Mit Aktzeichnungen von Hubertus Giebe
Festeinband, Fadenheftung, Lesebändchen, Großformat, Farbdruck
Viktor Kalinkes Lyrik weiß um die Zufälligkeit des Überlebens. Lebenslust paart sich mit Ernüchterung und gebärt Melancholie. Doppelpunkte verkürzen die Sätze. Es ist wichtig, diese Texte vorzutragen. Kalinke begreift die Interpunktion als atemgesteuerte Binnengliederung, die er zur Hauptsache erhebt: im Innern Verdichtung, an den Rändern fließende Übergänge. Wie beiläufig entstehen Verbindungen zwischen entfernt liegenden Gedanken - von Anfang und Ende kann keine Rede mehr sein. In der Grammatik spiegelt sich die Ewigkeit ...
Hubertus Giebes Zeichnungen sind souveräne Fingerübungen, behutsames Erproben von Farbwirkungen. Mit anatomischer Präzision nähert sich Giebe dem Körper – und enthüllt gleichsam die Seele. Was ist das für ein Mensch? Das Wichtigste ist nicht die Technik, sondern der geistige Prozeß: die Konzentration, mit der Giebe die Reduktion der Mittel betreibt. Zweifelsohne geht sinnlicher Reiz von den Zeichnungen aus, gesteigert, indem das Auge auf Distanz bleiben kann und nicht mit dem Objekt der Begierde verschmilzt.
Kalinkes Texte und Giebes Zeichnungen: beide fußen auf Beobachtung, sind angereichert durch geschichtliche Neugier, die den Blick schärft, durchdrungen von unbedingtem Formwillen - vereint in diesem ungewöhnlichen Band.
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.
Hubertus Giebe: geb. 1953 in Dohna, Studium der Malerei und Grafik (abgebrochen), externes Diplom an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Meisterschüler bei Bernhard Heisig, Leitung des künstlerischen Grundlagenstudiums an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Rede auf der Demonstration der Dresdner Künstlerverbände für Meinungsfreiheit, Demokratie und politischen Wandel am 19. November in Dresden, Kündigung des Lehrverhältnisses, Wiederbeginn der freischaffenden Tätigkeit, zahlreiche Ausstellungen
Über das Buch:
"Die Gedichte von Viktor Kalinke sind direkt, einige sind Liebesgedichte und Beschwörungen des Liebesaktes, andere imaginieren Trennungskonstellationen und durchwachte Nächte. Wieder andere bezeugen, daß Kalinke Psychologe ist - das Gedicht "Fremdheit : Familie" könnte auch "Suchbild : Vater" heißen:
nie hat mein Vater um seinen Vater
getrauert : fröhlich erschien dem Kind
die Besatzung in Polen : was für ein guter
Job (sagt man heute) : gefolgt
vom schnellen Tod auf der Krim : fünf
war mein Vater : als sein Vater starb
vermißt gemeldet (sagt er) : drüberweg
gehen & weiter : war die Maxime ...
Manche Gedichte Viktor Kalinkes fügen weitergehende Erfahrungsbereiche und Weltnahme hinzu, einige sind Reisegedichte eines Rastlosen, einige - un diese gehören zu den stärksten - bilden den Zeitgeist ab oder führend diesen ad absurdum ("Leipzig : Spinnerei"). Wieder andere erzählen kleine Geschichten ("der teppich" oder "plötzliche Wendung"). Einige Gedichte enthalten traumhaft surreale Bilder, "sarmatische Jahreszeiten":
... Kinderspiel
ist die Liebe : den leicht entschlüpfenden Fisch
fest auf den Rücken gebunden
Andere bezeugen Humor und eine leichte Feder." Axel Helbig, Dresdner Neueste Nachrichten
"Auch wenn es immer wieder um Liebe geht, Leidenschaft, Lebenslust und Reisen. In alle vier Himmelsrichtungen. Mit entsprechenden literarischen Anklängen, die die Kenner des Verlagsprogramms des Leipziger Literaturverlags schon kennen. Kalinke war da überall. Er ist ein reisender Verleger und ein bereister Autor. Er war in den sarmatischen Landschaften Bobrowskis und in der Sowjetunion, auch schon, bevor die russischen Mädchen alle zu verkleideten Nabokov-Lolitas wurden. Nymphchen. Dafür braucht ein neugieriger Autor natürlich nicht mehr nach Moskau zu fliegen, die kann er auch in Leipzig stolzieren sehen. In der Innenstadt etwa, "ein Ort / den ich meide". In Kreisen zieht er um die Stadt, besucht Dresden, Chemnitz, Altenburg, hebt ab Richtung Hamburg, Prag, Montenegro. Er könnte auch überall die Autorinnen und Autoren zitieren, die er in seinem Verlag versammelt hat. Macht er natürlich nicht. Denn mehrere Seelen hat er in seiner Brust, ist nicht nur Verleger und Philosoph, sondern tatsächlich auch Dichter, hält die Dinge fest, die ihm wichtig sind, in sauberen Versen, Versen wie Tagebucheinträge. Manchmal steht der Ort drüber. Manchmal redet er Klartext. Und spielt dabei mit dem Feuer. Stürzt sich in den Sex und in die Trauer, in Freundschaften und Verluste, gesteht sich Melancholie, Eifersucht und Verlustangst zu. Und die Dimension der Zeit."
Ralf Julke, L-IZ
Leseprobe:
Fremdheit : Familie
Nie hat mein Vater um seinen Vater
getrauert. Fröhlich erschien dem Kind
die Besatzung in Polen : was für ein guter
Job (sagt man heute). Gefolgt
vom schnellen Tod auf der Krim. Fünf
war mein Vater. Als sein Vater starb.
Vermißt gemeldet. Hat mein Vater seinen Vater
nie vermißt (sagt er). Drüberweg
gehen & weiter. War die Maxime.
Für Gefühle zuständig : der kleine Bruder
durfte weinen. Mein Vater : der große Bruder
die große Hoffnung. Ein Musterschüler
der’s allen gezeigt hat. Seine Begabung
Nachhilfe zu erteilen. Auch seine Frau
gewann er mit Beharrlichkeit (was man heute
leichthin stalking nennt) : er liebt
den schnellen Schritt. Beherrscht
vom Gedanken : vorwärts & rasch
vergessen. Liebt er sich selbst (wie wir alle).
Mein Vater. Mein trauriger Vater.
Er ist ein großer Zerredner & flieht
lebenslang vor der Trauer.