Gedichte
Aus dem belgischen Niederländisch von Stefan Wieczorek
Nachtdrift ist ein kohärenter, dicht komponierter Gedichtband, den das immer wiederkehrende Thema der gescheiterten Liebe wie ein roter Faden zusammenhält ... Beim wiederholten Lesen entfalten die Gedichte immer neue Bedeutungen. Diese Poesie ist genau, wohlklingend, abenteuerlustig – und sehr authentisch. Da die Einzelgedichte keine isolierten Kompositionen darstellen, sondern in Beziehung treten zu den anderen Texten, kommt man lesend in einen Flow. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Eine melancholische Ungeduld, die Weigerung zu akzeptieren, dass alles so ist, wie es ist, durchzieht diesen Band.
„Nachtroer“, so der Originaltitel, wofür die Autorin den Paul-Snoeck-Preis für den besten Gedichtband in niederländischer Sprache erhielt, besteht aus einer lockeren Folge von Gedichten, die eine verzaubernde Bildhaftigkeit und Sinnlichkeit entfalten, den unberechenbaren Gedanken nachspringen und atmosphärisch dichte Tableaus entwerfen... Und je mehr man in Klang, Rhythmus und Bildwelt dieser Texte eintaucht, desto deutlicher wird, dass Van den Broeck immerzu der Liebe und ihrer Unmöglichkeit auf der Spur ist. (Dresdner Neueste Nachrichten, 9. Mai 2022)
Charlotte Van den Broeck: geb. 1991, ist Dichterin und Essayistin. Sie studierte zunächst Englisch und Deutsch, dann Wortkunst am Konservatorium Antwerpen. Gemeinsam mit dem Romancier Arnon Grünberg eröffnete sie 2016 mit einer Performance die Frankfurter Buchmesse, als Flandern und die Niederlande Ehrengäste der Messe waren. Bislang publizierte sie zwei Gedichtbände, „Kameleon/Chamäleon“ (2015) und „Nachtroer/Nachtdrift“ (2017); diese wurden mit dem Herman-de-Coninck-Debütpreis bzw. dem Paul-Snoek-Preis ausgezeichnet. Gedichtbände von ihr wurden u.a. ins Englische, Französische, Spanische und ins Afrikaans übersetzt. Mit „Cosmos, Texaco“ schrieb sie 2020 einen umfangreichen Essay über ihre poetischen Wahlverwandtschaften. Ihr essayistisches Prosadebüt „Waagstukken/Wagnisse“ erscheint im Rowohlt Verlag.
Der Herausgeber und Übersetzer Stefan Wieczorek wurde 1971 in Koblenz geboren. Er arbeitet als Übersetzer, Literaturwissenschaftler und Essayist und lebt in Aachen, im Dreiländereck Niederlande-Belgien-Deutschland. Sein Engagement gilt insbesondere der Literatur aus Flandern und den Niederlanden, siehe auch die gemeinsam mit Christoph Wenzel herausgegebene Anthologie Polderpoesie und den Themenband Bojen & Leuchtfeuer der Literaturzeitschrift die horen. Er ist Redakteur des zweisprachigen Poesiemagazins Trimaran. Stefan Wieczorek gibt die Reihe „Literatur aus Flandern“ im Leipziger Literaturverlag heraus.
„Nachtdrift“ ist der zweite Band der Reihe „Literatur aus Flandern“ im Leipziger Literaturverlag. Die Reihe kartographiert die niederländischsprachige Literatur Flanderns, wo sie für den deutschsprachigen Leser noch weitgehend Terra Incognita ist.
Literatur aus Flandern, Band 1:
Max Temmerman: Die Geduld der Gärten. Gedichte, 2019.
Literatur aus Flandern, Band 2:
Charlotte Van den Broeck: Nachtdrift. Gedichte, 2021.
Der Übersetzer erhielt für die Arbeit an diesem Text ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds. Das Erscheinen dieses Buches wurde gefördert von FLANDERS LITERATURE.
Leseprobe:
VIII
niet overhellen, nu de avond het licht en ons de adem afknelt
stootblauw het vel, aangeslagen oorlogstrommel van wat faalt in ons
het huis laat zich verdelen in bananendozen en bezittelijke voornaamwoorden
de boekenkast in links en rechts
van jou de landkaarten, de Russen en het oeuvre van Márquez
ik krijg woordenboeken in alle talen, de biografieën van dictators
en ja, de poëzie, die juist nu hardnekkig staat te zwijgen, je vraagt nog:
welke vogel stak ook weer de snavel in zijn eigen borst?
ik kan niet op de pelikaan komen
weet nu dat rouw begint bij het stoten van de elleboog
en doortrekt tot in de vingertoppen
om nieuwe aanrakingen vooraf al te verdoven
VIII
nicht umkippen, jetzt, wo der Abend das Licht und uns den Atem abschnürt
blaugestoßen die Haut, diese geschlagene Kriegstrommel für alles Scheitern in uns
die Wohnung lässt sich aufteilen in Bananenkisten und Possessivpronomen
das Bücherregal in links und rechts
dir gehören die Landkarten, die Russen und das Gesamtwerk von Márquez
ich bekomme Wörterbücher in allen Sprachen, die Biografien der Diktatoren
und ja, die Poesie, die gerade jetzt so hartnäckig schweigt, du fragst:
welcher Vogel bohrte sich noch mal den Schnabel in die eigene Brust?
Ich komme nicht auf den Pelikan
weiß jetzt, Trauer beginnt mit angestoßenen Ellenbogen
und zieht bis in die Fingerspitzen
betäubt vorsorglich schon einmal neue Berührungen
VII
iets in het vlees, uren na het schot nog, zal pulseren
tot ook dat op is, herinnering aan een hartslag
welk dier hielden we ons voor te willen raken?
we jaagden altijd al op elkaar in onszelf
zijn wij dat werkelijk geworden? ingezouten en opgehangen
rantsoen van onze idealen, luchtfoto van de toenmalige plek
waar we elkaar eindelijk onszelf zouden vergeven, wanneer dan?
zelfs het schrijven is bezig te versterven, mijn handschrift sleept
naar links, sleept me rugwaarts terug de jaren in
in je oksel een bres voor bedenktijd, waar ik de holte vond
waarin mijn hele onvermogen kon, toen heb ik het gedaan
van jou en mij met opzet onderdelen uit een modelbouwpakket gemaakt
VII
etwas im Fleisch, noch Stunden nach dem Schuss, wird weiter pulsieren
bis auch das vorübergeht, Erinnerung an einen Herzschlag
welches Tier, behaupteten wir, wollten wir zur Strecke bringen?
Wir machten schon immer Jagd aufeinander ineinander
ist das wirklich aus uns geworden? Eine gepökelte und abgehangene
Ration unserer Ideale, eine Luftaufnahme des Ortes von damals
an dem wir einander endlich uns selbst vergeben würden, wann bloß?
Sogar das Schreiben stirbt allmählich, meine Handschrift reißt
nach links aus, reißt mich rückwärts zurück in jene Jahre
in deine Achsel, Bedenkzeit im Zwischenraum, wo ich eine Höhle fand
in die mein ganzes Unvermögen passte, damals habe ich es getan
aus dir und mir mit Absicht Teile eines Modellbaukastens gemacht
VI
een goochelaar zaagt me in twee stukken en klapt me open
naar het publiek, mijn lege romp onthuld na de nacht, na de slag
waarin ik generaal en sterveling werd, grond en organen verloor
jou vergat door de trompetten van de optocht in mij
bij het achteromkijken al zag ik hoe je je jas van de kapstok zou nemen
een klein finaal gebaar, de teleurgang tussen schouderbladen
en toch gemarcheerd, verder het diepe in, verder dan de blinde klip
daar in inkeer uiteengevallen – natuurlijk, in wat anders
dan in een kermend geluid? het verraadt me op het podium
iedereen kijkt, ik zeg nog ‘liefste’ en ‘weigering’
en ‘vergeef me’, maar het applaus is eindeloos
na afloop word ik niet gehecht
VI
ein Zauberer sägt mich in zwei Teile und klappt mich auseinander
fürs Publikum, mein ausgehöhlter Rumpf ausgestellt nach der Nacht, der Schlacht
in der ich General und Sterbliche war, Boden und Organe verlor
dich vergaß im Lärm der aufmarschierenden Trompeten in mir
und beim Blick zurück schon sah, wie du die Jacke vom Kleiderständer nehmen würdest
eine kurze abschließende Geste, ein Untergang zwischen Schulterblättern
und doch im Gleichschritt voran, in die Tiefe, über die blinde Klippe
dort in einem Moment der Besinnung zerbrochen – was war ich noch
anderes als ein paar wimmernde Geräusche? Die mich auf der Bühne verraten
alle schauen, ich sage noch „Liebster“ und „Verweigerung“
und „Vergib mir“, aber der Beifall ist schier endlos
als alles vorbei ist, werde ich nicht wieder zusammengenäht
V
Europa, een inwisselbaar landschap achter het autoraam, ondergeschikt
aan welk nummer er op de radio draait, aan wat er door ons heen glijdt
bij het staren naar de snelweg, in cadans de kerken, de Tsjechen en de verte
het herhaalt zich, zoals wij ons jaar na jaar nu, onbedoeld maar halsstarrig herhalen
Wenen wordt onze woonkamer, de Donau een geknelde zenuw, zelfs het vrijen
langdradig in de droge hitte, ik slik muggen in, altijd en later
twee tijdstippen die bij de keel grijpen, nu ze vanzelfsprekend en aangebroken zijn
wij meer dan ooit de gietvorm van ons geluk en niet het geluk zelf, dat glijdt voorbij
de plaatsnaamborden, voorbij de tinteling en de twijfel, daarna
op de autostopplaats de milde stilstand van elkaars glimlach
waarachter een schreeuw smeekt dat we het steeds van elkaar zullen weten
het heimelijk verbond, wat ons opzweept en de strop
V
Europa, eine austauschbare Landschaft hinter den Autofenstern, abhängig
von der Nummer, die im Radio läuft, von dem, was in uns fährt
während wir auf die Autobahn starren, im Takt Kirchen, Tschechen, Weite
das wiederholt sich alles, so wie wir uns Jahr auf Jahr ungewollt aber starrsinnig wiederholen
Wien wird zu unserem Wohnzimmer, die Donau ein eingeklemmter Nerv, sogar der Sex
wird fade in der trockenen Hitze, ich verschlucke Mücken, immer und später
zwei Zeiten, die dir an die Kehle gehen, jetzt, wo sie selbstverständlich, angebrochen sind
und wir mehr denn je die Blaupause unseres Glücks und nicht das Glück selbst sind, das gleitet vorbei
an den Ortsschildern, vorbei auch Kitzel und Zweifel, danach
auf dem Parkplatz der milde Stillstand unseres Lächelns
hinter dem ein Schrei darum fleht, dass wir beide uns immer erinnern werden
an das geheime Band zwischen uns, an das, was uns antreibt und den Strick