Gedichte, zweisprachig
Aus dem amerikanischen Englisch von Helmbrecht Breinig und Susanne Opfermann
Restexemplare der vergriffenen Auflage
Der Schatten des Sirius, etwas, das niemand gesehen hat, ist, wie Merwin in einem Interview sagte, „reine Metapher, reine Imagination“. Wir selbst sind dieser Schatten, hinter der sichtbaren Welt liegt das, was nicht sichtbar, nicht zu wissen ist. Das Unbekannte ist es, das unser Leben lenkt, und es ist die Aufgabe der Dichtung, sich diesem Unbekannten anzunähern, ohne es je zu erreichen, „zu sagen, was unsagbar ist – Liebe, Kummer, Zorn auszudrücken – diese Gefühle, die unausdrückbar sind“.
William Stanley Merwin (der für seine Buchpublikationen die Form W.S. Merwin vorzieht) gilt als einer der bedeutendsten amerikanischen Dichter unserer Epoche. Als einziger amerikanischer Dichter erhielt er zweimal den Pulitzer-Preis für Lyrik – den ersten hatte er 1971 wegen des amerikanischen Vorgehens im Vietnamkrieg abgelehnt – eines von vielen Beispielen für sein Engagement in politischen und ökologischen Fragen. Einer breiten Leserschaft in und außerhalb der USA ist er durch die zahlreichen Gedichte bekannt geworden, die das Magazin The New Yorker vorabgedruckt hat. Im Jahr 2010 wurde Merwin zum Poeta Laureatus der Vereinigten Staaten gewählt.
The Shadow of Sirius ist ein Alterswerk, nicht mehr vordergründig geprägt von Merwins politischem Engagement und seinen ökologischen Anliegen, obwohl diese noch in einzelnen Texten zur Sprache kommen. Der lyrische Sprecher ist vom realen Dichter nicht zu trennen, und so stehen im Mittelpunkt Reminiszenzen an Kindheit und Familie, zumal an den stets distanzierten Vater und die warmherzige Mutter, von der er das Gärtnern lernte, eine lebenslange Lieblingstätigkeit, aber auch Erinnerungen an seine Hunde und an Landschaften und Menschen, die er kannte, an Jahreszeiten und die Tiere und Pflanzen seiner Umgebung. Dennoch haben seine Themen universale Gültigkeit, gestaltet er das Persönliche zum Repräsentativen. Viele Texte sind poetologisch, legen Rechenschaft ab von seinem Leben als Wortkünstler.
W. S. Merwin (geb. 1927): ist einer der bedeutendsten amerikanischen Dichter der Gegenwart. Sein vielfach preisgekröntes Werk umfasst Lyrik, eine Verserzählung, Dramen, Prosaerzählungen und Übersetzungen aus mehreren Sprachen, die seine herausragende Sprachsensibilität ebenso belegen wie seine Dichtungen. Sein politisches Engagement hat ihn zu einer Leitfigur der Friedens- und Umweltbewegungen werden lassen.
Helmbrecht Breinig: Professor für Amerikastudien i.R. an der Universität Erlangen-Nürnberg, Gründungsdirektor der Bayerischen Amerika-Akademie, München. Studium an den Universitäten Heidelberg, LMU München, Liverpool, Freiburg, UC San Diego. Lehrtätigkeit an den Universitäten Freiburg, UC San Diego, Mannheim, Bamberg, Erlangen-Nürnberg, UC Berkeley, Frankfurt /M. Forschungsschwerpunkte: amerikanische Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts; amerikanische Lyrik und Poetik des 20. Jahrhunderts; nordamerikanische Indianerliteratur; Interamerikanistik; Kulturtheorie, Interkulturalität; Animal Studies.
Susanne Opfermann: Professorin für Amerikanistik an der Goethe-Universität Frankfurt. Lehr- und Forschungstätigkeit an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Harvard, Smith College, Northampton, UC Berkeley, University of British Columbia, Vancouver. Forschungsschwerpunkte: amerikanische Literatur des 19. Und 20. Jahrhunderts, Literatur von Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, Feminist Theory, Gender Studies, Jewish Americans, Asian Americans, Animal Studies.
Leseprobe:
The Nomad Flute
You that sang to me once sing to me now
let me hear your long lifted note
survive with me
the star is fading
I can think farther than that but I forget
do you hear me
do you still hear me
does your air
remember you
o breath of morning
night song morning song
I have with me
all that I do not know
I have lost none of it
but I know better now
than to ask you
where you learned that music
where any of it came from
once there were lions in China
I will listen until the flute stops
and the light is old again
Nomadenflöte
Du die du mir einst sangest singe mir jetzt
lass mich deinen langen Hochton hören
überlebe mit mir
der Stern verblasst
ich kann weiter denken als das aber ich vergesse
hörst du mich
hörst du mich immer noch
trägt deine Melodie
Erinnerung an dich
oh Atem des Morgens
Abendlied Morgenlied
ich habe bei mir
alles was ich nicht weiß
nichts davon habe ich verloren
doch ich hüte mich nun
dich zu fragen
wo du diese Musik gelernt hast
woher ihre Elemente stammen
früher gab es Löwen in China
ich werde lauschen bis die Flöte verstummt
und das Licht wieder alt ist
Blueberries After Dark
So this is the way the night tastes
one at a time
not early or late
my mother told me
that I was not afraid of the dark
and when I looked it was true
how did she know
so long ago
with her father dead
almost before she could remember
and her mother following him
not long after
and then her grandmother
who had brought her up
and a little later
her only brother
and then her firstborn
gone as soon
as he was born
she knew
Blaubeeren bei Dunkelheit
So also schmeckt die Nacht
jede für sich
nicht zu früh oder zu spät
meine Mutter sagte mir
ich hätte keine Angst vor der Dunkelheit
und als ich nachsah war es wahr
wie konnte sie's wissen
vor so langer Zeit
ihr Vater gestorben
fast bevor sie sich erinnern konnte
und ihre Mutter die ihm folgte
nicht lange danach
und dann ihre Großmutter
die sie großgezogen hatte
und wenig später
ihr einziger Bruder
und dann ihr Erstgeborener
verloren sobald
er geboren war
sie wusste es
Still Morning
It appears now that there is only one
age and it knows
nothing of age as the flying birds know
nothing of the air they are flying through
or of the day that bears them up
through themselves
and I am a child before there are words
arms are holding me up in a shadow
voices murmur in a shadow
as I watch one patch of sunlight moving
across the green carpet
in a building
gone long ago and all the voices
silent and each word they said in that time
silent now
while I go on seeing that patch of sunlight
Noch stiller Morgen
Es scheint jetzt als gäbe es nur ein
Alter und es weiß
nichts vom Alter wie die Vögel im Flug
nichts von der Luft wissen die sie durchfliegen
oder von dem Tag der sie durch
sie selbst trägt
und ich bin ein Kind bevor da Worte sind
Arme heben mich hoch in einem Schatten
Stimmen murmeln in einem Schatten
und ich beobachte einen Flecken Sonnenlicht der sich
über den grünen Teppich bewegt
in einem Gebäude
das lange verschwunden ist und all die Stimmen
verstummt und jedes Wort das sie damals sprachen
nun verstummt
während ich noch immer den Flecken Sonnenlicht sehe
By the Avenue
Through the trees and across the river
with its surface the color of steel
on a rainy morning late in spring
the splintered skyline of the city
glitters in a silence we all know
but cannot touch or reach for with words
and I am the only one who can
remember now over there among
the young leaves brighter than the daylight
another light through the tall windows
a sunbeam sloping like a staircase
and from beyond it my father's voice
telling about a mote in an eye
that was like a mote in a sunbeam
Remember how the naked soul
comes to language and at once knows
loss and distance and believing
then for a time it will not run
with its old freedom
like a light innocent of measure
but will hearken to how
one story becomes another
and will try to tell where
they have emerged from
and where they are heading
as though they were its own legend
running before the words and beyond them
naked and never looking back
through the noise of questions
An der Allee
Durch die Bäume und über den Fluss
mit seiner stahlglänzenden Oberfläche
an einem regnerischen Morgen im späten Frühling
glitzert die zersplitterte Silhouette der Stadt
in einer Stille die wir alle kennen
aber nicht berühren können oder mit Worten greifen
und ich bin der einzige der sich nun
erinnern kann dort drüben zwischen
den jungen Blättern heller als das Tageslicht
an ein anderes Licht durch die hohen Fenster
einen Sonnenstrahl der sich wie eine Treppe herabschrägte
und dahinter meines Vaters Stimme
die von einem Staubkorn in einem Auge sprach
das wie ein Staubkorn in einem Sonnenstrahl war
Denk daran wie die nackte Seele
zur Sprache kommt und augenblicklich
Verlust kennt und Entfernung und Glauben
dann wird sie eine Weile nicht
mit ihrer früheren Freiheit rennen
wie ein Licht das kein Maß kennt
sondern sie wird lauschen wie
aus einer Geschichte eine andere wird
und wird zu sagen versuchen woher
sie aufgetaucht sind
und wohin sie zielen
als wären sie ihre eigene Legende
die vor den Wörtern her rennt und über sie hinaus
nackt und niemals zurückblickt
durch den Lärm der Fragen