Gedichte
„Immer geschieht etwas“ ist Walter Thümlers sechster Gedichtband. Seine Gedichte thematisieren unsere Angst vorm Leben, unser Eingesperrtsein in die eigene Vorstellungswelt und die unausweichliche Tatsache von Krankheit und Tod. Angesichts dessen ist Wehmut die kontrapunktierende Stimmung einer grundsätzlichen Bejahung allen Daseins und Feier der Schönheit der Erde. Auffälliges Merkmal ist das Ausbleiben der Ironie. In Walter Thümlers Bestandsaufnahme der conditio humana klingt immer Hoffnung mit, Ausblicke ins Lachen und Lächeln.
Walter Thümler: geb. 1955 in Oldenburg, lebt seit 2014 – nach langjährigen Aufenthalten in München und Berlin – in Wahrenberg/ Elbe. Er hat bisher fünf Gedichtbände veröffentlicht, Sentenzen zu Religion, Kunst und Philosophie sowie einen Band poetologischer Notizen. In seiner Übersetzung erschienen im Leipziger Literaturverlag die Gedichtbände „Immer anders auf die Erde“ von Gennadij Ajgi und „Von nun an“ des Pulitzer-Prize-Trägers C.K. Williams.
Leseprobe
Vollmond
jemand träumt
vielleicht ein Liebeslied (something
stupid z.B.) ein anderer sieht einen Mörder
schleichen an der Hecke Die meisten
sehen auf ihren Smartphones Videos
von Bahnunglücken
Flugzeugabstürzen usw.
und der Mond schenkt das
Licht der Sonne in die
Nacht
Der Schnee durch den ich stapfe
der Schnee durch den ich stapfe besteht aus
abermillionen Schneekristallen Gebilde zärtlicher
als jede menschliche Architektur Und ich
weiß die Arktis ist immer möglich Später
treibe ich
Sport So die Unbarmherzigkeit des
Alterns
zu vergessen Jene fortschreitende
Trennung von Seele und Leib
doch hier
ist es still und ich höre das Atmen
der Feuer der Seelen
und verstehe Warum
es Shiva den Gott der Zerstörung geben
muß Die Zeit drängt uns aus der Zeit
Unzählige
Tote schlafen
Äpfel
zwei Äpfel gekauft Natürlich ist einer davon
Adams Von der Ernte bis in den Supermarkt hat
sich viel Gewinngeschichte daran
geheftet
da hilft auch Waschen nicht
und mit jedem
Biß wird meine eigene
Fluchtgeschichte aktiviert
doch heute
bleibe ich hier Laß mich in Stücke
beißen
Mit Ausblick
in einem Dorf in der Mitte zu wohnen
ist gefährlich Du dienst als
Futter der Rede und der Ausblick ist
versperrt Außerdem
stärkt dies den Glauben es gäbe eine
Mitte der
Welt
die Pferde
kauen hingegeben an ihrem Gras (werde ich
jemals diesen Genuß erleben?)
meine inkontinente Katze flüchtet
vor den Schmeißfliegen in den Keller und ich
muß damit leben dass es Ausländer
nur gibt weil es Inländer gibt
ich will
am Rand wohnen mit dem Rücken
zur Rede