Roman
Der intime Briefroman
Verführung nimmt den Leser mit ins Innere moderner Beziehungsgeflechte. Wie lieben wir, wenn wir heute lieben? Welche Grenzen stellen sich immer noch oder wieder? Sind es die eigenen veralteten Ideale, die uns an der Freiheit hindern, sind es die Partner, die nicht fähig sind, fähig überhaupt – wozu? Sollte sich doch eigentlich das Begehren an jeder Ecke stillen lassen... In drei Kapiteln Verführung – Verweigerung – Schönes Wetter taucht Ines Groß in den Schmerz des Abgewiesenwerdens, sucht Wege und Auswege des Verstehens, sieht sich konfrontiert mit burnout, den Familienstrukturen von heute, Vor- und Nachteilen von Polyamorie und asynchronen gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklungen. Getrieben von ihrem Begehren versucht sie, Befriedigung nicht nur zu imaginieren, Reflexion und Erkenntnis sind ihre Begleiter. Vielstimmigkeit erlangt das authentische Protokoll einer Schreibkur durch die Einbeziehung von Gesprächen mit anderen. In schmalem Format ist ein Sittengemälde der Gegenwart entstanden, das von der offenen Poesie des romantischen Briefromans als Träger autobiographischer Tradition profitiert und Gedicht, Erzählung, Essay formal einschließt.
Ines Groß: wurde geboren wie andere auch und lebt in einer jener Großstädte. Sie studierte, versuchte zu arbeiten und tut dies hin und wieder. Ines Groß schreibt lediglich, „um sich von ihren Obsessionen zu befreien“. Verführung ist ihre erste Buchveröffentlichung.
"Die ersten Briefe sind wie Mitteilungen unter Kollegen und Kolleginnen. Die Atmosphäre wie in den 1950er Jahren. Sehr steif, sehr alkoholgeschwängert, sehr schlecht beleuchtet. Fast stellt man sich die Damen und Herren, die hier so nachdenklich umeinander herumturteln und mit ihrer Arbeit und ihrem Leben nicht so wirklich glücklich sind, im Bürodress dieser unkolorierten Zeit vor. Auch die Sprache tut ein übriges: distanziert, sehr analytisch." Ralf Julke
Leseprobe:
Verführung...
bedeutet einen Gong schlagen mit dem Kussklöppelchen...
Verführt wird der Körper zu einer größeren Freiheit, die ihm die Zweisamkeit verspricht, zwei Menschen sind mehr Welt als einer. Verführung öffnet ein Tor einen Spalt breit, man kann nicht hineingucken, man muss gehen.
In der Verführung herrscht oft auf einer Seite Kälte und Belustigung, auf der Seite des Opfers. Wird das Opfer heiß, kühlt es dem Verführer den Mut. Vielleicht zieht er sich zurück und lässt das Opfer angestochen verbluten, während es nach ihm ruft, ausgerechnet, als dem geeigneten Gift.
Mit der Verführung kommt das Konkrete auf, von dem ich noch nicht wusste. Als Idee ist sie mir bekannt – die Liebe – aber jetzt tritt sie an mich heran und will wissen, ob ich bereit bin. Ich bin es nicht. „Wie kommst du darauf?“ Ich bin besetzt. Die Idee rät, es trotzdem zuzulassen. Und warum, wenn ich es doch nicht will? Nein sage ich so lange, bis das Nichtwollen erlahmt. Nein sage ich nicht um Ja zu sagen, sondern um zu sagen: ich bin noch nicht bereit, ich brauche noch ein wenig. Warum gebe ich ein Versprechen ab? Warum folge ich überhaupt dem anderen, akzeptiere seinen Vortritt, suche mich hinterher zu ziehen? Ist das der richtige Weg, auf dem er ist, dass ich ihm folgen will? Richtig ist nur: da ist eine Kraft, die ein Sog wird, wenn ich mich nicht entferne. Ich kann mich nicht entfernen, ich lebe auch hier. Ich werde eingesogen werden und weiß es. Ich bin hellwach. Ich habe die ersten Gefühle für meinen Verführer, habe sie unter Kontrolle. Ich sage fortgesetzt Nein und weiß, jetzt ist er mir treu. Ich habe es nicht gewollt und stelle mir meine erste Konfusion, auch Empörung über seinen Sprung immer wieder vor, diesen unangemessenen Angang, der kaum Versuche enthielt, mich im Positiven zu gewinnen, durch Überschwang, Fröhlichkeit, Bewegung. Der Angang war wie aus schwerer Not geboren, von Schwermut genötigt der Mann, auch betrunken. Wie kann ich dich wollen, wenn du so bist? Wie könntest du sein? Wie du zuvor warst, vor dieser... Idee... hast du mir am besten gefallen! Dahin will ich zurück! Du hast dich in mir geirrt!
Warum kommt die Verführung dennoch zustande? Ich scheine einen Pakt mit dem Verführer geschlossen zu haben, in dem Moment, als eine Leichtigkeit – die, seinem Schwermut vorausfliegen zu können – mich zu einem kleinen Lippenspiel trieb. Es war nur die Freude, es war nicht die Lust, schon gar nicht an ihm, dem schweren, der Erhebung nicht fähigen. Ich aber erhob mich und flog auf seinem Antrag davon, wie ungeschickt und unpassend auch immer, der Flügel war für mich bestimmt.
Vielleicht kann man dies lange spielen, diesen Flug lange fliegen. Vielleicht kommt es nur darauf an, die Rollen nicht eine Situation lang umzukehren, dass niemals der Verführer das Opfer wird und das Opfer verführt.
Wie sieht die Verführung des Verführers durch das Opfer aus? Eine bloße Umkehrung ist nicht möglich. Und doch, es geschieht dem Verführer, dass er sich (vielleicht ist es Liebe) mit dem Opfer identifiziert, seine Weigerung sich einverleibt mehr als seinen Körper. Sagt die Weigerung doch ja! Es könnte sein! Daran glaubt der Verführer. Und so sagt er einmal, als das Opfer ihn einlädt wie zu einer Falle: Nein, besser nicht. Die Lage ist nicht sicher. Der Tag und die Stunde nicht günstig. ICH KANN NICHT! So spricht der Verführer. Und das Opfer? Es triumphiert, könnte man meinen? Mitnichten. Es denkt nun: ich lasse ihm Zeit. Wenn die Zeit dauert, wird es unwirsch und mit Recht, mit allem Recht eines Opfers: habe ich mich bis hierhin bewegt durch das fremde Tor, um auf dem Boden des anderen alleine zu stehen? So war es nicht abgemacht! Der Verführer hatte zugesagt, von Anfang an! Was soll das Opfer nun von sich denken, was stellt es dar in dieser Lage, die sich ganz verkehrt? Woher kommt seine Schuld? Die es jetzt auch fühlt.