INDONESIEN MATERIAL
gedichte & notate
Seit 2002 reiste Martin Jankowski immer wieder nach Indonesien, um den tropischen Archipel der 17 000 Inseln am Äquator zu erkunden: Nicht als Abenteuerer, Tourist oder Handlungsreisender, sondern als Lyriker. Von Sumatra bis Papua haben ihn seine poetischen Expeditionen geführt und es sind Hunderte Texte über Begegnungen mit Land, Leuten und Poesie entstanden. Erste Gedichte aus diesem Material erschienen in Magazinen und Anthologien, einige wurden in Indonesien, aber auch international rasch bekannt; bereits vor Jahren wurde in Indonesien selbst ein Buch veröffentlicht, das sehr erfolgreich war.
Jetzt, da Indonesien auch von der deutschen Literaturszene stärker wahrgenommen wird, ist es an der Zeit, dieses ungewöhnliche poetische Material auch deutschen Lesern zugänglich zu machen, mit dem sich erstmals ein deutscher Autor intensiv und mit verschiedensten lyrischen Mitteln diesem faszinierenden Thema nähert. Erstmals werden diese Gedichte, die zunächst in Indonesien und anderen Ländern erschienen und wahrgenommen wurde, nun als Buch auch im deutschen Sprachraum zugänglich gemacht.
Bei der Auswahl für den vorliegenden Band werden neben den bislang bekanntesten Texten auch etliche unveröffentlichte sowie einige bewusst in der Urform der lyrischen Reisetagebücher präsentierte Fassungen berücksichtigt. Die Texte bieten sowohl für Indonesienkenner als auch für Neueinsteiger in das Thema eine repräsentative Übersicht über das atemberaubend vielfältige Phänomen Indonesien. Ein kurzer Essay des Autors erläutert die Hintergründe an ausgewählten Beispielen.
Martin Jankowski: geb. 1965 in Greifswald, ist ein Berliner Poet und Schriftsteller, der in den 80ern als Sänger zur oppositionellen Leipziger Szene gehörte und von der Stasi mit "Zersetzungsmaßnahmen" bedacht wurde. Nach 1989 veröffentlichte er zahlreiche Songs, Gedichtbände, Kurzerzählungen, Essays und einen Roman. Seine Texte wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt und erhielten Auszeichnungen wie den Jahrespreis für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVLG 1998), das Alfred-Döblin-Stipendium der deutschen Akademie der Künste (2006) oder den Preis für das lyrische Lebenswerk (V.-Baum-Stiftung 2014). Jankowski ist regelmäßig bei internationalen Festivals und Universitäten zu Gast, leitet internationale Kulturprojekte und ist Gastgeber literarischer Salons. (www.martin-jankowski.de)
Von Martin Jankowski ist bereits im Leipziger Literaturverlag erschienen: "sekundenbuch".
Leseprobe:
Seit 2002 …
reiste ich, anfangs auf Einladung des indonesischen Dichters W.S. Rendra, vielfach durch den – drei biologische Zonen und vier Zeitzonen weiten – Inselstaat am Äquator. Ich lebte in Metropolen und Dschungeldörfern, sah Slums und Luxushotels, endlose Reisfelder, schmutzige Traumstrände und rauchende Vulkane. Ich traf ungewöhnliche Menschen und stieß auf Sprachen und Kulturen, von denen ich nie zuvor gehört hatte. Ich war begeistert, entsetzt und fasziniert – und fand Freunde fürs Leben. Statt Fotos zu machen, fotografierte ich, wenn es die Hitze zuließ, mit Worten. Ich trat mit indonesischen Dichtern und Musiker auf und durchreiste die Inseln am anderen Ende der Welt, indem ich meine Poesie mit der künsterlischen Praxis lokaler Kulturen verwob. Ich entdeckte eine kraftvolle poetische Alltagspraxis, die mein eigenes Schreiben und Leben beeinflusste. Aus meinen Reisetagebüchern extrahierte ich lyrische Texte, von denen etliche zunächst in Indonesien erschienen (übersetzt von Katrin Bandel und in indonesischer Nachdichtung von Dorothea Rosa Herliany) und dort zum literarischen Erfolg wurden: Zum ersten Mal erschien der Gedichtband eines deutschen Lyrikers im Original und zweisprachig in einem indonesischen Verlag. Inzwischen sind einige meiner indonesischen Gedichte zu dauerhaften literarischen Verbindungen zwischen den Welten geworden, sodass es an der Zeit scheint, einiges davon auch den Lesern in Deutschland vorzustellen. (Begriffserklärungen für Einsteiger hinten im Anhang.)
Martin Jankowski (Berlin)
Puisi dan Perlawatan…
Lyrik und Reise sind eng miteinander verbunden. Lyrik ist, weil sie frei und offen allem Unvermuteten gegenüber ist, selbst eine Reise, ein Abenteuer sogar, und manchmal ein Aufbegehren gegen Festgefahrenes. Ein lyrischer Prosatext von Amir Hamzah aus den 1930er Jahren weist auf diesen Zusammenhang hin: Er beschreibt die Reise an einen Ort, der „von allen heiligen Schriften der Welt verflucht wird“, aber er schert sich nicht um den Fluch: „du, mein Herz, hast deine eigenen Schriften“. Es erstaunt nicht, wenn aus einer Reise an einen ungewöhnlichen Ort reizvolle Lyrik entsteht. Die Gedichte von Sitor Situmorang über Paris in Surat Kertas Hijau sind ein Beispiel dafür. Obwohl die Titel (Sacré Coeur, Pont Neuf …) heute wie eine Aufzählung von Sehenswürdigkeiten anmuten, ist jedes Gedicht das Ergebnis einer Begegnung mit Gefühlen der Einsamkeit, der stillen Betrachtung, vielleicht auch der Verzückung – etwas ganz Normales bei einer Reise in ein fernes, fremdes Land.
Die Gedichte Martin Jankowskis stehen in dieser Tradition. Nur ist der Grundton hier nicht die Meditation, sondern der bezauberte, vielleicht gar ungläubig staunende Blick. Wie Sitors Gedichte sind auch die lyrischen Notizen Jankowskis kein Reisetagebuch. Jedes Gedicht wird aus dem Ereignis einer Begegnung geboren. So ist es auch bei diesen Gedichten, deren Übersetzung uns in Indonesien auch einen neuen Blick auf uns selbst ermöglichte: In allem Vertrauten ist etwas Fremdes, das wir selbst nicht erkennen können.
Goenawan Mohamad,
indonesischer Dichter, Verleger und Essayist (Jakarta)
“In Indonesia we have a bigger sky.”
(NIKMAH SARJONO)
Ankunft in Jakarta
in der ferne türme und brücken
einer vielversprechenden zivilisation
im zentrum ein steinerner phallus
auf einem endlosen platz
ohne menschen
unter autobahnpfeilern das leben
verwinkelte gassen und ströme
von menschen mit schmutzigen füßen
und sauberen hemden im rauch
die jungen kreuzungssteher
mit den schlechten zähnen
lächeln wenn wir gehorsam
kleingeld aus dem fenster werfen
und nirgendwo ein einziges becak
gelacht wird selten auf den oberen plätzen
aber geh in die winkligen stuben in einer ecke
unter bröckelnden mauern eine orchidee
ein glas javajasmintee aber nimm
die blauen taxis nicht die gelben
Permata Puri - im Haus des Dichters
für Nikmah und Agus
dies ist das wohnzimmer
hier das zimmer mit kühlung
hier steht sauberes trinkwasser
hier ist die terassem da können wir
sitzen des nachts und uns
erzählen
das dach für den schatten
die türen bleiben offen
die kammer zum waschen
hier sind tücher den schweiß zu trocknen
an der decke laufen die cicaks
und jagen moskitos
dies ist das lied des hausmädchens
dies sind die träume unserer kinder
hier die ideen von gestern und morgen
handgroß die schmetterlinge im garten
dies sind unsere nachmittagsgewitter
und dies die melodien der strassenhändler
im endlosen sommer von cimanggis
Universitätsbibliothek (Depok)
weiße lichtflut
überm campuspark
drin ist es kühl
studenten wimmeln
die klimaanlage erbarmt
sich keiner vermisst
etwas unten lokalzeitungen
oben comics gleich neben der
treppe hinten im dämmer die
bücherregale mit dem staub
aus der bauzeit des gebäudes
auf dunkelndem papier unberührt
hier trifft man sich
hier telefoniert man
schwatzt und blättert
in der zeitung
nelson unter kopfhörern
in der leeren leseecke