Marina Zwetajewa
Erich Ahrndt empfiehlt Marina Zwetajewa:
Marina Zwetajewa: das ist Aufbrausen, Ungestüm, höchster Anspruch - aber auch Innigkeit, Einkehr, Zurückgezogenheit. Ihre Themen sind Leidenschaft und Eifersucht, Heimweh und Sehnsucht, Einsamkeit der Künstlerin und Mitfühlen mit den Leidenden und Geschundenen. Ihre Sprache ist lakonisch, ausdrucksstark, tief emotional, aus dem Inneren geschöpft. Daß sie - im Dichten wie im Leben - zur Maßlosigkeit neigte, war ihr wohl bewußt. Früh schon errang sie Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Mit sechzehn Jahren reist sie allein nach Paris, um an der Sorbonne Vorlesungen in altfranzösischer Literatur zu hören. Schon zwei Jahre nach ihrer frühen Heirat (1912) steckt sie mit der Liebe zu einer Frau, mit der sie zusammen lebt und reist, die Freiräume ab, die sie für ihr Leben beansprucht. Doch hält sie, trotz mehrerer folgender Beziehungen zu Männern wie Frauen, zeitlebens zu Sergej Efron, ihrem Ehemann. In jungen Jahren der Krankheit der Mutter geschuldet, sind es später vor allem politische Umstände, die sie wiederholt zum Ortswechsel zwingen. Als Tochter aus intellektuellem Hause und Ehefrau eines Weißgardisten hat sie bei den Enthusiasten der Oktoberrevolution einen schlechten Stand - die russische Exil-Dichterschaft wiederum wirft ihr mangelnde Kritik gegenüber der Sowjetunion vor. Wieder in Russland, zerbricht Zwetajewa an der Verachtung seitens ihrer Kollegen: Zwei Jahre nach ihrer Rückkehr nimmt sie sich in Jelabuga das Leben.
Zwetajewa schreibt über universelle menschliche Erfahrungen – Liebe, Einsamkeit, Verlust, Freiheit und Selbstbehauptung. Ihre Gedichte sind emotional intensiv und sprechen Leserinnen und Leser auch heute unmittelbar an, weil sie existenzielle Fragen stellen: Wer bin ich? Wie kann ich lieben, ohne mich zu verlieren? Wie bleibe ich wahrhaftig in einer feindlichen Welt? Gerade in einer Zeit, in der viele Menschen nach Individualität und Authentizität suchen, wirkt Zwetajewas kompromisslose Ehrlichkeit modern und aktuell. Zwetajewas Sprache ist ungewöhnlich verdichtet, rhythmisch, musikalisch und voller Brüche. Sie experimentiert mit Klang, Betonung und Wortstellung, um Emotionen unmittelbar spürbar zu machen. Das macht ihre Gedichte herausfordernd, aber auch faszinierend – sie sind nicht nur gelesen, sondern erlebt. Ihre Kunst liegt darin, Schmerz und Leidenschaft nicht sentimental, sondern intensiv, fast körperlich auszudrücken. Dadurch wirkt sie wie eine Vorläuferin moderner Lyrik, die Grenzen sprengt und Sprache als Ausdrucksraum für innere Zerrissenheit nutzt. Zwetajewa lebte in einer Epoche politischer Umbrüche (Oktoberrevolution, Exil, Stalinismus) - ihr Werk reflektiert diese Spannungen zwischen persönlichem Leid und gesellschaftlicher Katastrophe. Zugleich war sie eine der stärksten weiblichen Stimmen der russischen Literatur: unabhängig, rebellisch. Oft lehnte sie sich gegen die männlich dominierte Literaturszene auf. Heute, im Rückblick, sind ihre Texte auch ein Dokument weiblicher Selbstbehauptung in Zeiten der Unterdrückung.
Das Herausragende an Erich Ahrndts Übersetzungen der Gedichte von Marina Zwetajewa liegt in seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, ihre sprachliche und emotionale Intensität ins Deutsche zu übertragen, ohne sie zu glätten oder zu verfälschen. Zwetajewas Gedichte leben stark von Klang und Rhythmus – sie „atmen“ Musik. Ahrndt gelingt es, diesen musikalischen Puls ins Deutsche zu übertragen. Er fängt die Spannung zwischen Zartheit und Härte, zwischen Sprung und Stille in der Sprache ein – was vielen anderen Übersetzern nicht gelingt. Zwetajewas abrupte Rhythmuswechsel oder harte Konsonantenfolgen überträgt Ahrndt so, daß sie im Deutschen noch spürbar sind – er „übersetzt den Klang“, nicht nur den Sinn. Ahrndt ist als Übersetzer ein poetischer Mittler. Er versucht, Zwetajewas Stimme, Haltung und emotionale Spannung zu wahren. Er spürt den inneren Rhythmus des Gefühls, den Zwetajewa in ihren Zeilen komponiert, und überträgt diesen in eine lebendige, deutsche Sprachmelodie. Seine Übersetzungen „klingen“ wie Zwetajewa – leidenschaftlich, unruhig, stolz. Zwetajewas Originalsprache ist ungewöhnlich, spröde, mitunter sperrig und eruptiv – weit entfernt von klassischer Harmonie. Ahrndt hat den Mut, diese Eigenwilligkeit nicht zu glätten, sondern im Deutschen hörbar werden zu lassen. Er bewahrt die Brüche, Ellipsen und Paradoxien, die ihre Lyrik so einzigartig machen, und zeigt damit großen Respekt vor ihrer künstlerischen Radikalität.
Marina Zwetajewa (1891-1941): geb. in Moskau, Reisen durch Europa, Schülerin in Lausanne, Literaturgeschichtsstudium an der Sorbonne, Ehe mit Sergej Efron, drei eheliche Kinder, leidenschaftliche Liebesverhältnisse u.a. zu Ossip Mandelstam und Sofia Parnok, Leben in Moskau, Berlin, Prag, Paris und wieder Moskau, intensive Korrespondenz mit Rilke und Pasternak, Armut und Übersetzungsarbeiten, Umsiedlung nach Jelabuga (Tatarstan)Marina Zwetajewa im Radio Ö1
⇒ l-lv.de/verlag/hoerproben/2012_02_05_zwetajewa_oe1_grudrun_braunsperger.mp3
Erich Ahrndt übersetzt Zwetajewa: Mit diesem Unmaß im Maß der Welt
Ralf Julke, L-IZ
⇒ www.l-iz.de/Bildung/Bücher/2012/01/Zwetajewa-Mit-diesem-Unmass-im-Mass-der-Welt-40551.html