Gedichte, zweisprachig
Ausgewählt und aus dem Farsi
übertragen von Isabel Stümpel
Platz 1 der LITPROM-Bestenliste im Sommer 2016
Der zweisprachig in Deutsch und Farsi vorliegende Band bietet einen Querschnitt durch Granaz Moussavis Schaffen und damit durch die Träume, Enttäuschungen und Zufluchten der nachrevolutionären Generation Irans, namentlich der Frauen, deren Stimme vor dem islamischen Gesetz nur die Hälfte zählt und deren Kreativität und Mobilität allenthalben beschnitten werden („...Wände, Wände / zum Wahnsinnigwerden“). So erscheint die erdbebenbedrohte, versmogte Hauptstadt Teheran einerseits als Ort voller Stoppschilder, Stillstand und Steinigungsorte, andererseits aber mit ihren Plätzen, Parks und Intellektuellencafés als unersetzliche Heimat und Ort des Austauschs mit Gleichgesinnten. Sprachrhythmus- und Bilder steigern sich zu zorniger Anklage der offiziellen Geschichtsvergessenheit, die Irans vorislamische Vergangenheit ausblenden will, der Kriegstreiberei, der Folterkammern „im achten Untergeschoss“ und der künstlich aufgeheizten religiösen Massenveranstaltungen. Daneben stehen Hoffnungsvisionen: des gewaltlosen Boykotts oder der Verständigung von Mensch zu Mensch mit einem Revolutionswächter („...Könnte ich doch im Album deiner Kindheit blättern...“), Beziehungs-und Liebesgedichte.
Granaz Moussavi: geb. in Teheran, schreibt und veröffentlicht seit ihrer Jugendzeit. Durch ihren international preisgekrönten Spielfilm „My Tehran for Sale“ (Iran, 2009) auch als Regisseurin bekannt, ist sie vor allem Lyrikerin. Ihre Gedichtsammlungen „Barfuß bis zum Morgen“ (2000, als bestes Lyrikbuch des Jahres ausgezeichnet) und „Lieder einer verbotenen Frau“ (2003) wurden mehrfach aufgelegt. Ein Porträt Moussavis zeigt der Dokumentarfilm „In the Endless Streets of Tehran“ über die zeitgenössische iranische Lyrikszene (Piruz Kalantari, 2008). Nach Jahren des Pendelns zwischen Teheran und Melbourne lebt Granaz Moussavi derzeit in Australien, bis sich die Wogen um ihren 2011 nachträglich von den Zensurbehörden beanstandeten Spielfilm irgendwann geglättet haben werden. Ihr letzter Lyrikband „Rotes Gedächtnis“ (2011) hat in Iran keine offizielle Druckerlaubnis.
Isabel Stümpel: geb. in Mainz, studierte in Freiburg, Frankfurt, Istanbul u. Teheran Islamwissenschaft u. Musikpädagogik; Dozentin am Orientalischen Seminar der Uni Frankfurt; Literaturübersetzerin (Farsi, Frz., Engl.), Musikpädagogin, Performerin
"Ein schöner wie überraschender Lyrikband bietet Verse von Granaz Moussavi. Die Iranerin lebt im australischen Exil, ist aber ihrer Heimat so eng verbunden, dass sie das Exil nicht einmal thematisiert. Die Auswahl umfasst Gedichte der letzten 20 Jahre aus drei verschiedenen Büchern, deren letztes in Iran nicht hat erscheinen können. Es enthält allzu provozierende Aussagen, sowohl in moralischer als auch in politischer Hinsicht..." Kurt Scharf, LiteraturNachrichten, 174
LESEPROBE:
Brief an einen unbekannten Mann
2
Als der Mittag an der Wand empor kroch
und die Uhr ein Bein übers andere schlug
beschloss ich
Der Tod kann warten
bis das Ungesagte gesagt ist
Wir haben solange auf morgen gewartet
bis die Nacht wich aus unserem Haar
Nun schneit es
und der Tod muss warten
1
Am Morgen
habe ich mein Gesicht aus dem Spiegel gelöst
Zurück blieb
Eine Spur Kajal und Feuer auf seinen verliebten Lippen
Auf dem Weg
durch die tatenlosen Gassen
fragte ich die Kinder ohne Spielzeug
wie viele September zwischen uns liegen
Ich weiß
Eines Tages kommen deine fruchtbringenden Hände
Und ich werde dem Blumenbeet dieses Platzes gleichen
Sonst nichts
nur die Wortfetzen des Windes
Bis ich im Büro bin
In der Schule
Im Laden
An einem Ort im Nirgendwo
An einem Haus ohne Nummernschild
Schreie ich tausend Verlorensein
Du weißt nicht, wie es hier ist
Die Gasse gehört den Jungen
Uns bleibt in ermüdenden Warteschlangen
nur das tote Ende
Dort, wo die Krähen vom Rande des Spätnachmittags
verdutzt die Schulmädchen beäugen
die ihnen ähnlich sehen
Weißt du es schon?
Die Fische sind davongezogen ohne Reisepass, zurück blieb nur
das salzige Meer
Und der Himmel reicht nicht für all die Einsamkeit
4
Wenn die Nacht kommt
wird auch dieser Brief beendet sein
Ich werde mein Kinderfoto, das im Regal gealtert ist
betrachten
Und mich erinnern
Niemand warnte uns
dass das Fenster
die Fußspuren der Passanten vergisst
und der Himmel nicht reicht für all die Einsamkeit
hinter verriegelten Türen
Der Tod kommt
und morgen ist die Fortsetzung des gestrigen Schlafs
3
Spätnachmittag, ich komme vom Kitten der Tage nach Haus
Dein Dasein ist eine Knospe
hinzugefügt zum Leben des Grashüpfers
Bevor der Tod auf das nichtige Leben der Nachtfalter fällt
Komm
damit ich neben soviel Pflanzen und Erde und Menschen und Mond
nicht einsam bin
Auch wenn wir hier
mit einem erstickten Seufzen hinter der Scheibe
warten und zugrunde
gehen
Komm
Gleich dem Himmel, der ein Leben lang über dem Dach steht
ist mein letztes Wort
dass ich neben dir sitze