Zurück zur Film-Übersicht

 


Interview

Sonst hätte ich ja Germanist werden können

Gespräch mit Thomas Böhme am 13. 5. 2006

Viktor Kalinke: Bevor wir auf die Bücher zu sprechen kommen, würde ich dich gerne fragen, was für dich Schreibanlässe oder Situationen sind, die dich zum schreiben anregen. Also banal gefragt, wo schreibst du?

Thomas Böhme: Wo ich schreibe ist ganz einfach zu beantworten: am Schreibtisch, unterm Dach, am Computer, auf dem Drehstuhl. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich in den letzten fünf Jahren an irgendeinem anderen Ort etwas geschrieben hätte, außer vielleicht einen Einkaufszettel oder eine kurze Notiz. Ich brauche das feste Ambiente. Ich bin ein seßhafter Schriftsteller, wenn man so will, also nicht Reiseschriftsteller mit dem Notizbuch oder mit dem Laptop. Ich hasse das, unterwegs zu sein, und dabei schreiben zu müssen. Ich bin gern mal unterwegs und sammle Eindrücke, aber dazu habe ich ja meinen Kopf. Das ganze Aufschreiben hat mir nie etwas gebracht. Ich habe es früher auch versucht, habe gedacht, das muß einfach so sein bis ich dann merkte, das Zeug kann ich nicht verwenden. Ich muß schauen und in meinem Kopf speichern und irgendwann zu Hause bei einer Pfeife, bei einer Flasche Wein oder auch zwei, kann ich schreiben.

Viktor Kalinke: Gibt es für dich, mal abgesehen von den Orten, bestimmte Anlässe, die dich immer wieder reizen? Beobachtungen, Themen?

Thomas Böhme: Es ist eher umgedreht. Ich versuche eigentlich, auch wenn es nicht den Anschein hat, ziemlich regelmäßig zu schreiben. Es sind manchmal nur zwei Stunden am Tag, aber in denen versuche ich tatsächlich etwas zu machen. Kreativität ist, glaube ich, ein Geschenk, was man nicht, so wie die LVZ, jeden Tag im Briefkasten stecken hat. Aber es gibt Texte, an denen man eine Weile arbeiten muß und die immer wieder verbesserungswürdig oder -fähig sind, und dann arbeite ich daran. Es gibt also keine zu verallgemeinernde Theorie, der zufolge ein bestimmter Anlaß gegeben sein muß, damit ich ein Gedicht schreibe. Das kann eine Fliege am Fenster sein oder ein Telefonat oder ein Film, den ich mal gesehen habe. Das ist so unterschiedlich. Manchmal ist es auch nur ein Wort oder eine Zeile, die mir eingefallen ist, die ich mir mal schnell notiert habe und bei der ich denke, damit kann ich was machen. Das schreiben soll ja Spaß machen. Ich schreibe ja, weil ich daraus einen Lustgewinn ziehe. Ich experimentiere mit einem Text, der noch nichts ist, außer vielleicht ein Impuls, so ein Reiz, der auf das Nervenzentrum wirkt. Daraus gestalte ich dann ein Gebilde, das irgendwie diese Idee oder dieses Fragment einer Idee im Text fortsetzt. Das eine Wort ergibt dann ein anderes, eine Formulierung läßt verschiedene Varianten zu, die man dann fortsetzen kann. Ich bin auch nicht der, der ein Gedicht im Kopf fertig schreiben kann. Ich will das Bild vor Augen, die Zeile sehen und dann noch mal sehen was sich daraus entwickelt. Es entwickelt sich bei mir immer alles am Bildschirm, früher hätte ich gesagt auf dem Papier, aber ich bin ja nun auch computerabhängig geworden. Am Bildschirm steht dieses Stückchen Text da, dann kommt etwa dazu und so baut sich das nach dem Baukastenprinzip auf. Oder wie ein Puzzle, damit kann man es vielleicht auch vergleichen. Ich habe mal in einem poethologischen Gedicht geschrieben, ein Gedicht sei etwas zwischen Kreuzworträtsel und Kammermusik. Vielleicht ist so auch meine Arbeitsweise. Da ist ein Haufen leerer Kästchen, die man füllen kann und dann schaut man mal, welche Instrumente man dazu einsetzt. Aber nicht zu viele, nicht das gleich wieder alles zugesülzt, zugedröhnt wird.

Viktor Kalinke: Auf der einen Seite geht es dir um eine Regelmäßigkeit, daß du jeden Tag eine gewisse Zeit, vielleicht zwei Stunden, manchmal länger, manchmal kürzer, zum Schreiben hast und auf der anderen Seite hast du Lust zu experimentieren, mit der Sprache zu spielen, Dinge herauszufinden. Da stellt sich für mich die Frage nach diesem Spannungsfeld zwischen Quantität und Qualität. Ist das Schreiben für dich eine Art Sucht?

Thomas Böhme: Schon, ja. Ich beherrsche nichts anderes so gut wie das Schreiben. Ich fotografiere auch noch und in meiner Kindheitsphase habe ich auch mal gemalt oder gezeichnet und auch mal versucht, Musik zu machen, aber das kann ich alles nicht. Und schreiben, das kann ich. Es ist vor allem die Sucht nach den Ergebnissen. Ich bin resultatorientiert und wenn ein Gedicht fertig ist, dann ist das schon ein kleiner mentaler Orgasmus. Ich freue mich dann einfach, daß etwas entstanden ist, was vorher nicht existiert hat, was tatsächlich Ergebnis meiner eigenen Gedankenassoziationen, meiner Finger auf der Tastatur, geworden ist. Und wenn es da steht, macht mich das glücklich. Auch wenn ich beim Arbeiten das Gefühl habe, da passiert tatsächlich was, das auch mit mir zu tun hat, wenn ich ausdrücken kann, was anders nicht zu sagen geht, dann ist das einfach der Kick.

Viktor Kalinke: Wie tritt für ich dieser Punkt ein, an dem dieses Glücksgefühl entsteht, weil für dich ein Ergebnis da ist, das du so stehen lassen kannst, an dem du dann sagst, jetzt ist es soweit, jetzt kann ich die Finger davon lassen? Wann ist für dich ein Gedicht fertig?

Thomas Böhme: Das ist eigentlich nicht beschreibbar. Manchmal spreche ich dann den Text vor mir her und schaue, ob der Rhythmus stimmt. Aber das alleine reicht nicht. Es gibt da draußen einzelne Kriterien nach denen man ein Gedicht oder auch einen Prosatext beurteilen kann und ich als Autor bin sowieso ein sehr naiver Beurteiler. Ich weiß manchmal gar nicht, ob das gut oder schlecht ist. Ich weiß nur, daß es Texte gibt, da bin ich sofort begeistert von dem, was da steht, und sage mir, das ist gut so, da darf ich nicht mehr dran rumbasteln, das soll so bleiben. Ja, und dann gibt es auch Texte, vor allem wenn ich eine längere Geschichte oder so etwas schreibe, wo dieser Punkt erst sehr, sehr spät kommt und ich sehr oft zwischendurch verzage oder manchmal sogar abbreche. Die Verführung eines Computers ist ja, daß man nur auf die Löschtaste drücken braucht und alles ist blank.

Viktor Kalinke: Was löst das in dir aus, wenn du die Löschtaste drückst oder wenn du das Papier zerknüllst?

Thomas Böhme: Wut wäre übertrieben, sagen wir mal stinkige Laune. Aber schlechte Laune gehört, glaube ich, auch zum Beruf des Schriftstellers dazu. Ich zertrümmere dann zwar keine Möbel, aber innerlich bin ich dann sehr aggressiv, also aggressiv gegen mich selbst, ein bißchen wehleidig, ein bißchen kommunikationsunlustig. Wenn in dem Moment gerade jemand anruft, kann es schon passieren, daß ich sehr schnell wieder auflege oder sage, es paßt mir jetzt nicht.

Viktor Kalinke: Du hast das Schreiben als Prozeß beschrieben, der für dich auch viel mit Lust zu tun hat. Nun stellt sich für mich die Frage, wie du dein Verhältnis zu Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit definierst. Also, wo befindest du dich selbst auf dieser Linie? Man kann ja mit sehr großen Begriffen hantieren, die alles umfassen, philosophisch schreiben, und gleichzeitig kann mit Sprache Sinnlichkeit ausgedrückt werden. Von dir gibt es eine Fotoausstellung, „Das vernachlässigte Geschlecht“, was ja ein vieldeutiger Titel ist. Siehst du in der Sprache, in der lyrischen Sprache, eine Möglichkeit Körperlichkeit, Sinnlichkeit auszudrücken oder ist es für dich eher etwas Experimentelles, Abstraktes oder "konkrete Poesie"?

Thomas Böhme: Nein, für mich ist ein Gedicht etwas Sinnliches, also ein Körper, unbedingt. Sprache, die nicht gleichzeitig auch erotisch oder körperlich ist, ist für mich tote Sprache. Gedanken oder philosophische Gedichte, in denen abstrakte Begriffe vorkommen, spielen für mich keine Rolle. Lese ich auch nicht gern, wenn sie nicht einmal besonders pointiert und klug sind. Damit geht es ja schon eher in Richtung Essay oder Aphorismus, je nachdem wie viel Tinte geflossen ist. Aber bei mir ist das Gedicht immer auch ein Körper, ein menschlicher Leib, der auch ein Stück Naturkörper, ein Stück sinnliche Erde, sinnliche Pflanze ist. Es wäre völlig verfehlt, wenn man das nicht erkennt oder nicht herausstellt. Deshalb spielen in meinen Texten auch immer sinnliche Eindrücke eine Rolle, also Tastsinn, Geruch, Farben, ja jede Art von Reizen eigentlich. Man kann das auch negativ interpretieren und sagen, das ist ja effekthascherisch oder pornografisch oder exhibitionistisch. Es ist ein bißchen so, als Lyriker bin ich zugleich Exhibitionist und Voyeur und vielleicht auch gleichzeitig Masochist und Sadist. Es sind diese beiden Pole oder eigentlich sind es ja vier verschiedene Pole, in denen ich mich als Person bewegen kann, aber es hängt von der Tagesstimmung ab, in welche Richtung es gerade tendiert. Es gibt für alles, auch in den Texten, Belege.

Viktor Kalinke: Eine Frage zur Form. Gibt es für dich so etwas wie ein Ideal der poetischen Form, hast du für dich einen inneren Maßstab oder ein inneres Idealbild, was für dich ein gutes Gedicht ist?

Thomas Böhme: Das kann man, glaube ich, nicht mit ja oder nein beantworten. Es gibt schon Gedichte, die ich sehr mag. Das sind meistens gar nicht die komplizierten, sondern eher schlichte Texte, z.B. von Heinrich Heine:

Es ragt ins Meer der Runenstein,
Da sitz ich mit meinen Träumen.
Es pfeift der Wind, die Möwen schrein,
Die Wellen, die wandern und schäumen.

Ich habe geliebt manch schönes Kind
Und manchen guten Gesellen –
Wo sind sie hin? Es pfeift der Wind,
Es schäumen und wandern die Wellen.

Das Gedicht ist ein großartiger Text. Es sind acht Zeilen und wenn Heine nur das geschrieben hätte, dann müßte es in jeder Anthologie stehen. Es passiert mir vielleicht zweimal im Jahr, daß ich ein Gedicht lese, bei dem ich sage, das möchte ich aufsagen können. Das muß ich dann gar nicht lernen, sondern das lese ich so oft oder höre es mir in dem Fall so oft an, bis ich es selber kann. Ich habe die Fassung von Rolf Hoppe gehört, der hat es noch um tausend Klassen besser interpretiert. Aber das liegt nicht nur an der Interpretation, sondern auch an dieser Art der Verknüpfung von Worten. Das ist für mich ein sinnlicher Text, an dem alles stimmt. Auch die Wiederholungen kommen an den richtigen Stellen. Das ist wie eine kleine Sonate von Mozart oder irgendein lyrisches Musikstück, bei dem man gar nicht weiß, worin eigentlich der Zauber liegt, was da mit einem passiert. Und ich will das auch gar nicht wissen. Es ist schön, wenn man nicht alles wie ein Anatom oder Pathologe mit der Pinzette und dem Skalpell auseinandernimmt.

Viktor Kalinke: Du läßt das Gedicht dann weiter auf dich wirken?

Thomas Böhme: Na klar.

Viktor Kalinke: Gehst nicht analytisch ran?

Thomas Böhme: Nein, sonst hätte ich ja Germanist werden können.

Viktor Kalinke: Eine gute Überleitung zu ein paar biographischen Fragen. Wie bist du zur Lyrik gekommen, wie alt warst du damals? Es gibt ja für viele eine Phase, meist in der Pubertät, in der sie sich genötigt fühlen, Gedichte zu schreiben. Ich weiß nicht, ob jetzt noch viele Jugendliche Gedichte schreiben, vielleicht gibt es ja mehr, als man denkt.

Thomas Böhme: Es gibt viele, viel zu viele.

Viktor Kalinke: Manche bleiben dabei hängen und von denen werden einige Lyriker. Wie war für dich der Anfang?

Thomas Böhme: Ich bin aus Einsamkeit zum Gedicht gekommen. Gerade in meiner Jugend, sagen wir mal ab der Pubertät, war ich ein sehr einsames Kind oder einsamer Jugendlicher, weil ich keine Freunde hatte bzw. die Freunde, die etwas von mir wollten oder die mit mir zusammen sein wollten, nicht die richtigen waren. Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß ich nach Menschen gesucht habe, die es entweder nicht gab oder die ganz andere Interessen hatten als ich. Und die, die so ähnlich waren wie ich, mit denen konnte ich nichts anfangen. Ich bin dann auf die Literatur gestoßen, wobei das sicher ein sehr langer Prozeß ist, bis man irgendwann einmal auch mit richtig guten Gedichten zu tun bekommt. Die Gedichte die ich in der Schule gelesen habe, die waren es nicht. Das habe ich intuitiv gespürt. Aber z.B. habe ich, bevor ich in die Armee eintreten wollte, romantische Gedichte entdeckt, also Balladen von Uhland, Mörike und Conrad Ferdinand Meyer. Das war plötzlich so eine Stimmung, die mir zugesagt hat und in der ich mich wieder gefunden habe. Und das hatte auch etwas mit mir zu tun, weil ich eigentlich, glaube ich, ein rückwärts gewandter Mensch bin und das auch schon als Kind war. Zum Beispiel haben mich Ruinen schon immer mehr interessiert als Neubauten und alles, was morbid oder gefährdet war oder den Rauch des Vergangenen hatte wie Dampflokomotiven, Fachwerkhäuser, Gärten oder Parks, die nicht gepflegt waren und die nicht als Familien-Sonntagnachmittags-Ausflugsziele galten, sondern wo Wildwuchs war, aber auch so etwas, was noch an menschliche Aktivitäten erinnerte, irgendwelche Tempelchen. In Abtnaundorf z.B. gab es einen klobrillenartigen See und in der Mitte war eine Insel mit einem dorischen Säulenfragment. So etwas hat mich schon immer unheimlich angeregt. In der Malerei z.B. auch Caspar David Friedrich. Die Romantik war sozusagen die erste literarische und auch künstlerische Richtung, in der ich mich wieder erkannt habe und, wie das nicht anders sein kann, die ich versucht habe zu kopieren. Ich habe sogar Ölgemälde von der Kreideküste auf Rügen gemacht und die sehen verführerisch nach Caspar David Friedrich aus. Ich habe es nicht ganz zum Kunstfälscher gebracht, nur zum Wortakrobaten.

Viktor Kalinke: Wie alt warst du damals?

Thomas Böhme: So sechzehn.

Viktor Kalinke: Welchen Einfluß hat deine Biographie auf dein Schreiben? Beim Durchschauen deiner Gedichtbände sind mir verschiedene Fotografien von dir aufgefallen. Hier ist ein Foto, da hatte ich den Eindruck, daß das eine Metamorphose darstellt. Ich würde dich gar nicht wieder erkennen, aus den 1980er Jahren mit Vollbart, ein typisches Bild für einen DDR-Intellektuellen.

Thomas Böhme: Stimmt, ja. Sehe ich auch. Mit Abstand sieht das so aus, obwohl ich das damals nicht so empfunden habe. Ich denke mal, daß die Bartgeschichte auch etwas damit zu tun hatte, daß ich mit mir als junger Mann nichts anfangen konnte. Ich hatte ein gestörtes Verhältnis zu meiner eigenen Jugendlichkeit und wollte eigentlich immer älter sein, älter aussehen. Vielleicht spielt auch eine romantische Vorstellung von Eremit eine Rolle. Später fand ich das dann aber einfach lästig, so ein Bart im Gesicht, und wollte auch nicht so aussehen wie die ganzen DDR-Oppositionellen, die man überall im Fernsehen sah. Ich merkte dann, daß das auch eine Art Uniform war. Eigentlich habe ich immer versucht, mich gegen Uniformität oder Konformität zu sperren. Aber man kann tun was man will, man wird immer von irgendeinem Trend eingeholt. Was ich vielleicht noch zu Brüchen sagen kann, viele Dinge haben ganz ursächlich mit Kunst und Literatur zu tun, so daß eben auch das Tragen eines Vollbartes ungefähr mit der Entdeckung von Allen Ginsberg als Lyriker zusammenfällt. Die amerikanische Beat-Lyrik war schon so eine Art Initialzündung, auch für mein eigenes Schreiben, was vorher nur romantische Gefühlsduselei war. Ich will das jetzt gar nicht abwerten, das gehört einfach dazu, aber das waren Sachen, die kann man nicht veröffentlichen. In der Phase, in der ich mich mit Ginsberg oder Kerouac beschäftigt habe, sind tatsächlich auch eigenständige Texte entstanden. Und dies einfach aus dem Grund, weil die bestimmte Methode, die man sich aneignet, also gerade diese Methode der Beatniks, gerade dazu auffordert eigenes Material, authentisches, biographisches, dokumentarisches Material zu verwenden. Das mußte ich natürlich aus meinem Leben holen oder aus dem, was mich in dem Moment beschäftige. Das können auch vermittelte Sachen sein wie Popmusik oder literarische und filmische Geschichten. Aber sie mußten erst einmal durch mich hindurch gegangen sein, sonst wäre es nicht möglich gewesen, darüber zu schreiben. In dem ersten Gedichtband gibt es z.B. ein Gedicht, das von einer surrealen Party der Rolling Stones handelt. Da könnte man sagen, das hat der nicht erlebt, aber das war schon das Lebensgefühl, das ich damals mit einigen Freunden geteilt habe. Stones-Musik laufen lassen und sich dazu sehr wild und sehr exzessiv zu bewegen, also Tanz möchte ich das nicht nennen, aber irgend etwas in dieser Richtung. Ja, frag halt wieder, sonst quatsch ich mich hier dumm…

Viktor Kalinke: Beim Lesen deiner frühen Gedichte ist mir aufgefallen, daß sie einen sehr starken Westbezug hatten. Du sprichst da manchmal von der Tagesschau und Tchibo-Kaffee. In diesen Gedichten, die in den 1980er Jahren entstanden sind, gehörte das für viele, die in der DDR gelebt haben, nicht zum Alltag, außer für die, die ständig im Intershop eingekauft haben oder Westverwandtschaft hatten. Da kam für mich die Frage auf, inwiefern, hast du dich an Westeuropa und Amerika orientiert?

Thomas Böhme: Ich nehme an, daß die vorwiegend westliche Orientierung zunächst aus einer Art Protesthaltung kam. Also alles, was man lesen muß und sei es die größte russische Poesie, will man erst einmal nicht verinnerlichen. Etwas, das man nicht gerne macht. Das betraf damals natürlich auch die deutsche sozialistische Literatur, Brecht und so weiter. Ich habe heute noch ein gestörtes Verhältnis zu Brecht, weil ich „Lob des Kommunismus“ lernen mußte. Und dazu kommt natürlich, wenn etwas verboten ist, reizt es. Jedes abgesperrte Gelände oder jede verschlossene Tür ist interessanter als die, die du aufmachen kannst und durch die du durchlaufen kannst. Z.B. bin ich in Pompeji immer nur dort entlang gelaufen, wo es verboten war. Da war es noch nicht so aufbereitet und das waren genau die Plätze, die mich interessiert haben. Wenn das alle machen, ist das natürlich scheiße, aber ich bin ja nicht jeder. Ja, die Orientierung auf die Amerikaner, das passierte vielleicht so im Nachklang einer sehr ausschweifenden Karl-May-Lektüre. Zwischen meinem zehnten und zwanzigsten Lebensjahr habe ich ungefähr die Hälfte aller Karl-May-Bücher, die es damals gab, die ich über Westverwandte bekommen habe, gelesen. Immer brav eins zum Geburtstag, eins zu Weihnachten und vielleicht einmal zwischendurch noch eins zu Ostern. Da kommt schon einiges zusammen. Das waren vielleicht so zwanzig, dreißig Bände. Ja, und da bildete sich erst einmal so ein Amerikabild. Und dann habe ich in einem Schweriner Antiquariat ein Bändchen „Das Geheul“ von Allen Ginsberg gefunden. Das war ein DDR-Antiquariat und es stand da brav zwischen Gorki und ich weiß jetzt nicht mehr wem. Das habe ich mitgenommen, weil es billig war, ich glaube zwei DDR-Mark und davon war ich unheimlich begeistert. Zu der Zeit habe ich natürlich schon Bob Dylan gehört, ohne mich großartig mit den Texten zu beschäftigen und das war irgendwie das Pendant dazu. Die Songs von Bob Dylan und die Texte von Ginsberg, das paßte für mich. Ab da habe ich angefangen, mir das Ganze ein bißchen intensiver zu erarbeiten. Über Lexika oder über Bibliotheken konnte man doch an viele Sachen herankommen, die nicht im Buchhandel zu kaufen waren. Aber es ist falsch zu sagen, wir hätten keine Ahnung gehabt. Mitte, Ende der 1980er Jahre sind ja auch in der DDR „Unterwegs“ von Kerouac und ein Poesiealbum von Allen Ginsberg erschienen. Wenn man wollte, konnte man sich diese Sachen erschließen. Für mich war es der zweite Western, der authentischere, der da ablief, bei dem ich später auch gemerkt habe, das hatte mit der Zeit der 1980er Jahre eigentlich nichts mehr zu tun und noch viel weniger mit dem heutigen Amerika. Das mag einer der Gründe sein, warum ich, trotz dieser literarischen Westorientierung, doch relativ wenig gereist bin. In den USA war ich z.B. nur ein einziges Mal und es muß auch nicht sein, daß ich da noch einmal hinfliege. Ich mag sowieso keine langen Flüge.

Viktor Kalinke: Bist du zu DDR-Zeiten in den Westen gereist?

Thomas Böhme: Ja, in die Bundesrepublik, in die "selbständige politische Einheit Westberlin", nach Belgien und Holland, in die Niederlanden.

Viktor Kalinke: Wie ist dir das gelungen?

Thomas Böhme: Das erste Mal hatte ich eine Einladung aus Hamburg. Da hatte mich ein Hans Henny Jahnn-Fan, der wußte, daß ich mich auch mit Hans Henny Jahnn beschäftigte, zu einem Vortrag eingeladen. Ich hatte mich damals parallel zu dieser Geschichte mit einem Essay zu Hans Henny Jahnn bei „Sinn und Form“ beworben. Der ist dann erst 1989, aber noch in der DDR, gedruckt worden. Er kannte diesen Text und wollte, daß ich in Hamburg einen kleinen Vortrag halte, obwohl ich überhaupt keine Ahnung hatte, wie so etwas abläuft. Es war dann auch mehr so eine Art Studentenkeller. Aber es ist ihm gelungen, mir auf diese Einladung hin, zumindest nach dem zweiten Anlauf, diesen DDR-Dienstreisepaß über den Schriftstellerverband zu besorgen. Nun muß man dazu sagen, daß das 1986 oder 1987 war und das heißt, daß die DDR ja sowieso schon am Ende war, obwohl wir das damals nicht wußten. Aber ich glaube, die Visa- oder Paßvergabe war schon sehr lax und gerade bei Schriftstellern war man froh, wenn man die irgendwie los war. Ich bin ja immer wieder gekommen, weil ich noch Geiseln hier gelassen hatte.

Viktor Kalinke: Deine Familie…

Thomas Böhme: …ja. Aber ich bin dann so drei-, viermal raus gekommen. Und das war, glaube ich, auch für mich wichtig, weil in dem Moment als dann die Mauer gefallen ist, mußte ich nicht mehr so dringend weg.

Viktor Kalinke: Da war deine Neugier bereits gestillt.

Thomas Böhme: Genau. Ich habe mich zwar gefreut, aber ich bin dann erst, ich weiß nicht, ein Jahr später das erste Mal im Westen gewesen. Da gab es die Besuchergeld-Regelung gar nicht mehr. Mir hat dann aber jemand gesagt, daß man das noch da und da kriegen kann, auch wenn man säumig gewesen ist und es sich nicht gleich geholt hat. Ja, und in Belgien, das war so eine Biennale der Poesie. Da waren mehrere DDR-Autoren eingeladen: Häfner, Schedlinski, Drawert und andere. In Amsterdam, da war ich auf offizielle Einladung einer Autorendelegation. Dort haben sich die Germanisten ja immer sehr mit der DDR-Literatur befaßt, z.B. Alexander von Bormann.

Viktor Kalinke: Der auch jetzt noch rezensiert.

Thomas Böhme: Ja. Also, es waren keine spektakulären Reisen im Sinne von Dauervisum.

Viktor Kalinke: Welche Autoren sind dir auch wichtig? Welche Autoren aus deiner privaten Bibliothek spielen für dich eine besondere Rolle?

Thomas Böhme: Vielleicht, außer denen der Beat-Lyrik, die mich vor allem so Mitte der 1980er Jahre sehr stark inspiriert haben, waren das Wolf Dieter Brinkmann, vor allem seine Lyrik, Gedichte von Theobaldy, Nicolas Born und, damals noch, heute eher weniger, Enzensberger. Auch viele Franzosen. Ich habe immer gern französische Romane gelesen, z.B. die von Simenon. Das hat mit meiner eigenen Arbeit eigentlich nichts zu tun, das ist mehr zur Entspannung. Ich habe auch unheimlich Hochachtung vor seiner Menschenkenntnis, seiner Zeichnung des einfachen Menschen, des kleinen Mannes, Büroangestellten, der dann irgendwann aus Verzweiflung einen Mord begeht oder sich aus dem Fenster stürzt. Das sind für mich immer große Geschichten. Außerdem fasziniert mich die Prosa von André Gide und in der Lyrik Baudelaire, Rimbaud, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, was z.B. dann auch die deutsche Lyrik des Expressionismus sehr stark mitgeprägt hat wie Georg Heym, Trakl, natürlich auch Stefan George, der einer der Ersten war, der Baudelaire ins Deutsche übersetzt hat. Rilke ist für mich immer wichtig gewesen. Mit großen Abständen habe ich Rilke-Phasen gehabt. Die Erzählung „Dämmerung mit Dingen“ hat nicht von ungefähr ein Rilke-Motiv im Titel, ein Motto von Rilke vorangestellt bekommen. Hans Henny Jahnn hatte ich schon erwähnt. Er ist auch über viele Jahre für mich einer der ganz prägenden deutschsprachigen Dichter gewesen, dessen Verhältnis zur Sexualität und zur Fleischlichkeit mich auch immer fasziniert hat, etwas Kolossales im Anspruch und auch im eigenen Werk, das Ausufernde, das in den Mikrokosmos gleichermaßen wie ins Unendliche vordringende und dabei eben auch scheiternd. Ich glaube das Scheitern gehört zur großen Literatur mit dazu. Die unvollendeten Werke sind nicht immer die schlechtesten und manchmal sind das sogar auch die wichtigen.

Viktor Kalinke: Kannst du das auch für Texte von dir sagen?

Thomas Böhme: Nein, eigentlich weniger. Ich hatte anfangs ja schon gesagt, daß ich es genieße etwas fertig zu stellen. Ich könnte nicht damit leben, wenn etwas nie fertig würde. Das Unvollendete oder Unfertige gebe ich dann auch nicht gern aus der Hand. Vielleicht ist es gut, aber ich bin dann unsicher und denke mir immer, eigentlich muß ich es fertig kriegen.

Viktor Kalinke: Wie ist es dir gelungen, in der DDR den ersten Gedichtband zu veröffentlichen?

Thomas Böhme: Das war, glaube ich, gar nicht so spektakulär. Ich bin ein bißchen die Tippeltappeltour gegangen wie wahrscheinlich viele andere auch, mit Einzelpublikationen, auch einmal in der Zeitschrift NDL mit einem Geleitwort von Peter Gosse. Dann gab es diese Zweijahresheftchen, „Auswahl“, vom Verlag Neues Leben. Ich glaube, ich war das erste Mal in der „Auswahl“ von 1982 und dann noch einmal in der von 1984. Und wie du schon gesagt hast, erschien 1983 ja schon „Mit der Sanduhr am Gürtel“. Das Manuskript hatte Ulrich Berkes, mit dem ich befreundet war, an den Aufbauverlag gegeben. Damals war es ja noch so, daß immer Gutachten geschrieben werden mußten. Eines hatte Berkes geschrieben, das zweite kam von Wolfgang Trampe, auch ein Aufbau-Autor. Und dann hat es, nachdem es dort lag, nicht mehr lange gedauert. Das war ein sehr umfangreiches Konvolut von schlechten, mittelmäßigen und vielleicht auch ein paar guten Gedichten, wovon die Hälfte gedruckt worden ist. Für mich selber war das überraschend, weil es mit dem Kanon des sozialistischen Realismus überhaupt nichts zu tun hatte. Und wie du schon bemerkt hast, war es westlich orientiert, also die Namen, die darin auftauchen, sind fast ausschließlich aus der westeuropäischen und amerikanischen Literatur oder Kunst gewesen. Es war auch ein gewisser Protest gegen die verordnete Literatur. Nicht immer gerecht, denke ich. Ich habe Sachen abgelehnt, die vielleicht gut waren, die ich später auch schätzen gelernt habe. Aber in dem Moment war ich dann doch so orientiert, daß ich gesagt habe, was unter der Zensur veröffentlicht wird, das kann nicht gut sein. Ich strafe mich sozusagen selbst Lügen, indem ich dann ein eigenes Buch in dieser Situation gemacht habe.

Viktor Kalinke: Die Umstände des Bücherverlegens zu DDR-Zeiten mit Gutachten und Zensur, bei der ja nicht vordergründig auf die literarische Qualität geachtet wurde, sondern auf politische Gesichtspunkte, sind mittlerweile historisch. Du sagst selbst, daß nur die Hälfte deiner Texte von Aufbau für diesen Band angenommen wurde. Einmal abgesehen von dieser tendenziösen Auswahl: Wie beurteilst du jetzt, mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten, dein Debüt? Hat „Mit der Sanduhr am Gürtel“ für dich noch Gültigkeit oder ist das für dich ein Erstlingswerk, das verflossen ist?

Thomas Böhme: Es hat auf jeden Fall biographischen Wert. Schon aus dem Grund, weil ich darin auch viele meiner damaligen Freunde porträtiert habe. Gemeinsame Erlebnisse, Partys – Events würde man heute sagen – also so spontane Aktionen, Theater spielen und so etwas. Sich Freiräume erarbeiten, Grenzen überschreiten, provozieren. Das war, glaube ich, eine ganz wichtige Erfahrung für mich. Wie weit kann man gehen in einem System, das eigentlich nicht zulassen darf oder das eigentlich nicht darauf angelegt ist, Pluralismus zu vertreten. Und ich habe damals noch eine Erfahrung gemacht, daß Texte, die aus einer kommunistischen oder den Sozialismus verteidigenden Position kamen, es oft viel schwerer hatten, weil sie mit dem realen Sozialismus in der DDR in Kollision gerieten. Ich hatte aber in meinen Gedichten diesen Diskurs verweigert und somit bin ich in so eine Art Niemandsland hineingestoßen, in dem die Zensoren oder die obwaltenden Mächte nicht das fanden, was sie rot ankreuzen konnten. Das war wahrscheinlich auch für den Verlag und erst Recht für die Hauptverwaltung Kultur mit Höpcke Neuland. Da hat man sicher gedacht, das kann man drucken, das lesen sowieso nur ein paar Spinner, Sandalenträger und Rucksacktouristen.

Viktor Kalinke: Ich hatte den Eindruck, daß Aufbau noch mit dir als Autor gerechnet hat. Wenn die DDR und der alte Aufbauverlag noch weiter existiert hätten, wäre das Publizieren doch ohne weiteres möglich gewesen. Ich schätze mal, daß es nicht bei den ersten drei Gedichtbänden geblieben wäre.

Thomas Böhme: Es sind ja sogar zwei weitere Bände in der Wendezeit erschienen, die aber beide noch in der DDR lektoriert wurden, unter anderem auch der Roman „Einübung der Innenspur“, der das experimentelle Schreiben auch zum Thema macht. Wie der Titel schon sagt, ist es eine Reise nach innen, die sehr viel mit innerem Monolog arbeitet, mit fiktiven Handlungen, die dann vielfach gebrochen werden durch Ironisierung, durch Parodie. In diesem Roman ist z.B. eine George-Parodie enthalten, Gedichte auf den Kindkaiser Elagabal. Man weiß ja aus der Literaturgeschichte, daß es von George einen frühen Gedichtband gibt, „Algabal“, oder Teil eines Gedichtbandes, ein Zyklus, der sich genau mit diesem Kindkaiser auf eine mythisch verklärende Weise beschäftigt. Das nehme ich zum Anlaß, um dann z.B. in dem Roman eigene Gedichte, die sich auch mit diesem Kindkaiser beschäftigen, einzufügen. Oder ich nehme z.B. aus den „Falschmünzern“ Passagen und verwandle sie ihm dann als Ich-Erzähler dieses Romans an.

Viktor Kalinke: Die sind dann Anfang der 1990er Jahre erschienen?

Thomas Böhme: Ja, es war genau 1990. Und 1991 erschien dann der Gedichtband „ich trinke dein plasma november“, der für mich auch den Höhepunkt des Formalistischen bedeutet. Das sind alles zwölfzeilige Gedichte. Viele sind auch streng gebaut, rhythmisch und metrisch sehr genau gearbeitet und es ist auch ein bißchen Spiel dabei, ein bißchen … Symbolismus wäre vielleicht das Stichwort.

Viktor Kalinke: Wenn ich deine Veröffentlichungen zurückverfolge, dann kommt ja, so scheint es zumindest, bei dir die Prosa nach der Lyrik und danach die Fotografie. Beim Lesen deiner Bücher fiel mir auf, daß die Prosa oft magischer und mythischer ist, während deine Lyrik die Dinge konkret anspricht. Das war für mich ganz überraschend, auch bei „Dämmerung mit Dingen“. Da wird viel mehr angedeutet und in der Schwebe belassen als in vielen Gedichten, die sich genauer auf die Realität beziehen. In welchem Verhältnis stehen für dich Prosa und Lyrik?

Thomas Böhme: Ja, warum das so ist, warum auf dich die Prosatexte so anders wirken als die Gedichte, weiß ich selber nicht. Es ist mir auch noch nicht aufgefallen, das ist kein bewußter Akt, obwohl ich sicher anders an einen Roman oder eine Erzählung herangehe als an ein Gedicht. Aber vielleicht ist Prosa für mich immer noch ein Experimentierfeld, denn es fällt mir schwer eine Geschichte so hintereinanderweg und so detailversessen zu erzählen. Es passiert dann, daß ich mich auf Details stürze, die mit der Handlung eigentlich nichts zu tun haben, und dann fange ich an Miniaturgeschichten in einer längeren Prosa herauszuarbeiten. Es hat auch sehr viel mit Spaß an der Sache zu tun. Und dann ist da immer auch der Blick auf die Figuren wie auf einer Bühne. Der extremste Fall wäre, daß die Konstellation in einem Roman einer Art Marionettentheater entspricht. Man hat die Figuren an Fäden und kann sie so oder so bewegen und kann auch deutlich machen, daß das in den Händen des Autors liegt, daß der hier die Regie führt und dem Leser suggeriert, daß da wirklich etwas Reales passiert. Ich weiß nicht wie man das beschreiben soll. Es ist ja auch keine Erfindung von mir, es ist nicht unbedingt etwas ganz neues und der Begriff moderne Literatur oder überhaupt Moderne ist ja auch nur ein Hilfskonstrukt.

Viktor Kalinke: Was hat dich gereizt, Prosa zu schreiben und dir noch eine andere Fläche, ein anderes Feld, außerhalb der Lyrik, zu suchen? Du hast ja weiterhin Lyrik geschrieben. Manche Autoren schließen dann mit der Lyrik völlig ab und verfassen z.B. ab ihrem dreißigsten Lebensjahr kein einziges Gedicht mehr. Das ist bei dir nicht der Fall.

Thomas Böhme: Ich nehme an, daß es Dinge gab, die ich nicht in Gedichten unterbringen konnte, bei denen ich nicht wußte, wie man die in einem Gedicht sagen kann, eigentlich auch das verständliche Bedürfnis, einmal eine Sache etwas breiter und ausführlicher zu verfolgen. Denn gerade der erste Roman enthält noch sehr viele lyrische Passagen. Manchmal geht es direkt von einer Erzählhaltung in eine Art lyrisches Sprechen über. Und auch bei dem nachfolgenden Roman, „Geruch des Gastes“, gibt es noch sehr viele lyrische Passagen. So hat sich das nebeneinanderher weiterentwickelt. Wir haben ja auch zusammen ein Buch gemacht, „Die Schwarzen Archen“. Da sind die dichtesten Texte fast Prosagedichte. Dann gibt es wieder Erzählerisches, aber vielleicht eher surreal märchenhaft. Es hat mich nie so sehr interessiert Alltagsgeschichten zu schreiben.

Viktor Kalinke: In deiner Prosa kommen surreale Beschreibungen und Geschichten vor. Gibt es darin Dinge, die man wiedererkennen kann und die für dich den Anlaß gegeben haben, darüber zu schreiben? Wo hat deine Phantasie ihren Ausgangspunkt genommen? Zum Beispiel bei „Museum der Blitze“. Suchst du Gegebenheiten in der Realität, nimmst du da Dinge auf, die für dich inspirierend sind?

Thomas Böhme: Es ist eher so, ich suche sie nicht, sondern ich finde sie oder sie finden mich. Und im konkreten Fall war das der Bahnhof von Kulkwitz, der heute zu einem Wohnhaus umgebaut worden und nicht wieder zu erkennen ist. Aber damals war er noch genau so wie ich ihn beschrieben habe, mit einer Uhr, der die Zifferblätter fehlten und der man in die Mechanik hineinblicken konnte. Wenn ich unterwegs bin, schaue ich natürlich immer. Es fallen mir immer Sachen auf, die dann vielleicht einmal als literarischer Ort auftauchen, z. B. der Museumsbahnhof, Lindenauer Hafen, ein Palazzo in Venedig oder die Insel … ich komme jetzt nicht auf den Namen. Egal, jedenfalls eine von den ganz kleinen Inseln, wo wirklich nur ein paar Häuser und ein paar schöne Brücken sind. Unterwegs zu sein, wie gesagt, nicht mit Laptop oder Notizbuch, sondern mit offenen Augen, ist für mich ganz wichtig, und natürlich mit dem Fotoapparat, der ist dann eine Art Tagebuch.

Viktor Kalinke: Da möchte ich gleich mit einer Frage anschließen. Wann hast du begonnen zu fotografieren?

Thomas Böhme: Ich habe eigentlich schon sehr zeitig angefangen zu fotografieren, aber den wirklich subjektiven Blick, durch den man mir dann auch Fotos zuordnen kann, habe ich erst in den 1990er Jahren entwickelt. Das hat sich so allmählich ergeben, wobei meine Neigungen immer in zwei Richtungen gingen, zum einen das Portrait und zum anderen Objekte, meistens verfallene und ihrer eigentlichen Bestimmung entfremdete Gegenstände, zu denen ich dann eine fast intime Beziehung entwickelt habe, irgendein Holzstapel oder eine Eisentür oder ein zerbrochenes Fenster.

Viktor Kalinke: Wie würdest du die Verbindung zwischen deinem fotografischen Blick - also nicht zwischen den einzelnen Fotografien, denn Fotografie ist ja nicht objektiv, sondern durch den Fokus eine hochsubjektive Sache -und deinem Schreiben sehen? Es gibt von Schopenhauer diese schöne Bemerkung, daß jeder sprachliche Ausdruck letzten Endes auf ein Bild zurückführt. Wenn das Bild fehlt, ist der Text hohl. Wie ist für dich die Beziehung zum Bild?

Thomas Böhme: Ich kann mich da nur wiederholen, es hat etwas mit Sinnlichkeit zu tun. Ein für mich gelungenes Gedicht ist etwas Greifbares, etwas mit den Sinnen Erfahrbares und dasselbe trifft auf die Fotografie zu. Es muß schon ein Gegenstand oder eine Person sein, zu der ich ein sinnliches Verhältnis habe, damit ich davon fasziniert bin. Und ich glaube, das ist auch genau die Schnittstelle zwischen Lyrik oder auch allgemein Literatur und Fotografie.

Viktor Kalinke: Werden manche Fotografien auch zum Anlaß oder zu einer Stütze beim Schreiben? Du sagtest, daß du manchmal unterwegs bist und etwas fotografierst. Wenn du irgendwann das Foto wieder siehst, löst das für dich etwas beim Schreiben aus?

Thomas Böhme: Ja, mitunter schon. Wobei das dann nie eine realistische Bildbeschreibung ist. Aber so einzelne Elemente eines Fotos oder ein bestimmtes Gesicht, das kann mich zum Schreiben animieren. Ob das dann eins zu eins wieder zuerkennen ist, das kann ich nicht beurteilen. Aber es würde mir etwas fehlen, wenn ich das nicht hätte, also wenn ich diese Bilder nicht hätte, dann würde mir ein wesentliches Handwerkszeug fehlen, auch zum Schreiben. Das muß man aber nicht viel weiter vertiefen.

Viktor Kalinke: Vielleicht noch einmal ein Blick zurück. Für viele Prosaautoren scheint das Autobiographische eine große Rolle zu spielen. Die eigene Biographie als Steinbruch, der geplündert wird, oder als Tagebau, aus dem das Material herkommt und dann ein bißchen verfremdet wird, mehr oder weniger. Mittlerweile gibt es bei etlichen Autoren schon Klagen, da sich andere wiedererkennen und genötigt fühlen, dagegen einzuschreiten. In jüngster Zeit, glaube ich, ist das bei Alban Nicolai Herbst passiert. Gleichzeitig hört man immer wieder von den Autoren selbst, daß sie sich gegen solch eine Gleichsetzung des Geschriebenen mit dem Gelebten wehren. Wie siehst du in deinen Texten den Zusammenhang zu deiner Biographie? Bilden sie einen engen Zusammenhang oder sind eher etwas Losgelöstes?

Thomas Böhme: Der Zusammenhang ist vielleicht der, daß ich im Schreiben sehr oft die Wunschbiographie in den Vordergrund stelle. Also, daß ich Personen beschreibe, die so leben wie ich vielleicht hätte leben können, wenn ich außerhalb von gesellschaftlichen Zwängen aufgewachsen wäre. Ich spiele dann schon einige Varianten durch. Da ist, glaube ich, ein sehr weites Feld der Möglichkeiten gegeben. Wir haben uns über Pessoa unterhalten bzw. du hast auch ein Buch über Pessoa herausgebracht, Texte von Pessoa, der diese Heteronyme für sich erfunden hat. Ähnlich sehe ich das bei mir, daß jede literarische Figur im Grunde ein Heteronym von Thomas Böhme ist und daß ich eben auch Phantasien in literarischen Geschichten auslebe. Zum anderen bin ich im Moment auch an einem Punkt, an dem ich sehr intensiv die eigene Kindheit plündere, zum Teil fiktiv, doch es sind natürlich auch biografische Widererkennungseffekte da. Man kann Orte zuordnen und Personen wiedererkennen, aber nicht eins zu eins, so daß ich eine Klage fürchten müßte. Da bin ich auch schon aus Lust am Spielerischen bemüht, die nicht eins zu eins wiederzugeben, sondern sie nach meinen Bildern zurechtzubiegen. Und es gibt ja auch synthetische Figuren, die Eigenschaften oder Aussehen von mehreren in sich vereinen. Genau das macht mir auch richtig Spaß, eine Person zu erfinden wie am Computer, wo man ein Foto verfremdet und dann ein Mischgesicht aus mehreren bekommt. So sind diese Personen oftmals mit Eigenschaften von ganz verschiedenen Menschen behaftet, sozusagen in eine neue, nur auf dem Papier existierende Gestalt verschmolzen.

Viktor Kalinke: Das Handwerkliche will ich gar nicht vertiefen. Du sagtest, daß du zur Zeit dabei bist, deine eigene Kindheit zu plündern. Was mir in den neueren, in den letzten Jahren erschienenen Büchern, sowohl bei den Fotografien als auch bei Gedichten und auch den Prosastücken, auffällt, ist die Pubertät. Das Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren ist ein Thema, das dich immer wieder beschäftigt. Was ist für dich an diesem Alter so faszinierend?

Thomas Böhme: Das ist natürlich erst einmal eine rein ästhetische Angelegenheit, daß ich im Heranwachsen viel Interessantes und so Reizvolles entdecke, was ich bei mir, als ich so alt war, nicht wahrnehmen konnte, weil es einfach diese Sicht auf sich selbst in dem Alter nicht gibt. Und eines ist mir wichtig zu zeigen, daß der Junge, der ich gewesen bin oder der ich sein wollte und der ich vielleicht im Inneren immer noch bin, Gestalt bekommen muß. So sind manche dieser jungen Gestalten, die in meinen Texten vorkommen auch ein Stück Wunschbiographie, auch ein Stück Auseinandersetzung mit einer Zeit, über die man eigentlich erst reflektiert, wenn man sie hinter sich gelassen hat, wenn man sie weit hinter sich gelassen hat. Zum anderen mache ich das, gerade wenn ich Jungen fotografiere, um dann auch genau diesen Effekt zu erzeugen, ihnen zu zeigen, wer sie sind. Ich mache solche Portraits nicht nur oder bemühe mich, die nicht nur im Vorbeigehen zu machen, sondern ich versuche dann auch denjenigen, der sich hinter dem Portrait verbirgt, kennenzulernen. Dann kann man Fotos auch zeigen und sagen, sieh mal, so bist du oder so präsentierst du dich. Oftmals wissen die gar nicht, wie sie auf andere wirken oder sind sich unsicher. Es macht mir Spaß über das Bild die Persönlichkeit ein Stück mitzuformen oder auch zu begleiten.

Viktor Kalinke: Das ist so ein Stückchen sozialpädagogischer Anteil an der Porträtfotografie, wenn man so will.

Thomas Böhme: Ja, ohne gesellschaftlichen Auftrag.

Viktor Kalinke: Hat aus deiner Sicht der Dichter in der Gesellschaft noch eine Bedeutung? Spielt er eine Rolle in unserer Gesellschaft? Wenn ja, welche? Und wenn nein, wie soll er sie wiedererlangen oder soll er sie gar nicht zurück bekommen? In DDR-Zeiten war das keine Frage, da wurde sie künstlich geschaffen durch eine Überbewertung des Wortes, des gesprochenen Wortes.

Thomas Böhme: Nun, ich glaube, jeder Schriftsteller ist Chronist seiner Zeit. Und ob er in der Gegenwart so wahrgenommen wird und so wirken kann wie er es möchte, ist heute oftmals eine Glückssache und hat mit vielen Zufällen zu tun, z.B. in welchem Verlag das Buch erscheint, ob es beworben wird, ob es in die Bestsellerlisten kommt und so weiter. Ich will ja nicht sagen, daß alles, was in den Bestsellerlisten landet, schlecht ist. Da sind auch gute Sachen dabei. Das sind dann, glaube ich, auch glückliche Umstände, wenn ein Schriftsteller das Lebensgefühl seiner Zeit so wiedergibt, daß sich viele darin erkennen können, daß das ein Stück weit angenommen wird. Die Konkurrenz anderer Medien ist allerdings mittlerweile viel größer als sie das im 19. oder 20. Jahrhundert gewesen ist, als sie es überhaupt jemals in der Geschichte der Menschheit gewesen ist. Wobei auch die Literatur nicht immer die Funktion hatte, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert gegeben war. Die Konkurrenz der Unterhaltungsindustrie ist immens und viele kulturelle Events sind nur darauf ausgerichtet, daß die Leute Geld ausgeben und daß sie sich amüsieren. Es ist ja nichts dagegen einzuwenden, auch eine Reihe von Schriftstellern nutzen diese Möglichkeiten oder schwimmen auf dieser Welle mit und es ist ja nicht schlecht, wenn ein Roman auch unterhält. Ich habe vorhin Simenon erwähnt und er war ein Unterhaltungsschriftsteller, aber ein guter. Wenn diese Synthese funktioniert, dann ist das okay. Aber ein Schriftsteller, der seine Sache ernst nimmt, wird sich nicht irgendwelchen Trends unterwerfen, wird auch schreiben, wenn er nur ein oder zwei Leser hat. Es gibt diesen bekannten Aphorismus von Arno Schmidt: „Wenn man zwei Leser hat ist es gut, und wenn es mehr werden, dann muß man irgend etwas falsch gemacht haben.“ Ich kann das jetzt nur aus dem Gedächtnis zitieren. Da ist vielleicht was dran und man sollte sich nicht von Verkaufszahlen beirren lassen, daß Harry Potter in Millionenauflagen über die Buchtheken geht und daß man selber froh ist, wenn man seine hundert Exemplare unter die Leute gebracht hat. Aber ich glaube, letzten Endes ist das nicht wichtig. Es ist insofern wichtig, daß ein Autor davon leben muß. Die meisten wären natürlich glücklich, wenn sie ihre Bücher mindestens so gut verkaufen könnten, daß sie am Ende ein bißchen Geld dafür kriegen und nicht nur dafür bezahlen müssen. Ich, für mich selber, würde die Frage so beantworten, ich kann nur das was ich kann. Ich könnte keinen Unterhaltungsroman schreiben, ich kann auch nichts für das Fernsehen machen. Ich wäre völlig überfordert, wenn ich z.B. einen Vertrag bekäme und für hunderttausend Euro ein paar Folgen Lindenstraße schreiben müßte. Kann ich nicht und gut. Dann geht das eben nicht. Ich freu ich mich dann eben, wenn z.B. zu einer Lesung von Erzählungen aus „Dämmerung mit Dingen“ fünfzehn interessierte Zuhörer kommen und hinterher zwei oder drei sagen, das war richtig toll, was du da gemacht hast. Das genügt mir. Es ist, glaube ich, auch eine Frage wie sicher man sich seiner selbst ist. Ist man überzeugt das richtige zu machen oder ist man immer nur damit beschäftigt, irgendwelchen Moden oder dem Geschmack irgendeines fiktiven Publikums hinterher zu hecheln. Prozentual gesehen lesen ja ohnehin nur zwei bis zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, mal sehr optimistisch gesehen. Die einen werden diese zehn Prozent erreichen und die anderen nur viel weniger. Minderheiten lesen und Mehrheiten lesen nicht, so einfach ist das.

Viktor Kalinke: Du publizierst in den letzten Jahren vorrangig in Klein- und Kleinstverlagen, so auch bei uns. Was war für dich mit dieser Entscheidung verbunden? Viele Autoren warten ab und schreiben Bittgesuche an die Konzernverlage oder beauftragen einen Agenten, um den Kontakt herzustellen. Manchen gelingt das auch, vor allem wenn sie vom Deutschen Literaturinstitut kommen, allerdings aus dem heutigen Literaturinstitut, nicht aus dem damaligen. Was hat dich zu der Entscheidung bewogen, dich auf kleine Verlage einzulassen?

Thomas Böhme: Vielleicht erst einmal eine gewisse Faulheit. Ich habe keine Lust ein Manuskript in dreißigfacher Ausführung breit zu streuen, an Verlage zu schicken, bei denen ich zu 99,9 Prozent weiß, daß das nicht einmal gelesen wird. Irgendwann braucht jeder ein Erfolgserlebnis und für mich ist ein gedrucktes Buch ein Erfolg, auch wenn der Verlag noch so klein ist. Ich sagte ja schon, daß ich ergebnisorientiert arbeite und mich an einem fertigen Text erfreue. Und noch mehr freue ich mich natürlich, wenn aus diesem fertigen Text ein vorzeigbares Buch wird. Ich rechne vielleicht blauäugigerweise damit, daß es so etwas wie ein Gedächtnis der Menschheit gibt, in das ein geschriebenes Werk irgendwie eingeht. Es gibt ja die Deutsche Bücherei, wo diese Sachen liegen. Irgendwann kann man dann auch eine Bibliographie zeigen und sagen, ich habe die und die Sachen geschrieben und sie sind dort und dort zu sehen, zu lesen. Es ist vielleicht auch so, daß ich mich bei den Verlagen, in denen ich vorrangig publiziert habe, in einem Umfeld befunden habe, das mir sympathisch ist – wenn ich deinen Verlag jetzt nicht nenne, dann deshalb, weil erst ein Buch erschienen ist. In den letzten Jahren waren das vor allem Galrev und die Eremiten-Presse. Bei den Galrev-Autoren, von denen ein Großteil aus der Literaturszene des Prenzlauer Bergs hervorgegangen ist, sind viele dabei, die ich als Literaten sehr schätze, die in meinen Augen moderne Dichtung geschrieben haben, z. B. Ulrich Zieger. Die Eremiten-Presse – die sind ja nun schon seit sechzig Jahren im Geschäft – ist für mich immer noch so ein Verlag, der auch Entdeckungen macht. Detlev Meyer ist z.B. bei den Eremiten erschienen und auch ein Autor, den ich schätze, oder auch Christa Reinig, eine für mich ganz wichtige Lyrikerin, die aber kaum jemand kennt. Ich glaube, daß es für mich schon wichtig ist, welche anderen Autoren noch im Verlag präsent sind und ob es da einen gewissen Anspruch gibt oder ob die einfach alles drucken. Also, bei Galrev oder Eremiten wird es nie passieren, daß die Memoiren eines Schlagerstars oder Fußballers erscheinen, um damit das literarische Programm zu finanzieren. Die machen ihre Sachen egal wie kommerziell sie laufen oder auch nicht.

Viktor Kalinke: Eine letzte Frage.

Thomas Böhme: Jetzt wird es aber ein bißchen üppig. Du hast schon zweimal die zwei letzten Fragen angekündigt. [lacht]

Viktor Kalinke: Stimmt. Wirklich die allerletzte. Was erwartest du oder hast du von Kritik oder Literaturkritik erwartet? Wovon bist du enttäuscht oder vielleicht auch überrascht, positiv überrascht, als du Reaktionen auf deine Bücher erlebt hast?

Thomas Böhme: Im Grunde erwarte ich, daß Literaturkritik überhaupt stattfindet. Das ist bei meinen Büchern nicht selbstverständlich gewesen. So sind einige Sachen erschienen, zu denen so gut wie gar keine Literaturkritik, keine Rezensionen geschrieben wurden. Kritik ist es ja meistens nicht, es sind meistens nur Inhaltsbeschreibungen und Hinweise, und ich freue mich oft schon, wenn überhaupt auf mein Buch aufmerksam gemacht wird. Überraschend war es, als Anfang der 1980er Jahre „Mit der Sanduhr am Gürtel“, was bei Aufbau in der DDR erschienen war, plötzlich in der FAZ recht euphorisch und mit einem gewissen augenzwinkernden Wohlwollen zur Kenntnis genommen wurde. Das zweite Mal war dann in den 1990er Jahren. Der im Thomverlag erschienene Roman „Geruch des Gastes“ – den Thomverlag gibt es ja auch nicht mehr, das war auch ein Kleinstverlag in Leipzig – wurde zur Leipziger Buchmesse in der ZEIT besprochen. Das fand ich sehr beachtlich und habe im Stillen gehofft, daß das in dem Sinne weitergehen würde, also daß auch die nächsten Bücher wieder überregional besprochen werden, nicht nur in der LVZ oder der Neuen Deutschland. Aber das ist leider nicht so gekommen, da kann man eigentlich nur hoffen und …

Viktor Kalinke: … an das Gedächtnis der Menschheit denken …

Thomas Böhme: Was Zeitungskritik wahrscheinlich kaum leisten kann, ist, daß tatsächlich sichtbar mehr Exemplare verkauft werden. Solch ein Zusammenhang ist kaum zu erkennen.

Viktor Kalinke: Bei FAZ-Artikeln soll das der Fall sein.

Thomas Böhme: Ja, es ist auch so, daß z.B. nach den Artikeln in der ZEIT der Deutschlandfunk ein Portrait mit mir gemacht hat. Daraufhin brachten auch einige andere Zeitungen kurze Besprechungen, was mir einige Lesungen außerhalb von Leipzig ermöglichte.

Viktor Kalinke: Die Kritik scheint ja auch nach dem biblischen Prinzip zu funktionieren „Wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, der kriegt auch nichts.“

Thomas Böhme: So ist es.

Viktor Kalinke: Und bevor im Deutschlandfunk etwas rezensiert wird, sollte es schon einmal in der FAZ, in der ZEIT usw. besprochen worden sein, sonst wissen die gar nichts davon. Das ist natürlich ein sehr hoher Anspruch, wenn man überlegt, daß die Rezensenten aus anderen Lesegewohnheiten herstammen, anders sozialisiert sind. Da scheint der Horizont noch immer in Helmstedt zu enden.

Thomas Böhme: Kann man so sagen. Und noch etwas, was ich nicht begreife bzw. wo ich auch ein ungutes Gefühl habe. Wenn z.B. im Literarischen Quartett ein Buch besprochen wurde oder wenn heute Elke Heidenreich mal kurz ein Buch in die Kamera hält, dann hat das einen so unheimlichen Effekt. Aber das ist mir eher unangenehm, weil ich mir dann denke, wie blöd sind die Leute eigentlich. Sie lassen sich da auf irgend etwas ein, was jemand mal kurz ins Bild gehalten hat. Es funktioniert genau wie Werbung, bei der mal das Logo von einem Produkt auftaucht und plötzlich wird es gekauft und keiner weiß wieso. Aber das hat ja mit dem Text selbst nichts zu tun und mit dem Autor nur insofern als er vielleicht noch fotogen oder telegen ist, vielleicht in irgendeiner Talkshow sitzt. Das alles ist mir aber nicht widerfahren und ich bin deshalb nicht verbittert. Also, ich ärgere mich, daß es so ist, aber ich möchte nicht tauschen. Manchmal ist es mir auch lieber, daß ich in Ruhe meine Sachen machen kann und mich nicht im Fokus der Öffentlichkeit fühle. Das kann einen auch unheimlich hemmen, bis hin zum völligen Schreibverlust. Ich weiß, daß z.B. Wolfgang Hilbig enorm unter dem Druck leidet, der auf ihm lastet. Einfach aus dem Grund, weil er Vorverträge hat, die er einhalten muß und eine bestimmte Erwartungshaltung im Verlag und beim Publikum existiert. So etwas würde mich wahrscheinlich in den Wahnsinn treiben.

Viktor Kalinke: Vielen Dank.