Roman. Mit Tuschezeichnungen von Christiane Werner
Eine apokalyptische Sintflut, die Westeuropa unter Wasser setzt, ereilt die Helden dieses Romans während einer Urlaubsreise: Herrn Klopsig und die adlige Kunstliebhaberin Frau Edelsüß verschlägt es nach Berlin, wo die Flut an der ehemaligen Zonengrenze stoppt - ein Ereignis, das von der Regierung zum Anlaß genommen wird, die LIBERALE DIKTATUR auszurufen. Nicht nur Rauchen und Autofahren, sogar das Fallenlassen von Papier auf Sandwegen wird bei Strafe verboten. Herr Klopsig und Frau Edelsüß erleben eine Welt, in der Europa halb überflutet, Afrika zu einer Stätte der Hochkultur und Rußland erneut zur Weltmacht aufgestiegen ist. Mit wachem Möglichkeitssinn und voller Witz lotet Viktor Kalinke den Spielraum zum Zusammenleben nach einer zukünftigen Apokalypse aus.
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.
"Und da das alles immerfort ineinander spielt, die Katastrophe des einen Kapitels im nächsten schon wieder in ein nächstes Abenteuer mündet, darf der Leser sicher sein, dass er ziemlich bald die Fäden verliert und durch die Erlebnisse der Beiden fährt wie durch eine Achterbahn. Eine echte Burlesque..."
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Liebe in Zeiten der Weltuntergänge: Empörte Flut - Rezension von Ralf Julke ...
Leseprobe:
Geschwisterliebe
Frau Edelsüß war eine blonde Frau und etwas dunkelhäutig. Mitunter ärgerte sie sich über ihr natürliches Blond und färbte sich die Haare schwarz. Dann wirkte sie arabisch oder kaukasisch. Sie war jünger als Herr Klopsig und mit pubertärer Lust ausgestattet. Die beiden flogen mit bloßen Armen durch die Lüfte, indem sie sich am Ellbogen einhakelten und mit der je freien Hand durch die Wolken paddelten. Wo sie landeten, befanden sich weit ausgestreckte Barockgärten mit Wasserspielen, Hecken, Labyrinthen. Doch sie hatten es nicht nötig, sich zu verstecken. Sie liebten sich auf offener Wiese. Ihnen war, als könnten sie viele andere einladen, sie zu begleiten, und dennoch würden sie sich nicht verlieren. Wenn sie schlechte Laune hatten, nannten Herr Klopsig und Frau Edelsüß ihr Verhältnis Liebe ohne Grenzen, wenn sie gute Laune hatten, nannten sie es grenzenlose Liebe.
Die narzistische Falle
Vor den Gemälden Menzels stehend, flüsterte Frau Edelsüß ins Ohr von Herrn Klopsig, er hindere sie am geistigen Arbeiten. Ein interessanter Fall, dachte Herr Klopsig, der seiner Gestalt nach zwar etwas unförmig, vom Verstand her dafür nicht weniger scharf war. Er arbeitete bei der Bahn, als Dispatcher. Doch damit sollte es nicht mehr lange weitergehen.
Frau Edelsüß war in letzter Zeit etwas abgemagert. Die übrigen Besucher der Galerie rückten auf Abstand zu den beiden. Die Bilder verdunsteten, graues Leinen zurücklassend. Ihr geistiges Sein: Wohl erkannte er ihr Ringen um Abhebung vom Alltäglichen, ihr Ringen um Abstraktion – sie abstrahierte von der Not, sich zu ernähren; von der Not, mit anderen Menschen zu sprechen. Herrn Klopsig berührten ihre Magerkeit und ihr Schweigen. Sie ernährte sich ängstlich, von Zigaretten, Kaffee, manchmal einem Apfel. Es schien, sie wolle abmagern, um in bestimmten Augenblicken nicht gesehen zu werden. Sie sprach, als kränkten sie ihre eigenen Worte, als bedeuteten sie eine Festlegung, vor der sie zurückscheute, die niedere Realität aber, der notgedrungene Umgang mit ihr, ließe kein Ausweichen zu.
Es lastete ein Fluch auf ihrem Sprechen: Sie glaubte, weniger sagen zu können, als sie dachte. Sprachlichen Solipsismus nannte sie das. Herr Klopsig wußte, daß es nicht stimmte. Nur Fremden gegenüber vermied sie gestischen Ausdruck. Gesicht, Körper, Bewegung blieben ausgespart, wenn sie sprach. Sie weinte trockenen Auges. Ihre Magerkeit, ihr Schweigen, ihre Fremdheit im Irdischen, ihre Scheu und Flüchtigkeit, ihr gelles Kichern rührten und berührten Herrn Klopsig. Nähe war nötig, um die Gleichgültigkeit der Buchstaben zu überwinden.
Fremden erschien Frau Edelsüß von bitterem Charakter. Sie täuschten sich. Einen gab es, der geeignet war, sie zu erkennen, er wuchs ihr ans Herz. Menzels fiktive Wirklichkeit kehrte auf die mit Leinen bespannten Rahmen zurück, Muskeln der Stahlarbeiter, Flötenkonzerte am preußischen Hof. Sie halfen den beiden aus der narzistischen Falle heraus.
Das neue Zeitalter
Ein neues Zeitalter hatte begonnen. Niemand hatte daran gedacht, doch nun war es da. Wie konnte es geschehen? Zuerst kam die Sintflut. Nicht die biblische, sondern die neuzeitliche Überflutung ganz West- und halb Mitteleuropas. Auf dem verbleibenden Festland wurde das Autofahren verboten. Die Leute nahmen es hin und bastelten fortan an ihren Booten und Surfbrettern herum, glaubten, das wäre alles. Herr Klopsig arbeitete bei der Bahn, dort genoß er freie Fahrt auf allen Strecken, die von der Sintflut verschont geblieben waren. Das Autoverbot berührte ihn nicht, im Gegenteil, er begrüßte es. Die Regierung fühlte sich ermutigt.
Als nächstes knöpfte sie sich das Trinken vor. Nein, die Zustände der Prohibition kehrten nicht wieder: Es gab keinen Widerstand, keinen Untergrund. Gering alkoholische Getränke wie Bier und Wein blieben legal – verboten wurden Destillate. Die Leute waren so gesättigt und schwach, beschäftigt mit ihren davon schwimmenden Eigentumswohnungen und Liebesgeschichten, daß niemand auf die Idee kam, Schwarzbrennereien zu gründen, um den Stoff für noch mehr Geld zu brennen. Es wäre eine phantastische Umverteilung geworden. Neue proletarische Kreise wären zur Elite aufgestiegen, erst in der Mafia, dann in der Regierung. All das blieb aus.
Statt dessen beschlossen die Oberen, schamlos mutig, das Fallenlassen von Papier auf die Sandwege unter Strafe zu stellen. Was wäre ein Gesetz ohne Strafen anderes als ein hornloses Nashorn? Binnen eines Jahres folgte die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die Leute jubelten. Die Todesstrafe wollten sie schon immer zurück haben. Endlich wieder Köpfe rollen sehen. Die Todesstrafe – gepaart mit dem universellen menschlichen Bedürfnis nach Sauberkeit und Ordnung – entsprach vollkommen dem Volkswillen. Von wegen, Demokratie und Diktatur seien Gegensätze. Diktatur erschien den Machthabern als der vollendete Ausdruck der Demokratie: sie war unverstellt und schrankenlos. Eine neue Verfassung wurde verabschiedet: die Verfassung der liberalen Diktatur.
An den gebohnerten, im staubigen Sonnenlicht glänzenden, menschenleeren Sandwegen war zweifelsfrei zu erkennen, daß das neue Zeitalter ausgebrochen war. An den Gullydeckeln wurden Soldaten mit Maschinengewehren postiert, die darüber wachten, daß niemand eine Zigarettenspitze oder ein Papiertaschentuch hineinwarf. Die kleinste Verunreinigung konnte zu einer Verstopfung im Kanalsystem und einer erneuten Überflutung Berlins führen. Das Rauchen im öffentlichen Raum hatte die Regierung im übrigen schon vor der Sintflut unter Strafe gestellt. Die Züge und Schiffe füllten sich mit Gesetzesbrechern, das heißt die Güterzüge und die Containerschiffe.
Der Bahnhofsvorsteher, ein alter Schulkamerad von Herrn Klopsig, ihm seit langem als freundlicher Arbeitskollege vertraut, lächelte. Jetzt hatte er endlich alle Hände voll zu tun. Herr Klopsig lächelte zurück, dachte, er könne, indem er ihm helfe, das System unterminieren. Herr Klopsig sah die furchtsamen Gesichter in den Öffnungen und Ritzen der Waggons. Die lächelnde Visage des Bahnhofwarts. Die gespenstisch glänzenden leeren Straßen.
Zur Demokratie gehörte der Dreck, er zeugte vom Leben. Der Tod hatte keine Zeugen. Nur den Bahnhofswart, der die Weichen so stellte, daß die Waggons direkt in den Schlund des Verbrennungsofens hineinrollten. Und Herrn Klopsig, der mitmachte, um zu protestieren, zu sabotieren. Aber daraus wurde nichts.
Einmal, als der Bahnhofsvorsteher eingeschlafen war, stellte Herr Klopsig die Weiche um und manövrierte den Zug auf ein Abstellgleis, hoffte, daß die zahlenmäßig überlegene Meute der zum Tode verurteilten Sandwegbeschmutzer aufbegehren würde. Statt dessen blickte sie furchtsam, in Schreckstarre, durch die Ritzen im Holz und nichts geschah. Sie fragten demütig, wann die Fahrt weitergehen würde.
Ehe Herr Klopsig sich versah, hatte ein Geheimdienstler den Mißstand erkannt, war hinzugeeilt, lotste den Waggon in den Orkus und feuerte Herrn Klopsig von seiner wunderbaren Arbeitsstelle als Dispatcher bei der Bahn. Beinahe wäre er selbst vorm Tribunal gelandet und verurteilt worden. Diesmal hatte er Glück.
Später erzählte Herr Klopsig, wenn er nach dem Grund seiner kurzzeitigen Arbeitslosigkeit gefragt wurde, er habe seinen Beruf bei der Bahn wegen der Sintflut verloren. Was nur halb stimmte. Tatsächlich fuhren die Züge nach der Sintflut lediglich in Richtung Rußland. Im übrigen Europa waren die Böden zu sumpfig geworden. Herr Klopsig hätte ohnehin seinen Beruf bei der Bahn aufgeben oder nach Osten umziehen müssen. Bald schon hatte er sich eine neue Existenzgrundlage geschaffen.
Hotel Berlin
In Berlin erwarben Herr Klopsig und Frau Edelsüß die Konzession zum Verkauf märkischer Weine am Märkischen Markt. Noch nie hatte sich jemand darum beworben, die meisten Wirte handelten mit Bier. Jetzt, nach der Sintflut, war die Bewilligung besonders günstig zu ergattern. Zur Übernachtung wählten Herr Klopsig und Frau Edelsüß das Märkische Hotel. Überhaupt schien die Mark nun zur führenden Wirtschaftsregion halb Mitteleuropas aufzusteigen, denn der Rest hatte mit dem Aufpusten von Gummibooten und dem Füllen von Schöpfeimern genug zu tun.
Vorsichtig betraten die beiden das Hotelzimmer. Aufgrund der Flutwelle, die zugleich eine Fluchtwelle ausgelöst hatte, wurden in sämtlichen Hotels, unabhängig von der Sternchenzahl, alle Zimmer doppelt belegt. Das Wasserblaue Kreuz stellte die erforderlichen Liegen und Pritschen zur Verfügung. Das Zimmer von Herrn Klopsig und Frau Edelsüß war schon belegt, nach der neuen Regelung also erst zur Hälfte. Ein Mann und eine Frau hatten sich im Doppelbett eingenistet. Für Herrn Klopsig und Frau Edelsüß blieben zwei Matten auf dem Fußboden übrig. Alles schien bestens, es paßte genau, man würde sich schon vertragen.
Herr Klopsig schritt vor den Spiegel, um sein Haar zurechtzuzupfen. Frau Edelsüß stand hinter ihm, umschlang mit verliebten Augen seine Schultern. Wechsel. Sie stand vorm Spiegel und zupfte sich zurecht, er umschlang von hinten ihre Hüften, streichelte ihre Schulterblätter unter der karierten Bluse. Sie lächelte. Der fremde Mann wandte sich verlegen ab. Er war mittleren Alters, hochgeschossen und trug einen strengen Scheitel. Herr Klopsig und Frau Edelsüß versuchten, die anderen beiden kennenzulernen. Vielleicht waren sie bereit zu gemeinsamen Spielereien? Wenn ringsum die Welt unter Wasser stand, mußte man sich etwas Gutes tun. Herr Klopsig lehnte am Waschbecken, Frau Edelsüß, im rechten Winkel zu ihm, ging auf Distanz und suchte wortlos die Nähe des strenggescheitelten Mannes. Sie lächelte. Scheinbar verlegen, tatsächlich verwegen.
Die andere Frau sagte: „Ich dachte, ihr seid ein Pärchen.“ Frau Edelsüß schüttelte den Kopf. Das konnte alles heißen.
Die Concierge trat ein und flüsterte den beiden anderen etwas zu. In Windeseile packten sie ihre Sachen und verschwanden. Frau Edelsüß rannte dem fremden Mann hinterher. Herr Klopsig rannte Frau Edelsüß nach. Durch den Flur des Hotels, um die Ecke. Frau Edelsüß tauchte hinter einer Seitentür ins Dunkel. Herr Klopsig lief geradeaus weiter. Gelangte in einen Saal mit Säulen, in die Disco-Sauna: zahllose Männer und Frauen tanzten nackt zu einer maschinenhaft rhythmischen Musik. Sie setzten die Schritte, als hätten sie das schon oft getan, jeder für sich, ohne Berührung. Jemand flitzte durch die Reihen, vielleicht Frau Edelsüß, vielleicht jemand anderes. Herr Klopsig konnte im vernebelten, schummrigen Disco-Saunalicht kaum etwas erkennen. Eine Aufsichtsdame in Gummischuhen versuchte, den Störenfried mit einem Stöckchen auf die Schulter zu klopfen.
Herr Klopsig kehrte um, ging hinunter auf die Straße. Frau Edelsüß war ihm entschwunden. Sie würde schon wiederkommen. Liebe ohne Grenze schert sich nicht um Schwänze, dachte er beinahe heiter, von einer poetischen Muse geküßt. Trotz ihrer gelegentlichen Amouren hatten sie sich nie getrennt. Es war eine Art katholisches Scheidungsverbot, das die beiden lebten – obwohl sie, wie der aufmerksame Leser weiß, niemals beabsichtigten, einander zu heiraten. Herr Klopsig hätte sich beruhigen können.
Am Märkischen Markt stieß er auf seinen Verkaufsstand „Märkischer Wein“. Schiffe voller Flüchtlinge hielten hier und alle wollten sich erfrischen und stärken, die vergangenen Strapazen vergessen. Was hilft da besser als Wein? Herr Klopsig überlegte, ob er ihn nicht als Marke anmelden sollte: Märkischer Wein am Märkischen Markt. Ob dies noch nötig war in der heutigen Zeit? Herr Klopsig schritt an der Ware vorbei, begutachtete die schlichten Reklameschilder, auf denen die märkische Weinqualität gepriesen wurde und dachte: Siehe, jetzt sind wir in Berlin, wir haben es geschafft!
An der nächsten Straßenbiegung traf Herr Klopsig die andere Frau, die aus dem gemeinsamen Hotelzimmer davongerannt war. Sie hockte ebenfalls an einem Stand. Es war ein umfunktionierter Tapeziertisch, auf dem sie ihre Prospekte und Körbchen ausgebreitet hatte. Herr Klopsig konnte nicht erkennen, was sie feilbot. Sie beugte sich über den Tapeziertisch, als wollte sie Herrn Klopsig etwas zeigen. Ihre Brüste schwappten über den Ausschnitt. Herr Klopsig spürte, wie ein klar definiertes Verlangen in ihm anschwoll. Er beging den Fehler, seinen Blick von den Brüsten abzuwenden und der Frau ins Gesicht zu sehen. Er fand es unansehnlich. Sie war eine Hexe.
Rasch lief Herr Klopsig zurück an seinen Stand und kümmerte sich um die zahlreichen durstigen Kunden. Von Frau Edelsüß und dem strenggescheitelten, hochgeschossenen Mann erblickte er keine Spur.