hölle. Sie lassen sich nicht beirren, auch nach dem Läuten eines Regengusses, denken sie nicht im Traum daran, ins Klassenzimmer zurückzukehren. Sie sind da, um bis ans Ende der Zeiten weiter zu spielen, die Lichter im Hof der Mädchen, die Wolken in dem der Jungen. In Wirklichkeit sollten sie mich bei der Hand nehmen, nach Holland sollten wir aufbrechen, einfach nur so, ohne einen bestimmten Grund, ein kleiner Tapetenwechsel, vielleicht nur um am Ende festzustellen, dass es doch überall gleich ist. Holland, oder irgendein anderes Land, das eine Mischung aus Wasser und Erde ist. Es gibt für mich keine andere Art zu reisen. Doch sobald jemand meine Hand ergreifen will, schreie ich. Für diese Geschichte gibt es keine Lösung.
"Ein Buch, ein richtiges Buch, ist nicht jemand, der zu uns spricht, sondern jemand, der uns hört, der weiß, wie man uns hört. Was kann man mehr sagen? Wenn man Bobin liest, gewinnt man, indem man an sich selbst verliert. Denn er ist der Beobachter des reinen Lebens. Ein Narr des Nichts, des Einfachen, der Nacktheit des Seins. Er blättert die Seiten seines Lebens mit Nüchternheit um und verherrlicht das Verschwundene. Er folgt keinen Regeln. Je dunkler er wird, desto schöner ist er. Aber das Licht ist da, präsent auf dem Kirschbaum, dringt mit dem Wind in die Wohnung ein, das Licht ist überall, wie er befreit vom Chaos der Erwartungen. Wie sehr hätten wir uns alle gewünscht, so geliebt zu werden. Der allgegenwärtige Tod in diesem Buch öffnet uns die Türen zur Freiheit. Sterben, um geliebt zu werden. Sterben, um zu leben. Bobin zu lesen bedeutet, mehr Luft zum Atmen zu haben. Ich habe alle seine Werke gelesen, es ist eine Freude!" (Mélanie Mercier, Rennes)
"Es ist ein Buch, das in einem Zustand der Gnade geschrieben wurde. Ein Tagebuch, in dem er seine täglichen Überlegungen nach dem Tod seiner Frau festhält. Aus dem Einfachen haben Sie etwas Erhabenes gemacht. Ich lese es, als wäre es ein Gedicht. Mein Gott, warum hast du den Tod erfunden, warum hast du so etwas zugelassen, das Leben auf der Erde ist so angenehm, dein Paradies wird so schillernd sein müssen, dass man die Abwesenheit dieses irdischen Lebens darin nicht spürt, du wirst Genialität brauchen, um mir eine Freude zu schenken, die so rein ist wie die frische Luft eines Aprilmorgens, ja, du wirst viel Talent und damit Liebe brauchen, damit keine Sehnsucht nach diesem Leben dein Paradies erreicht." (Vera Love, goodreads)
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