





Kuncius, Herkus: Ornament
Roman. Aus dem Litauischen von Mala Vikaite
Herkus Kuncius ist ein lustvoller Provokateur gegen litauische / literarische Konventionen. Er nutzt in seiner Prosa die Mittel der Parodie und Negation, bedient sich freizügig am kulturellen Fundus der Welt. Für manche ist er ein Vergewaltiger, für andere der radikalste Erneuerer der litauischen Literatur, der die christliche Kultur ihres Sinns entwertet und entleert, der Zweifel weckt an der kommunikativen Macht der Literatur überhaupt.
Herkus Kun?ius: geb. 1965 in Vilnius (Litauen), studierte Kunstgeschichte und -theorie an der Kunstakademie Vilnius, 2000 Teilnehmer am Literaturexpress, wurde mehrfach für seine Prosa und Theaterstücke ausgezeichnet, lebt in Vilnius
"Mala Vikaite's German version of Herkus Kuncius' novel "Ornament" is so good that readers can truly appreciate and savour the author's conceptualist humour." Claudia Sinnig (The Vilnius Review)
Leseprobe:
Die Wahrheit verbirgt sich irgendwo im Jenseits
In Lissabon sind es 16 Grad plus, bei uns – genau das Gegenteil. Immer ist es so. Warum nur? Ich bin wieder dabei, ein Bernsteinsouvenir anzufertigen. Diesmal einen eindrucksvollen Glücksleuchtturm, der das Bücher- oder Weinregal eines Intellektuellen zieren könnte.
Als ich auf die Spitze des Leuchtturms einen Strahl aus Bernsteinsplittern setze, klingelt das Telefon. Das ist Dora. Dora! Endlich! Der Strahl fällt herunter. Ich bin nervös. Sie spricht ziemlich aufgeregt. Ganz unerwartet schlägt sie vor, sich zu treffen. Es ist dringend. Ich stottere etwas von Bergen oder dem Meer, wo wir zu zweit sein könnten. Sie unterbricht mich jedoch, daß es sich um eine ernste Angelegenheit handelt, und sie für Witze nicht aufgelegt ist. Ich stimme ihr zu, daß alles in diesem Leben sehr ernst ist, aber Dora läßt sich auf kein Gespräch ein und sagt, daß sie mich bei sich in der Zahnklinik erwartet. Wann? Sofort. Jetzt gleich. Sie wartet bereits.
Schnell mache ich mich fertig. Ich bin etwas erregt und rasiere mir deshalb die Achselhöhlen. Beim ersten Rendezvous will ich möglichst elegant erscheinen und suche mir ein weißes Hemd und eine Krawatte, an die ich einen Bernstein stecke – ein Geschenk meines Bernsteinlehrers für die künstlerischste Darstellung der Kreuzigungsszene aus Bernstein. Fertig? Nichts vergessen? Der Hosenstall ist zugeknöpft, Portemonnaie in der Tasche, Zigaretten, Feuerzeug etc. Soll ich Blumen kaufen? Oder lieber nicht?
„Darf ich vorstellen? Das ist mein Mann, Mistislaw Rostropowitsch“, empfängt mich Dora kalt, kaum daß ich die Zahnklinik betrete, mit einem Kasten Konfekt und einer Flasche Sekt in der Aktentasche.
Ich bin überrascht.
„Angenehm, sehr angenehm“, überfällt mich mit ausgestreckter Hand Professor Rostropowitsch, der, wie mir scheint, dem legendären Swjatoslaw Richter verblüffend ähnlich ist.
Ich verstehe, daß all die Aufregung und das Sichfeinmachen umsonst waren. Das ist betrüblich. Das tut weh. Die Krawatte fängt an, mir den Hals abzuschnüren. Ich stelle die Aktentasche auf den Boden.
„Mein Mann, Professor Mistislaw Rostropowitsch, hat sein gesamtes aktives Leben der Untersuchung von Zahnbelägen gewidmet“, stellt Dora ihren Mann vor, der, meiner Meinung nach, diese Frau nicht verdient hat. „Seine Arbeiten sind in den angesehensten stomatologischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Professor Mistislaw ist mehrfach ausgezeichnet worden. Auf seine Forschungen greifen die NASA und andere seriöse Organisationen zurück. Seinen Empfehlungen folgen der CIA, die UNO und das Europaparlament. Der Professor hat bereits Vorlesungen an der Columbia University, in Cambridge und Yale gehalten. 2000 ist er zum Mann des Jahres gewählt worden.“
„Es ist nicht zu fassen, einfach ein Wunder.“ Rostropowitsch schüttelt meine Hand, ohne sie loslassen zu wollen.
Ich verstehe nicht, woher diese Euphorie rührt, möchte jedoch höflich bleiben, lächle und versuche unwillkürlich, Blickkontakt zu Dora aufzunehmen. Sie bemerkt aber meine Hilflosigkeit gar nicht. Natürlich steht sie auf Mistislaw Rostropowitschs Seite.
„Gerade hat mir Dora die Aufnahme von Ihren Zähnen und dann die Proben gezeigt. Ich habe sofort ein Treffen mit Ihnen verlangt“, bestürmt mich der Professor, in dessen Augen ein Anflug von Wahnsinn liegt. „Das ist eine Revolution in der Stomatologie. Die Bergbaulehrbücher können wir wegwerfen. Das wird die Wissenschaft grundlegend ändern. Das wird sogar das Mendelejewsche Periodensystem verändern.“
Ich nicke. Nicke wieder. Und bereue, daß ich Konfekt und Sekt gekauft habe. Nicht um das Geld ist es mir schade, sondern um die vertane Chance eines Tête-à-tête. Eine sehr unangenehme Situation.
„Vertrödeln wir keine Zeit.“ Der Professor wird plötzlich geschäftig. „Setzen Sie sich auf den Stuhl und machen Sie den Mund weit auf. Ich brenne vor Ungeduld. Ich möchte es mit eigenen Augen sehen. Ich will es ...“
Ich verstehe, daß ich von Dora keine moralische Unterstützung zu erwarten habe. Sie schaut nicht einmal in meine Richtung.
„Machen Sie den Mund auf, weit auf. Worauf warten Sie noch“, sagt der Professor, und ehe ich mich besinne, stopft er mir Watte in den Mund.
„Das Licht hierher, hierher“, kommandiert er Dora.
Ein Lichtstrahl schlägt mir ins Gesicht. Ich sitze wie gebannt auf dem Zahnarztstuhl. Ich bin niedergeschlagen. Äußerst angespannt. Ich merke, wie der Professor mit einem Haken etwas von meinem Zahn entfernt, dann von dem nächsten usw. Ich sehe, wie er vorsichtig mit der Pinzette den entfernten Belag herausholt und ihn interessiert im Licht betrachtet.
„Nein, wirklich, Irrtum ausgeschlossen. Alles stimmt. Alles!“
„Ich habe es Ihnen doch gesagt, Mistislaw“, redet Dora auf den Professor ein. „Ich sagte doch, daß es sich hier um einen außergewöhnlichen Fall handelt.“
„Phänomenal. Ein Wunder“, wiederholt sich der Professor und beginnt, wieder mit Hingabe zwischen meinen Zähnen herumzufuhrwerken.
Und diesmal verspüre ich keine Schmerzen. Ganz im Gegenteil, nach jeder Zahnsteinentfernung wird mir leichter zumute. Ich fühle mich, wie von etwas Schwerem, einem irgendwie nichtzutrennenden Teil meines Körpers befreit.
„Doktor Freidheim“, wendet sich Professor Rostropowitsch an seine assistierende Frau. „stecken Sie den Belag in unsere Speziallösung.“
„Gleich?“
„Sofort.“
Dora taucht meinen Zahnstein in eine vorbereitete Lösung. Es kommt zu einer Reaktion, bei der Dampf und ein unangenehmer Geruch entstehen. Ich versuche, nicht zu atmen. Ich beobachte alles von meinem Stuhl aus und traue mich nicht aufzustehen. Konzentriert wartet Professor Rostropowitsch, ohne seine Augen von dem Glas abzuwenden, in dem eine mir unverständliche Reaktion abläuft. Jetzt zieht er mit der Pinzette einen glitzernden Stein heraus, von dem ein Lichtstrahl ausgeht und mich direkt in der Pupille trifft. Ich muß blinzeln.
„Was denken Sie, Doktor Freidheim, zu welcher Gruppe gehört er?“ erkundigt sich der Professor kollegial bei Dora.
„Es könnte vielleicht ...“
Dora nimmt vorsichtig mit den Fingern mein von der Pinzette zusammengedrückten Zahnbelag, besser gesagt, das, was von ihm in der Lösung übriggeblieben ist, und geht zum Fenster. Als sie im Licht, das durch das Fenster fällt, stehenbleibt, kann ich mich ein weiteres Mal davon überzeugen, daß sie unter dem weißen Arztkittel nichts trägt. Vor Erregung läuft mir ein Schauer über den Rücken. Ich bin ganz aufgewühlt. Noch eine Sekunde, und ich kann mich nicht mehr beherrschen ...
„Schauen Sie mal, Professor.“ Dora zieht mit meinen Zahnsteinresten eine Linie im Glas. „Sehen Sie?“
„Die Medizingeschichte kennt bisher keinen Fall dieser Art“, murmelt Professor Rostropowitsch und hält sich das Glas zur Begutachtung unter die Nase.
„Ich glaube, daß ist ein Mineral der Korundgruppe.“
„Der Korundgruppe?!“ ruft vor Erstaunen der Professor und klatscht mir mit der Hand auf die Schulter.
„Noch kann ich nicht genau sagen, ob es ein Rubin, ein Saphir oder ein Sternrubin ist, aber es ist ein Edelstein, mindestens Härte 9.“
„Edelstein?“ wundere ich mich. „Woher soll denn hier ein Edelstein kommen? Edelstein ...“
„Ja, Edelstein, mein Junge“, spricht Professor Mistislaw Rostropowitsch väterlich nachsichtig zu mir. „Und nicht nur ein Edelstein hält sich in Ihrem Mund verborgen. Das ist eine organische Edelsteingrube, die in Zukunft nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen Probleme des Landes lösen könnte.“
„Darf ich mal sehen?“
„Bitte sehr.“
Ich sehe mir die verschiedenfarbigen Minerale an und kann nicht glauben, daß ich sie wie ein passionierter Gärtner in meinem Mund gezüchtet haben soll. In meinem Mund! Unbegreiflich.
„Das“, erklärt mir Dora, „ist wahrscheinlich ein Saphir. Sehen Sie, er ist blau und klar und gehört deshalb zur Gruppe der natürlichen Saphire. Und das ist bestimmt ein Rubin, denn er ist durchsichtig rot. Oh, wie interessant, ich erkenne auch einen echten Korund. Echte Korunde sind immer farblos.“
„Wovon ernähren Sie sich, junger Freund?“ unterbricht Professor Rostropowitsch Dora.
„Na ja“, überlege ich, „ich esse alles: Fleisch, Gemüse, Obst. Manchmal mache ich mir Buchweizen oder Grießbrei. Wenn ich es eilig habe, esse ich Wurst und Käse.“
„Mögen Sie Reis? Hammelfleisch?“
„Nicht besonders.“
„Und welches Fleisch schmeckt Ihnen am besten?“ fragt der Professor ohne Unterlaß weiter.
„Schweinefleisch mag ich. Und Fisch.“
„Also kein Vegetarier?“
„Professor“, unterbricht Dora ihren Mann, „sehen Sie sich nur dieses Exemplar an. Hier!“
Dora holt mit der Pinzette noch ein Zahnsteinmineral aus der Lösung, ohne ihre Verzückung zu verstecken. Ich versuche, in ihrem Blick eine Spur Habgier zu entdecken, kann jedoch darin nur das wissenschaftliche Interesse einer Zahnärztin finden. In der Pinzette steckt ein korkengroßer Stein, bei dem sich rote, rosa und blaue Farbschichten abwechseln.
„Das ist ein polychromer Korund“, jauchzt Professor Rostropowitsch unbeherrscht auf. „Er ist sehr selten. Ein polychromer Korund!“
„Sehen Sie sich das mal genauer an, Professor“, rät ihm Dora. „Schauen Sie weiter unten.“
Der Professor nimmt die Pinzette mit dem Mineral, hebt sie hoch wie der Priester bei der Messe die Monstranz. Ich möchte so gerne die Funde meines Mundes aus der Nähe betrachten, doch Mistislaw Rostropowitsch drängt meinen Körper regelrecht an den Rand des Arztzimmers. Ich könnte natürlich mit ihm um das Recht auf Raum kämpfen, aber er ist dreimal älter als ich. Andererseits, all diese Korunde, Rubine, Saphire gehören doch letztlich mir!
„Doktor Freidheim, wollen Sie etwa damit sagen, daß dies ein Sternrubin ist?“ will der Professor wissen.
„Davon bin ich überzeugt. Ein echter Sternrubin.“ Dora läßt keinen Zweifel aufkommen. „Sehen Sie, wie im Inneren ein sechszackiger Stern funkelt? Sehen Sie den Stern?“
„Ich sehe ihn, ich sehe den sechszackigen Stern“, wiederholt der Professor und ist einer Ohnmacht nahe.
Ich drehe mich um. In mir steigt der Verdacht auf, daß beide im nächsten Moment verrückt werden könnten. Schrecklich, plötzlich mitten unter Irren zu sein. Darauf war ich nicht gefaßt. Man muß handeln, denn so wie Dora und auch ihr Mann Professor Rostropowitsch den Sternenkorund mit den Augen geradezu verschlingen, könnten sie sich jeden Moment daran verschlucken.
„Sollten wir dies nicht feiern?“ schlage ich ängstlich vor.
„Was glauben Sie, Doktor Freidheim, wieviel Karat könnte der haben?“
„Mindestens zehn.“
„Sollten wir dies nicht feiern?“ wiederhole ich etwas lauter.
„Was?“ Professor Rostropowitsch kommt plötzlich wieder zu sich.
„Es gibt einen Anlaß. Sollten wir ihn nicht feiern?“
„Unbedingt!“ kreischt Dora, wie aus Somnabulie erwacht. „Ich habe Spiritus.“
„Den Spiritus brauchen wir nicht“, sage ich und hole aus der Aktentasche die Flasche Sekt und den Kasten Konfekt.
Spiel ohne Trumph. Die Rachen-Mission
Und so ging es weiter ...
Nachdem der Sekt alle, und man zum Spiritus übergegangen war, veränderte sich auch der Inhalt der Gespräche. Professor Rostropowitsch begann auf einmal von irgendeiner stomatologischen Stiftung zu faseln, die meine Edelsteingrube finanzieren könnte. Er sprach viel und emotional über Zahnärzte, die im Alter verarmt wären, und über ganz einfache Leute, die Unterstützung brauchten. Ich dachte nach. Trank einen zweiten Schluck Spiritus, zündete eine Zigarette an und begann plötzlich zu widersprechen, denn in diesem Moment erschien es mir wichtiger, die Grundlagenforschung von Religionen zu finanzieren. Ich stellte mir Labors, Exkursionen und haufenweise Monographien über Islamismus, Buddhismus vor. Dora, die mit dem Atheismus sympathisierte, lehnte meine Idee ab. Sie meinte, dies wäre Angelegenheit der Geistlichkeit und nicht der Weltlichkeit, die sinnvollere Aufgaben erfüllen sollte. Voll Eifer sprach sie von neuen Technologien, der Informationsgesellschaft, Ökoprodukten, vom Flugwesen, dem Ballett usw. Um die Idee nicht zu vergessen, trank ich ein paar Schluck Spiritus, obwohl ich nicht an der Reihe war. Es war guter Spiritus – kein technischer. Nach dem zweiten Schluck hörte ich Professor Mistislaw Rostropowitsch von Amsterdam erzählen, wo es sehr viele Kanäle gibt. Dora fragte, was für Kanäle, aber der Professor hörte sie nicht. Er habe in Amsterdam viele Kollegen, die sich uneigennützig unserem (er sagte: unserem) Edelsteingeschäft annehmen würden. Angeblich lebt und arbeitet dort auch sein sehr guter Freund, der Dissident Arkadi Aniskin, der zu Beginn der 70er Jahre emigriert ist. Dieser, so der Professor, wäre gerne bereit, die Edelsteine in Umlauf zu bringen und bei verschiedenen Fragen behilflich zu sein. Dann begann er sich auszumalen, wie ich die rohen und noch nicht aus dem Gestein gelösten Edelsteine in meinem Mund fördern könnte, die später befreundete Juweliere, denen er wie sich selbst vertraue, veredeln würden. Ich erkundigte mich nach Arkadi Aniskin, Professor Rostropowitsch aber beteuerte, daß er den nicht kenne. Ich begann an der Logik und dem Gedächtnis des Professors zu zweifeln, und sagte deshalb nach einem weiteren Schluck Spiritus, daß ich nie Kurier sein könnte und außerdem Angst vor dem Fliegen habe. Dora stimmte mir zu. Ich sei für so eine Sache absolut nicht geeignet und würde mich verraten, geschnappt werden und dann in einem geheimen CIA-Labor den Rest meines Lebens isoliert verbringen.
Rostropowitsch, der bei der Spiritusvernichtung ebenfalls nicht zurückhaltend war und schon etliche Zigaretten geraucht hatte, sagte, daß es sich lohnen würde, über eine Zahnarztpraxis direkt in Amsterdam nachzudenken, wo sich viele Möglichkeiten bieten. Er sah schon die Inneneinrichtung der Praxis, sprach viel von den Patienten, dem Blick aus dem Fenster, Seeleuten, Prostituierten etc. Dora war auch ganz aufgekratzt und bekannte, daß sie schon immer davon geträumt hätte, in einem liberalen Land, wo die Arbeit eines Spezialisten noch zählt, zu leben.
Hier gingen meine Nerven durch, und ich behauptete kategorisch, nur dort leben zu können, wo das Meer Bernstein anschwemmt. Außerdem fügte ich hinzu, daß ich nicht ohne meine geliebte Arbeit – die Bernsteinbearbeitung – existieren kann. Ja, das sagte ich: Bernsteinbearbeitung. Da fielen beide über mich her und machten mich fertig. Sie wollten mir weismachen, daß, wenn wir aus meinem Mund genügend Edelsteine erhielten, das Meer von alleine Bernstein heranspüle. Ich verstand nicht recht und bat deshalb, den Satz noch einmal zu wiederholen. Sie wiederholten: du wirst reich sein und wenn du es wünscht, spült das Meer alles an, was du nur willst – Bernstein und viele Mädels. Ich war gekränkt und sagte, daß ich mich niemals mit solchen Dingen befassen würde, wieviel Tonnen Bernstein auch der Ozean mir bieten würde. Rostropowitsch korrigierte, daß Amsterdam nicht am Ozean liegt. Ich sagte, daß es mir piepegal wäre, selbst wenn es an einem See oder Teich liegt, ich würde trotzdem dort nicht wohnen wollen, denn meine Wurzeln sind hier.
Da verstummten beide. Eine unangenehme Stille machte sich breit. Dora beendete das Schweigen. Sie sagte, daß wir zwar Vertreter verschiedener Nationalitäten wären, aber untereinander gut miteinander auskämen, und keiner dem anderen etwas vorzuwerfen hätte. Ich fragte nach, an was sie bei dem Wort vorwerfen denken würde. Rostropowitsch erklärte: er sei ein orthodoxer Russe, Dora eine deutsche Protestantin und ich ein katholischer Litauer, und wir alle hätten voreinander nichts zu verbergen. Pure Eintracht. Ich trank vom Spiritus und äußerte den Verdacht, daß man mich betrügt, doch Dora beteuerte, daß sie wirklich eine Deutsche sei – Dora Freidheim. Rostropowitsch schlug sich gegen die Brust und rief: Ich bin Russe. Ich bin Russe! Er versuchte sogar einige Male, in die Hocke zu gehen, wie es in russischen Volkstänzen üblich ist, konnte aber das Gleichgewicht nicht halten und fiel hin. Er war anscheinend unverletzt geblieben. In diesem Moment begann bei mir alles zu verschwimmen. Dora und ich halfen ihm wieder auf die Beine, und ich fragte höflich nach dem Vatersnamen des Professors. Mistislaw bekannte stolz: Benjaminowitsch. Daraufhin beschloß ich, dieses Thema nicht weiter auszuwalzen, und schlug vor zu trinken. Wir tranken.
Wir leerten wieder die Gläser. Dann gedachten wir kurz des Holocausts. Uns war traurig zumute. Die Stimmung wurde noch erhabener. Da erwähnte Dora ein kleines Problem: die Sprechstundenhilfe Anja, die aus einfachen Verhältnissen stammte. Diese hatte anscheinend den aus meinem Mund geförderten Saphir gesehen und könnte sich jetzt verplappern oder sogar eine Anzeige erstatten, und das würde alle unsere Pläne zerschlagen. Ich erschrak. Und begann Anja noch mehr zu hassen, nachdem ich mich erinnerte, wie unfreundlich sie zu mir gewesen war.
Da bewies Professor Rostropowitsch den nur Russen innewohnenden eisernen Willen und schlug vor, sie umzubringen. Ich fand diese Idee anziehend und durchaus sinnvoll. Ich dachte an Kyrill und Method, die mich schon einige Male auf eindrucksvolle Weise besucht hatten. Ich könnte (über Bekannte) mit ihnen Kontakt aufnehmen. Sie würden für eine bestimmte Summe die uns störende Anja beseitigen. Dora gefiel der Vorschlag. Sie ließ mich feierlich schwören, Wort zu halten.
Ich schwor und versprach, daß wir uns bald zu Anjas üppigem Leichenschmaus treffen würden. Darauf stießen wir an und leerten die Gläser. Professor Rostropowitsch wurde es schlecht. Dora und ich hielten ihn über das Spuckbecken, der Professor kotzte. Nachdem er gekotzt hatte, wurde er ein ganz anderer Mensch und schlug uns verschiedene Namen für die zu gründende Firma vor: Leerer Sarg, Das Herz des Borkenkäfers, Kurzer Abriß der Geschichte der USA, Interview mit einem Vampir usw. Mir gefiel keiner davon und deshalb sagte ich, daß der beste Name Gintaras* Bernstein und Partner oder Gintaras Bernstein und Co. sei. Dora und Rostropowitsch widersetzten sich. Sträubten sich. Zeigten sich gekränkt. Argwöhnisch schauten sie mich an. Zwei gegen einen. Offenbar wollten sie, daß auch ihre Namen genannt werden. Diese Ehrgeizlinge. Rostropowitsch sagte, daß man mit Freunden so nicht umgehen darf, gestikulierte und drohte sogar, auszusteigen und sich nicht an dem Geschäft der neugegründeten Aktiengesellschaft zu beteiligen. Ich konnte ihn davon abhalten. Redete beruhigend auf ihn ein und setzte ihn auf den ehrenvollsten Platz im Sprechzimmer – auf den Zahnarztstuhl. Dann tranken wir wieder etwas, und Dora schlug den Namen BerRosFrei vor. Ich sagte, daß dieser Namen nicht richtig sei, und mit einer Lüge, die ich einem Verbrechen gleichsetze, sollte man kein Geschäft beginnen, wie edel es auch sein mag. Ich erklärte, daß die Grube mir gehört, daß ich der Eigentümer bin, daß ich mich gekränkt fühle. Außerdem, fügte ich hinzu, verstehe ich nicht, warum von mir nur drei Buchstaben, von Dora aber vier enthalten sind. Außerdem sind sie eine Familie. Rostropowitsch und Dora wollten meine Argumente nicht gelten lassen. Dora holte den Äther hervor, ich roch daran und stimmte augenblicklich ihrem Vorschlag zu.
Von diesem Augenblick an hieß unsere Firma BerRosFrei. Aus gegebenem Anlaß schnüffelten wir zu dritt an Doras Äther und tranken Spiritus. Professor Rostropowitsch wurde wieder schlecht und Mistislaw Benjaminowitsch bekleckerte sich, doch das konnte mich nicht davon abhalten, mit ihm Brüderschaft zu trinken. Wir umarmten uns wie alte Freunde, und später wurde ich feierlich aufgefordert, neben dem Professor im Zahnarztstuhl Platz zu nehmen. Ich weiß nicht, wer auf die Idee kam, unsere Schwänze zu vergleichen, ich erinnere mich aber an Dora Freidheims Urteilsverkündigung: gleich groß. Dann begann sich alles sehr schnell zu drehen. Wie durch Nebel erinnere ich mich, Dora bekniet zu haben, den Bohrer einzuschalten. Sie lachte, denn sie war ebenfalls ausgelassen fröhlich, besonders als ich dem schon schlummernden Professor Rostropowitsch den rotierenden Bohrer in den Mund steckte. Was dann passierte – ich erinnere mich an nichts mehr ...
Herkus Kuncius ist ein lustvoller Provokateur gegen litauische / literarische Konventionen. Er nutzt in seiner Prosa die Mittel der Parodie und Negation, bedient sich freizügig am kulturellen Fundus der Welt. Für manche ist er ein Vergewaltiger, für andere der radikalste Erneuerer der litauischen Literatur, der die christliche Kultur ihres Sinns entwertet und entleert, der Zweifel weckt an der kommunikativen Macht der Literatur überhaupt.
Herkus Kun?ius: geb. 1965 in Vilnius (Litauen), studierte Kunstgeschichte und -theorie an der Kunstakademie Vilnius, 2000 Teilnehmer am Literaturexpress, wurde mehrfach für seine Prosa und Theaterstücke ausgezeichnet, lebt in Vilnius
"Mala Vikaite's German version of Herkus Kuncius' novel "Ornament" is so good that readers can truly appreciate and savour the author's conceptualist humour." Claudia Sinnig (The Vilnius Review)
Leseprobe:
Die Wahrheit verbirgt sich irgendwo im Jenseits
In Lissabon sind es 16 Grad plus, bei uns – genau das Gegenteil. Immer ist es so. Warum nur? Ich bin wieder dabei, ein Bernsteinsouvenir anzufertigen. Diesmal einen eindrucksvollen Glücksleuchtturm, der das Bücher- oder Weinregal eines Intellektuellen zieren könnte.
Als ich auf die Spitze des Leuchtturms einen Strahl aus Bernsteinsplittern setze, klingelt das Telefon. Das ist Dora. Dora! Endlich! Der Strahl fällt herunter. Ich bin nervös. Sie spricht ziemlich aufgeregt. Ganz unerwartet schlägt sie vor, sich zu treffen. Es ist dringend. Ich stottere etwas von Bergen oder dem Meer, wo wir zu zweit sein könnten. Sie unterbricht mich jedoch, daß es sich um eine ernste Angelegenheit handelt, und sie für Witze nicht aufgelegt ist. Ich stimme ihr zu, daß alles in diesem Leben sehr ernst ist, aber Dora läßt sich auf kein Gespräch ein und sagt, daß sie mich bei sich in der Zahnklinik erwartet. Wann? Sofort. Jetzt gleich. Sie wartet bereits.
Schnell mache ich mich fertig. Ich bin etwas erregt und rasiere mir deshalb die Achselhöhlen. Beim ersten Rendezvous will ich möglichst elegant erscheinen und suche mir ein weißes Hemd und eine Krawatte, an die ich einen Bernstein stecke – ein Geschenk meines Bernsteinlehrers für die künstlerischste Darstellung der Kreuzigungsszene aus Bernstein. Fertig? Nichts vergessen? Der Hosenstall ist zugeknöpft, Portemonnaie in der Tasche, Zigaretten, Feuerzeug etc. Soll ich Blumen kaufen? Oder lieber nicht?
„Darf ich vorstellen? Das ist mein Mann, Mistislaw Rostropowitsch“, empfängt mich Dora kalt, kaum daß ich die Zahnklinik betrete, mit einem Kasten Konfekt und einer Flasche Sekt in der Aktentasche.
Ich bin überrascht.
„Angenehm, sehr angenehm“, überfällt mich mit ausgestreckter Hand Professor Rostropowitsch, der, wie mir scheint, dem legendären Swjatoslaw Richter verblüffend ähnlich ist.
Ich verstehe, daß all die Aufregung und das Sichfeinmachen umsonst waren. Das ist betrüblich. Das tut weh. Die Krawatte fängt an, mir den Hals abzuschnüren. Ich stelle die Aktentasche auf den Boden.
„Mein Mann, Professor Mistislaw Rostropowitsch, hat sein gesamtes aktives Leben der Untersuchung von Zahnbelägen gewidmet“, stellt Dora ihren Mann vor, der, meiner Meinung nach, diese Frau nicht verdient hat. „Seine Arbeiten sind in den angesehensten stomatologischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Professor Mistislaw ist mehrfach ausgezeichnet worden. Auf seine Forschungen greifen die NASA und andere seriöse Organisationen zurück. Seinen Empfehlungen folgen der CIA, die UNO und das Europaparlament. Der Professor hat bereits Vorlesungen an der Columbia University, in Cambridge und Yale gehalten. 2000 ist er zum Mann des Jahres gewählt worden.“
„Es ist nicht zu fassen, einfach ein Wunder.“ Rostropowitsch schüttelt meine Hand, ohne sie loslassen zu wollen.
Ich verstehe nicht, woher diese Euphorie rührt, möchte jedoch höflich bleiben, lächle und versuche unwillkürlich, Blickkontakt zu Dora aufzunehmen. Sie bemerkt aber meine Hilflosigkeit gar nicht. Natürlich steht sie auf Mistislaw Rostropowitschs Seite.
„Gerade hat mir Dora die Aufnahme von Ihren Zähnen und dann die Proben gezeigt. Ich habe sofort ein Treffen mit Ihnen verlangt“, bestürmt mich der Professor, in dessen Augen ein Anflug von Wahnsinn liegt. „Das ist eine Revolution in der Stomatologie. Die Bergbaulehrbücher können wir wegwerfen. Das wird die Wissenschaft grundlegend ändern. Das wird sogar das Mendelejewsche Periodensystem verändern.“
Ich nicke. Nicke wieder. Und bereue, daß ich Konfekt und Sekt gekauft habe. Nicht um das Geld ist es mir schade, sondern um die vertane Chance eines Tête-à-tête. Eine sehr unangenehme Situation.
„Vertrödeln wir keine Zeit.“ Der Professor wird plötzlich geschäftig. „Setzen Sie sich auf den Stuhl und machen Sie den Mund weit auf. Ich brenne vor Ungeduld. Ich möchte es mit eigenen Augen sehen. Ich will es ...“
Ich verstehe, daß ich von Dora keine moralische Unterstützung zu erwarten habe. Sie schaut nicht einmal in meine Richtung.
„Machen Sie den Mund auf, weit auf. Worauf warten Sie noch“, sagt der Professor, und ehe ich mich besinne, stopft er mir Watte in den Mund.
„Das Licht hierher, hierher“, kommandiert er Dora.
Ein Lichtstrahl schlägt mir ins Gesicht. Ich sitze wie gebannt auf dem Zahnarztstuhl. Ich bin niedergeschlagen. Äußerst angespannt. Ich merke, wie der Professor mit einem Haken etwas von meinem Zahn entfernt, dann von dem nächsten usw. Ich sehe, wie er vorsichtig mit der Pinzette den entfernten Belag herausholt und ihn interessiert im Licht betrachtet.
„Nein, wirklich, Irrtum ausgeschlossen. Alles stimmt. Alles!“
„Ich habe es Ihnen doch gesagt, Mistislaw“, redet Dora auf den Professor ein. „Ich sagte doch, daß es sich hier um einen außergewöhnlichen Fall handelt.“
„Phänomenal. Ein Wunder“, wiederholt sich der Professor und beginnt, wieder mit Hingabe zwischen meinen Zähnen herumzufuhrwerken.
Und diesmal verspüre ich keine Schmerzen. Ganz im Gegenteil, nach jeder Zahnsteinentfernung wird mir leichter zumute. Ich fühle mich, wie von etwas Schwerem, einem irgendwie nichtzutrennenden Teil meines Körpers befreit.
„Doktor Freidheim“, wendet sich Professor Rostropowitsch an seine assistierende Frau. „stecken Sie den Belag in unsere Speziallösung.“
„Gleich?“
„Sofort.“
Dora taucht meinen Zahnstein in eine vorbereitete Lösung. Es kommt zu einer Reaktion, bei der Dampf und ein unangenehmer Geruch entstehen. Ich versuche, nicht zu atmen. Ich beobachte alles von meinem Stuhl aus und traue mich nicht aufzustehen. Konzentriert wartet Professor Rostropowitsch, ohne seine Augen von dem Glas abzuwenden, in dem eine mir unverständliche Reaktion abläuft. Jetzt zieht er mit der Pinzette einen glitzernden Stein heraus, von dem ein Lichtstrahl ausgeht und mich direkt in der Pupille trifft. Ich muß blinzeln.
„Was denken Sie, Doktor Freidheim, zu welcher Gruppe gehört er?“ erkundigt sich der Professor kollegial bei Dora.
„Es könnte vielleicht ...“
Dora nimmt vorsichtig mit den Fingern mein von der Pinzette zusammengedrückten Zahnbelag, besser gesagt, das, was von ihm in der Lösung übriggeblieben ist, und geht zum Fenster. Als sie im Licht, das durch das Fenster fällt, stehenbleibt, kann ich mich ein weiteres Mal davon überzeugen, daß sie unter dem weißen Arztkittel nichts trägt. Vor Erregung läuft mir ein Schauer über den Rücken. Ich bin ganz aufgewühlt. Noch eine Sekunde, und ich kann mich nicht mehr beherrschen ...
„Schauen Sie mal, Professor.“ Dora zieht mit meinen Zahnsteinresten eine Linie im Glas. „Sehen Sie?“
„Die Medizingeschichte kennt bisher keinen Fall dieser Art“, murmelt Professor Rostropowitsch und hält sich das Glas zur Begutachtung unter die Nase.
„Ich glaube, daß ist ein Mineral der Korundgruppe.“
„Der Korundgruppe?!“ ruft vor Erstaunen der Professor und klatscht mir mit der Hand auf die Schulter.
„Noch kann ich nicht genau sagen, ob es ein Rubin, ein Saphir oder ein Sternrubin ist, aber es ist ein Edelstein, mindestens Härte 9.“
„Edelstein?“ wundere ich mich. „Woher soll denn hier ein Edelstein kommen? Edelstein ...“
„Ja, Edelstein, mein Junge“, spricht Professor Mistislaw Rostropowitsch väterlich nachsichtig zu mir. „Und nicht nur ein Edelstein hält sich in Ihrem Mund verborgen. Das ist eine organische Edelsteingrube, die in Zukunft nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen Probleme des Landes lösen könnte.“
„Darf ich mal sehen?“
„Bitte sehr.“
Ich sehe mir die verschiedenfarbigen Minerale an und kann nicht glauben, daß ich sie wie ein passionierter Gärtner in meinem Mund gezüchtet haben soll. In meinem Mund! Unbegreiflich.
„Das“, erklärt mir Dora, „ist wahrscheinlich ein Saphir. Sehen Sie, er ist blau und klar und gehört deshalb zur Gruppe der natürlichen Saphire. Und das ist bestimmt ein Rubin, denn er ist durchsichtig rot. Oh, wie interessant, ich erkenne auch einen echten Korund. Echte Korunde sind immer farblos.“
„Wovon ernähren Sie sich, junger Freund?“ unterbricht Professor Rostropowitsch Dora.
„Na ja“, überlege ich, „ich esse alles: Fleisch, Gemüse, Obst. Manchmal mache ich mir Buchweizen oder Grießbrei. Wenn ich es eilig habe, esse ich Wurst und Käse.“
„Mögen Sie Reis? Hammelfleisch?“
„Nicht besonders.“
„Und welches Fleisch schmeckt Ihnen am besten?“ fragt der Professor ohne Unterlaß weiter.
„Schweinefleisch mag ich. Und Fisch.“
„Also kein Vegetarier?“
„Professor“, unterbricht Dora ihren Mann, „sehen Sie sich nur dieses Exemplar an. Hier!“
Dora holt mit der Pinzette noch ein Zahnsteinmineral aus der Lösung, ohne ihre Verzückung zu verstecken. Ich versuche, in ihrem Blick eine Spur Habgier zu entdecken, kann jedoch darin nur das wissenschaftliche Interesse einer Zahnärztin finden. In der Pinzette steckt ein korkengroßer Stein, bei dem sich rote, rosa und blaue Farbschichten abwechseln.
„Das ist ein polychromer Korund“, jauchzt Professor Rostropowitsch unbeherrscht auf. „Er ist sehr selten. Ein polychromer Korund!“
„Sehen Sie sich das mal genauer an, Professor“, rät ihm Dora. „Schauen Sie weiter unten.“
Der Professor nimmt die Pinzette mit dem Mineral, hebt sie hoch wie der Priester bei der Messe die Monstranz. Ich möchte so gerne die Funde meines Mundes aus der Nähe betrachten, doch Mistislaw Rostropowitsch drängt meinen Körper regelrecht an den Rand des Arztzimmers. Ich könnte natürlich mit ihm um das Recht auf Raum kämpfen, aber er ist dreimal älter als ich. Andererseits, all diese Korunde, Rubine, Saphire gehören doch letztlich mir!
„Doktor Freidheim, wollen Sie etwa damit sagen, daß dies ein Sternrubin ist?“ will der Professor wissen.
„Davon bin ich überzeugt. Ein echter Sternrubin.“ Dora läßt keinen Zweifel aufkommen. „Sehen Sie, wie im Inneren ein sechszackiger Stern funkelt? Sehen Sie den Stern?“
„Ich sehe ihn, ich sehe den sechszackigen Stern“, wiederholt der Professor und ist einer Ohnmacht nahe.
Ich drehe mich um. In mir steigt der Verdacht auf, daß beide im nächsten Moment verrückt werden könnten. Schrecklich, plötzlich mitten unter Irren zu sein. Darauf war ich nicht gefaßt. Man muß handeln, denn so wie Dora und auch ihr Mann Professor Rostropowitsch den Sternenkorund mit den Augen geradezu verschlingen, könnten sie sich jeden Moment daran verschlucken.
„Sollten wir dies nicht feiern?“ schlage ich ängstlich vor.
„Was glauben Sie, Doktor Freidheim, wieviel Karat könnte der haben?“
„Mindestens zehn.“
„Sollten wir dies nicht feiern?“ wiederhole ich etwas lauter.
„Was?“ Professor Rostropowitsch kommt plötzlich wieder zu sich.
„Es gibt einen Anlaß. Sollten wir ihn nicht feiern?“
„Unbedingt!“ kreischt Dora, wie aus Somnabulie erwacht. „Ich habe Spiritus.“
„Den Spiritus brauchen wir nicht“, sage ich und hole aus der Aktentasche die Flasche Sekt und den Kasten Konfekt.
Spiel ohne Trumph. Die Rachen-Mission
Und so ging es weiter ...
Nachdem der Sekt alle, und man zum Spiritus übergegangen war, veränderte sich auch der Inhalt der Gespräche. Professor Rostropowitsch begann auf einmal von irgendeiner stomatologischen Stiftung zu faseln, die meine Edelsteingrube finanzieren könnte. Er sprach viel und emotional über Zahnärzte, die im Alter verarmt wären, und über ganz einfache Leute, die Unterstützung brauchten. Ich dachte nach. Trank einen zweiten Schluck Spiritus, zündete eine Zigarette an und begann plötzlich zu widersprechen, denn in diesem Moment erschien es mir wichtiger, die Grundlagenforschung von Religionen zu finanzieren. Ich stellte mir Labors, Exkursionen und haufenweise Monographien über Islamismus, Buddhismus vor. Dora, die mit dem Atheismus sympathisierte, lehnte meine Idee ab. Sie meinte, dies wäre Angelegenheit der Geistlichkeit und nicht der Weltlichkeit, die sinnvollere Aufgaben erfüllen sollte. Voll Eifer sprach sie von neuen Technologien, der Informationsgesellschaft, Ökoprodukten, vom Flugwesen, dem Ballett usw. Um die Idee nicht zu vergessen, trank ich ein paar Schluck Spiritus, obwohl ich nicht an der Reihe war. Es war guter Spiritus – kein technischer. Nach dem zweiten Schluck hörte ich Professor Mistislaw Rostropowitsch von Amsterdam erzählen, wo es sehr viele Kanäle gibt. Dora fragte, was für Kanäle, aber der Professor hörte sie nicht. Er habe in Amsterdam viele Kollegen, die sich uneigennützig unserem (er sagte: unserem) Edelsteingeschäft annehmen würden. Angeblich lebt und arbeitet dort auch sein sehr guter Freund, der Dissident Arkadi Aniskin, der zu Beginn der 70er Jahre emigriert ist. Dieser, so der Professor, wäre gerne bereit, die Edelsteine in Umlauf zu bringen und bei verschiedenen Fragen behilflich zu sein. Dann begann er sich auszumalen, wie ich die rohen und noch nicht aus dem Gestein gelösten Edelsteine in meinem Mund fördern könnte, die später befreundete Juweliere, denen er wie sich selbst vertraue, veredeln würden. Ich erkundigte mich nach Arkadi Aniskin, Professor Rostropowitsch aber beteuerte, daß er den nicht kenne. Ich begann an der Logik und dem Gedächtnis des Professors zu zweifeln, und sagte deshalb nach einem weiteren Schluck Spiritus, daß ich nie Kurier sein könnte und außerdem Angst vor dem Fliegen habe. Dora stimmte mir zu. Ich sei für so eine Sache absolut nicht geeignet und würde mich verraten, geschnappt werden und dann in einem geheimen CIA-Labor den Rest meines Lebens isoliert verbringen.
Rostropowitsch, der bei der Spiritusvernichtung ebenfalls nicht zurückhaltend war und schon etliche Zigaretten geraucht hatte, sagte, daß es sich lohnen würde, über eine Zahnarztpraxis direkt in Amsterdam nachzudenken, wo sich viele Möglichkeiten bieten. Er sah schon die Inneneinrichtung der Praxis, sprach viel von den Patienten, dem Blick aus dem Fenster, Seeleuten, Prostituierten etc. Dora war auch ganz aufgekratzt und bekannte, daß sie schon immer davon geträumt hätte, in einem liberalen Land, wo die Arbeit eines Spezialisten noch zählt, zu leben.
Hier gingen meine Nerven durch, und ich behauptete kategorisch, nur dort leben zu können, wo das Meer Bernstein anschwemmt. Außerdem fügte ich hinzu, daß ich nicht ohne meine geliebte Arbeit – die Bernsteinbearbeitung – existieren kann. Ja, das sagte ich: Bernsteinbearbeitung. Da fielen beide über mich her und machten mich fertig. Sie wollten mir weismachen, daß, wenn wir aus meinem Mund genügend Edelsteine erhielten, das Meer von alleine Bernstein heranspüle. Ich verstand nicht recht und bat deshalb, den Satz noch einmal zu wiederholen. Sie wiederholten: du wirst reich sein und wenn du es wünscht, spült das Meer alles an, was du nur willst – Bernstein und viele Mädels. Ich war gekränkt und sagte, daß ich mich niemals mit solchen Dingen befassen würde, wieviel Tonnen Bernstein auch der Ozean mir bieten würde. Rostropowitsch korrigierte, daß Amsterdam nicht am Ozean liegt. Ich sagte, daß es mir piepegal wäre, selbst wenn es an einem See oder Teich liegt, ich würde trotzdem dort nicht wohnen wollen, denn meine Wurzeln sind hier.
Da verstummten beide. Eine unangenehme Stille machte sich breit. Dora beendete das Schweigen. Sie sagte, daß wir zwar Vertreter verschiedener Nationalitäten wären, aber untereinander gut miteinander auskämen, und keiner dem anderen etwas vorzuwerfen hätte. Ich fragte nach, an was sie bei dem Wort vorwerfen denken würde. Rostropowitsch erklärte: er sei ein orthodoxer Russe, Dora eine deutsche Protestantin und ich ein katholischer Litauer, und wir alle hätten voreinander nichts zu verbergen. Pure Eintracht. Ich trank vom Spiritus und äußerte den Verdacht, daß man mich betrügt, doch Dora beteuerte, daß sie wirklich eine Deutsche sei – Dora Freidheim. Rostropowitsch schlug sich gegen die Brust und rief: Ich bin Russe. Ich bin Russe! Er versuchte sogar einige Male, in die Hocke zu gehen, wie es in russischen Volkstänzen üblich ist, konnte aber das Gleichgewicht nicht halten und fiel hin. Er war anscheinend unverletzt geblieben. In diesem Moment begann bei mir alles zu verschwimmen. Dora und ich halfen ihm wieder auf die Beine, und ich fragte höflich nach dem Vatersnamen des Professors. Mistislaw bekannte stolz: Benjaminowitsch. Daraufhin beschloß ich, dieses Thema nicht weiter auszuwalzen, und schlug vor zu trinken. Wir tranken.
Wir leerten wieder die Gläser. Dann gedachten wir kurz des Holocausts. Uns war traurig zumute. Die Stimmung wurde noch erhabener. Da erwähnte Dora ein kleines Problem: die Sprechstundenhilfe Anja, die aus einfachen Verhältnissen stammte. Diese hatte anscheinend den aus meinem Mund geförderten Saphir gesehen und könnte sich jetzt verplappern oder sogar eine Anzeige erstatten, und das würde alle unsere Pläne zerschlagen. Ich erschrak. Und begann Anja noch mehr zu hassen, nachdem ich mich erinnerte, wie unfreundlich sie zu mir gewesen war.
Da bewies Professor Rostropowitsch den nur Russen innewohnenden eisernen Willen und schlug vor, sie umzubringen. Ich fand diese Idee anziehend und durchaus sinnvoll. Ich dachte an Kyrill und Method, die mich schon einige Male auf eindrucksvolle Weise besucht hatten. Ich könnte (über Bekannte) mit ihnen Kontakt aufnehmen. Sie würden für eine bestimmte Summe die uns störende Anja beseitigen. Dora gefiel der Vorschlag. Sie ließ mich feierlich schwören, Wort zu halten.
Ich schwor und versprach, daß wir uns bald zu Anjas üppigem Leichenschmaus treffen würden. Darauf stießen wir an und leerten die Gläser. Professor Rostropowitsch wurde es schlecht. Dora und ich hielten ihn über das Spuckbecken, der Professor kotzte. Nachdem er gekotzt hatte, wurde er ein ganz anderer Mensch und schlug uns verschiedene Namen für die zu gründende Firma vor: Leerer Sarg, Das Herz des Borkenkäfers, Kurzer Abriß der Geschichte der USA, Interview mit einem Vampir usw. Mir gefiel keiner davon und deshalb sagte ich, daß der beste Name Gintaras* Bernstein und Partner oder Gintaras Bernstein und Co. sei. Dora und Rostropowitsch widersetzten sich. Sträubten sich. Zeigten sich gekränkt. Argwöhnisch schauten sie mich an. Zwei gegen einen. Offenbar wollten sie, daß auch ihre Namen genannt werden. Diese Ehrgeizlinge. Rostropowitsch sagte, daß man mit Freunden so nicht umgehen darf, gestikulierte und drohte sogar, auszusteigen und sich nicht an dem Geschäft der neugegründeten Aktiengesellschaft zu beteiligen. Ich konnte ihn davon abhalten. Redete beruhigend auf ihn ein und setzte ihn auf den ehrenvollsten Platz im Sprechzimmer – auf den Zahnarztstuhl. Dann tranken wir wieder etwas, und Dora schlug den Namen BerRosFrei vor. Ich sagte, daß dieser Namen nicht richtig sei, und mit einer Lüge, die ich einem Verbrechen gleichsetze, sollte man kein Geschäft beginnen, wie edel es auch sein mag. Ich erklärte, daß die Grube mir gehört, daß ich der Eigentümer bin, daß ich mich gekränkt fühle. Außerdem, fügte ich hinzu, verstehe ich nicht, warum von mir nur drei Buchstaben, von Dora aber vier enthalten sind. Außerdem sind sie eine Familie. Rostropowitsch und Dora wollten meine Argumente nicht gelten lassen. Dora holte den Äther hervor, ich roch daran und stimmte augenblicklich ihrem Vorschlag zu.
Von diesem Augenblick an hieß unsere Firma BerRosFrei. Aus gegebenem Anlaß schnüffelten wir zu dritt an Doras Äther und tranken Spiritus. Professor Rostropowitsch wurde wieder schlecht und Mistislaw Benjaminowitsch bekleckerte sich, doch das konnte mich nicht davon abhalten, mit ihm Brüderschaft zu trinken. Wir umarmten uns wie alte Freunde, und später wurde ich feierlich aufgefordert, neben dem Professor im Zahnarztstuhl Platz zu nehmen. Ich weiß nicht, wer auf die Idee kam, unsere Schwänze zu vergleichen, ich erinnere mich aber an Dora Freidheims Urteilsverkündigung: gleich groß. Dann begann sich alles sehr schnell zu drehen. Wie durch Nebel erinnere ich mich, Dora bekniet zu haben, den Bohrer einzuschalten. Sie lachte, denn sie war ebenfalls ausgelassen fröhlich, besonders als ich dem schon schlummernden Professor Rostropowitsch den rotierenden Bohrer in den Mund steckte. Was dann passierte – ich erinnere mich an nichts mehr ...
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