Thomas Böhme
Viktor Kalinke empfiehlt Thomas Böhme:
Mir ist Thomas Böhme 1990 begegnet. Meine Kommilitonen schenkten mir zum 20. Geburtstag den Gedichtband "stoff der piloten". Nach "Mit der Sanduhr am Gürtel", der 1983 in der "Edition Neue Texte" erschienen war und zahlreiche Leser erreichte, war dies bereits Böhmes drittes Buch. Alle drei Jahre kam im Berliner Aufbau-Verlag ein neuer Band heraus und ließ auf eine steile Dichterkarriere hoffen. Diese Gedichte schienen den Nerv zu treffen: Randständig in der Endphase der DDR, widmeten sie sich Lebensthemen abseits des verlotterten Politikbetriebes, der Pubertät, dem Erwachsenwerden, das in der DDR die Illusion der Freiheitseroberung weckte.
"ein weg führt in erlkönigs schwimmenden Garten
voll schwankender wiesen mit schönen rivalen
die nackt hingestreckt auf das zeichen warten
zum eintritt ins paradies der gewollten qualen"
voll schwankender wiesen mit schönen rivalen
die nackt hingestreckt auf das zeichen warten
zum eintritt ins paradies der gewollten qualen"
Diese Worte waren nie metaphorisch gemeint, sondern konkret, sinnlich, wortwörtlich. Dem kleinen Paradies, umgeben von trutzenden Plattenbauten, ist Thomas Böhme in Leipzig-Grünau verhaftet geblieben, die gewollten Qualen hat er gesucht, auch als sich die Gesellschaft um ihn herum veränderte, auflöste, verschwand. Er spürte weiterhin den Morbiditäten falsch verstandener Männlichkeit nach, die er im gleichen Atemzug zu rehabilitieren versuchte. Seine Geschichten - aus der Perspektive des Träumenden erzählt, des Reisenden, der sieht, ohne sich vom Fleck zu bewegen - entzündeten sich an sozialen Realitäten im Osten wie im Westen. Doch der Leser scheitert an dem Versuch, sich in der Idylle einer untergegangenen Welt gemütlich einzurichten. Nicht zuletzt nahm Böhme die Spielregeln des qualvoll erfahrenen Literaturmarktes satirisch aufs Korn. Von Gedichten wechselte er zu Geschichten und wieder zurück zu Gedichten, bisweilen garniert mit Fotografien junger Männer, die ihm Ausstellungen in Halle und Leipzig einbrachten. Mit der Aufösung der DDR verlor Thomas Böhme sein lesendes Publikum. Aufgewachsen in der Chimäre eines utopisch-dystopischen Staates flüchtete er in Gedanken aus der Agonie ewig wiederholt gegangener Wege in die Wildnis der Strände, wie ein Luchs lauernd auf jungenhaft-jugendliche Abenteuer, trauernd um "den härtenden Griff deiner Hände". Wo manche Leser individuelle Erfahrungen mit gesellschaftlichen Prozessen unterstellen, mythologisch verbrämt mit Namen wie Gilgamesch, Alexander oder Stephanus, dreht es sich für Böhme um die Nacktheit schöner Figuren. Viele seiner Gedichte und Geschichten kreisen um Identität, Erinnerung, Natur, Verlust, Veränderung oder die Suche nach innerer Orientierung. Und all dies bleibt relevant, welches politische System auch immer dominant erscheinen mag. Böhme brilliert durch seine präzise, vielschichtige Sprache, starke Bilder und ironische Wendungen, die den Leser bis heute überraschen und irritieren oder - hoffentlich doch - zum Nachdenken anregen. Nun feiern wir den siebzigsten Geburtstag dieses Junggebliebenen. Sein letzter Verleger Paul Martin, selbst als Dichterin charlotte van der mele in Erscheinung getreten, charakterisiert Böhmes jüngste Texte folgendermaßen:
"Das Unterwegssein in Zwischenwelten charakterisiert Böhmes kurze Prosastücke, die auch im Erzählen nahe beim Gedicht bleiben und mitunter die Genregrenzen verwischen. Versehrte Landschaften in gedeckten Farben und bei diffusem Licht wechseln mit Innenräumen, die nur scheinbar Geborgenheit bieten. Die Zeit läuft spürbar langsamer, dehnt sich aus, gerinnt zu erinnerten oder geisterhaften Szenerien und manchmal bleiben die Uhren ganz stehen. In diesen Zeit-Räumen sind Götter und Sterne ebenso zu Hause wie Tiere, Pflanzen, Äpfel oder Walnusskerne. Die Menschen, deren Handeln oft Widersinn oder Vergeblichkeit anhaftet, bewegen sich wie Schlafwandler an den Rändern des Daseins oder nehmen ihre Umgebung verzerrt wahr. Ganz bei sich sind sie nur in der Kindheit mit ihren Ängsten, Sehnsüchten, ihrem Schmerz. Ihr Verlust bedeutet Minderung, selbst wenn dem Erwachsenen Lustgewinn, Erkenntnis oder Ruhm winken. „Heimlichkeit & Staunen“ – so der längste Text dieser Sammlung – sind Güter, deren man sich stets aufs Neue vergewissern muss." (Paul Martin, anderort)
Und frühere Rezensenten merkten an:
"Die Schauplätze der magischen Minaturen wechseln von Nordafrika nach Italien und dann plötzlich wieder ins Nirgendwo. Fiktion und Realität verfließen in dieser Prosa zu faszinierenden Mustern. Böhmes geheimes Hauptthema ist die Pubertät, jener Lebensabschnitt also, in dem die Geschlechtlichkeit erwacht, in dem Knaben zwischen Gefühlsextremen schwanken." (Ulf Heise)
"Eine der schönsten Geschichten vom Führen und Verführen - auch zur Kunst -, die der deutschsprachigen Literatur zugute kommt. Apropos Junge! 'Schwarze Archen' hat der Schriftsteller mit seinem Fotozyklus 'Jungen unterwegs' 'illustriert'. Die Serie bestätigt: Sehen, wie der Schriftsteller, heißt, mehr zu sehen, als gewöhnlich gesehen wird. In den Schwarzweißbildern von Böhme ist die Schönheit des Augenblicks, der nur einen Klick lang gilt. Thomas Böhme hat eine ästhetische Form gefunden, die sich fürs bloße Begaffen nicht eignet." (Bernd Heimberger)
Thomas Böhme: geb. 1955 in Leipzig, 1981-1984 Studium am Literaturinstitut "Johannes R. Becher", Mitglied des PEN-Zentrums und Mitglied der Freien Akademie der Künste Leipzig, lebt in Leipzig
>> Thomas Böhme im Film "DichterSehen", Viktor Kalinke im Gespräch mit Thomas Böhme zum Nachlesen
Im Leipziger Literaturverlag sind erschienen:
1 bis 5 (von insgesamt 5)
Thomas Böhme ist Autor des Monats Dezember 2025