Gedichte. Aus dem Bosnischen von Cornelia Marks
Sarajevo ist die Stadt ihrer Kindheit und Jugend. Hier ging sie zur Schule und schloß ihr Slawistikstudium an der Philosophischen Fakultät ab. Sie arbeitete als Journalistin und Redakteurin für Zeitungen sowie als Dramaturgin fürs Radio in Sarajevo. In Warschau hielt sie Vorlesungen an der Universität. In den Gedichten rufen beide Länder - Bosnien und Polen - für das lyrische Ich ein ähnliches Gefühl von Heimatlosigkeit hervor: "Zwischen Warschau und Sarajevo liegt nicht einmal ein Schritt / Keinerlei Entfernung. Wie in jedem Drama, / bist du am gleichen Ort." Den zeitlichen Rahmen der Gedichte dieses Bandes bilden die Jahre 1991 bis 1999. Das Hauptthema, das sich in den Texten von Marina Trumic widerspiegelt, ist der Zerfall Jugoslawiens, während sie sich gleichzeitig mit ihrer zweiten Heimat, Warschau, auseinandersetzt. Sie befindet sich quasi ständig in einem lyrischen Dialog sowohl mit Warschau als auch mit Städten wie Sarajevo, Dubrovnik, Belgrad. Die Gedichte muten schwerelos an, wie losgelöst von Raum und Zeit, wie die zarte Philosophie über die eigene Existenz, vom Gefühl getragen, daß die Verbannung „eigentlich unser einziger natürlicher Zustand ist".
Marina Trumic (1939-2011): geb. in Belgrad, Schule und Slawistikstudium in Sarajevo, Journalistin, Radiodramaturgin, schrieb Romane, Erzählungen, Essays, Reiseberichte und Lyrik.
Cornelia Marks: geb. 1969 in Erfurt, Studium der Slawistik und Germanistik, Studienaufenthalte in Makedonien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Serbien, Russland; seit 2007 freiberufliche Übersetzerin, Teilnahme am Internationalen Poesiefestival in Sarajevo 2008, 2009, 2010 und 2011.
"Marina Trumic schaut auf die Marter Sarajevos aus einer fernen, aber der Erfahrung nach einer Sarajevo nahen Stadt - aus Warschau, jenem Warschau, das im vergangenen Krieg vom Faschismus dem Erdboden gleich gemacht worden war… Die Erfahrung der Dichterin, ihr ganzer Lebensfilm, den sie in der Warschauer Einsamkeit dreht, ist eigentlich in der Stadt unterm Trebevic [Sarajevo] geblieben, das, was sich in einem leeren Zimmer wiederholt, in dem die Telefone nicht klingeln, und in einer Ferne, in der ‚der Stern der entfernten Heimat flimmert’." Mile Stojic
Zwischen Warschau und Sarajevo: Gedichte über das Verbanntsein, die Stille und das Recht auf Liebe
Ralf Julke, L-IZ
⇒ www.l-iz.de/Bildung/Bücher/2013/12/Marina-Trumic-Zwischen-Warschau-und-Sarajevo-52911.html
Leseprobe:
Samo postojanje ne boli,
tek je misao o njemu bolna.
* * *
Das Dasein selber tut nicht weh,
nur der Gedanke daran schmerzt.
* * *
Da zaslu¸uješ nešto
drugo,
da je Visla
ljepša od Miljacke,
Varšava nešto ve?a,
nešto dulja, nešto dalja,
da si došla
na pravo mjesto.
Kako se varaš!
Nema tu sli?nosti,
nema razlike.
Izme?u Varšave i Sarajeva nije
?ak ni korak.
Nikakva razdaljina.
Kao u svakoj drami,
na istom si mjestu.
Warszawa, 1996.
* * *
Dass du etwas
anderes verdientest,
dass die Weichsel
schöner als die Miljacka sei,
Warschau ein wenig größer,
ein wenig breiter, ein wenig weiter,
dass du angelangt seiest
am richtigen Ort.
Wie du dich irrst!
Da gibt es keine Ähnlichkeit,
keinen Unterschied.
Zwischen Warschau und Sarajevo liegt
nicht einmal ein Schritt.
Keinerlei Entfernung.
Wie in jedem Drama,
du bist am selben Ort.
Warschau, 1996.
Šesnaest topola pred mojim
prozorima povijaju se
na jednu i drugu stranu
Svaki listi? treperi na vjetru
tisu?e treptaja
u trenu
Svjetlost do besvijesti ponavlja
svoju igru
pred prozorima
Samo jedna topola
svojim suhim granama
razmahuje pred prozorima
kao da hvata zrak.
Znam kako joj je u grudima.
Sechzehn Pappeln unter meinen
Fenstern wiegen sich
hin und her.
Jedes Blättchen zittert im Wind
ein tausendfaches Funkeln
in jedem Augenblick.
Das Licht wiederholt bis zur Besinnungslosigkeit
sein Spiel
unter den Fenstern
Nur eine Pappel
zappelt kraftlos mit ihren welken Zweigen
unter den Fenstern
als ob sie nach Luft schnappe.
Ich weiß, wie ihr im Innern zumute ist.
Cijeli dan je prošao
a telefon nije zazvonio.
Ni sutra nije zazvonio.
Ni prekosutra nije zazvonio.
Ni ?etvrtog dana nije zazvonio.
Petog dana, napokon, zazvonio je
telefon.
Od uzbu?enja tresle su mi se ruke dok sam
uzimala slušalicu.
Drhte?i od o?ekivanja, rekla sam:
Halo!
Bila je greška.
Der ganze Tag verstrich
und das Telefon läutete nicht.
Auch am nächsten Tag läutete es nicht.
Auch am übernächsten Tag läutete es nicht.
Auch am vierten Tag läutete es nicht.
Am fünften Tag, endlich, läutete
das Telefon.
Vor Aufregung zitterten meine Hände als ich
den Hörer ergriff.
Bebend vor Erwartung, sagte ich:
Hallo!
Es war ein Irrtum.