Tango-Etüden - Gedichte. Mit Zeichnungen von Caroline Thiele
Der Tango kann als die Kunst der Begegnung bezeichnet werden. "Gancho" bezieht sich nicht, wie einige vielleicht vermuten, auf den Haken, den so manche Beziehung in sich birgt, auf den Haken, einen markanten Schritt des Tango, der zum einen Bestimmtheit, zum anderen Offenheit ausdrückt, einen Augenblick, ein freches und zugleich flüchtiges gegenseitiges Durchdringen. Eine spielerisch temperamentvolle Sammlung lyrischer Texte zum Tango wurde von Viktor Kalinke vorgelegt, ergänzt um humorvoll-sensible die Zeichnungen von Caroline Thiele - ein Muß für den Tango-Enthusiasten.
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, lebt in Leipzig.
„Es sind kurze Beschreibungen von Stimmungen, Empfindungen, mehr oder weniger alltäglichen Begebenheiten, Episoden beim Tangotanzen ... Etliche Texte sind Frauen gewidmet: Rahel, Ella, Susann, Katja (2 verschiedenen), Kerstin, Marion usw. (oh, la la ...). Das ganze ist nicht schlecht gemacht. Man kann sich die geschilderten Situationen durchaus vorstellen und nachempfinden.“ Eckart Haerter
"Die Orte alle zu beschreiben, von denen die Texte und die Reden des Weltbürgers Kalinke berichteten, wäre müßig. Es drehte sich immer wieder alles um die Wirbelsäule, in die man die Hände wie in eine Tastatur eingraben kann, wenn man diesen einen Tanz tanzt. Es war ganz sicher für die Zuhörer: Der Tango war der Ort, an dem sich Viktor Kalinke am leidenschaftlichsten bewegte." Jutta Pillat
"Tango! Tango" als Poesiefilm:
youtu.be/0coS9ZVjjMM
Leseprobe:
Tango! Tango!
für Rahel
Der schmale Raum zwischen Menschen
was füllt ihn aus : Geräusch : das wir
Sprache nennen : verschluckt vom Hupen
des Bandoneon : übertönt vom Knarren
des Kontrabaß’ : es schwirrt
vom Tanzen und Tuscheln im Saal
Was hat man sich zu sagen
ein grobes Wort : begleitet
von krummer Geste : gemeinsam
vermögen sie trotz ihrer Vagheit
Zartes im Andern zu wecken
was keiner Erklärung bedarf
Der Schwung eines Kleides : der Bogen
in dem eine Haarsträhne fällt
mag kommen : wer will : seinen Bauch
blicksperrig in die Quere zu schieben
man tanzt und glaubt sich zu kennen
das Kantige der Bewegung verrät’s
Jemand lacht hinterm Rücken
schrill oder tief : unberechenbar
immer beobachtet jemand das Ungeschick
auf dem Parkett : sagt : was niemand
sagen mag : sich steigernd im Spott
den mancher prompt auf sich bezieht
Ich war nicht ich / ich war
ein Schatten / der Schatten
eines Schauspielers / der nichts weiß
von den Masken / schüchtern
und weich spielte ich
den unschuldigen Knaben
welche Blicke warfen die Mädchen
die noch schmachteten
an ihrer Mutter Brust
lautmächtig / übertönend
die Musik / brüllte ich ihnen
Witze ins Ohr / klärte sie auf
über den Ursprung des Tangos
von Begegnung zu Begegnung
trieb ich / von Tanzsaal
zu Tanzsaal / wo es eine Lust ist
sich zu verstellen / wo selbst
das Lachen irgendwie dröhnt
ich wußte nichts vom Ende
der Vorstellung / vom fallenden
Vorhang / vom Wieder-bei-sich-sein
Nacht nach dem Tango
Wir sprachen / fütternd ein Miteinander
von gestern / vergaßen und galoppierten
über die Hügel / die Möglichkeit
zu sterben / war kein fahler Gedanke
Wir starben / den Blick hinabstürzend
von oben auf dich / von oben auf mich
bei einer Drehung vornüber nach hinten
wie auch immer / nichts hielt uns ab
Kühle Finger drückten sich
auf meine Lippen / um den Tod
zu verzögern / wir starben
Deinen Mund / nach kalter Zigarette
schmeckend / wie könnte ich
ihn vergessen / den Salzgeruch
ich nahm ihn mit von deiner Haut
Am nächsten Morgen / körperlos
neben dir / dürstete ich
nach deiner Abwesenheit
wie nach einfachem Schlaf
Tag nach dem Tango
Über den Häusern flüstert der Regen
mit deiner Zunge / keiner lauscht
ihm Bedeutung ab / stumm dringt er
in Gräser und Komposthaufen
so kannst du schweigend davon
gehn / zur Arbeit / dich
ins Innere zurückziehn
so kannst du schweigen über
den Blasebalg zwischen Himmel
und Erde / die sprachferne
Leere zwischen dir und mir
so kannst du sehen / wie ich
im Aussichtslosen mich verstricke
kannst wie ein Kind mit Köchern
dem Insekt hinterher jagen
du fängst mich / stichst mir
die glühende Gewissensnadel
in den Rücken / meine Gedanken
hämmern nicht laut genug gegen
den Schädel... ein ergötzliches Bild
eingerahmt bin ich / neben andern
Objekten deiner Sammelleidenschaft