Über Bücher, Comics, Musik
Dieses Buch versammelt unterhaltsame, abwechslungsreiche Aufsätze, führt zusammen, bricht Fesseln auf und eröffnet neue Sichtweisen. Marc Degens porträtiert deutschsprachige Schriftsteller wie Dietmar Dath, Thomas Kapielski, Detlef Opitz und Wolfgang Welt. Er charakterisiert das musikalische Schaffen von Ausnahme-Bands wie Mutter, Milch, Namosh, Throbbing Gristle und T.Raumschmiere. Er stellt die Comic-Kunst von Alison Bechdel, James Kochalka, Lewis Trondheim, Joann Sfar und Walter Moers vor. Marc Degens nähert sich den Monumentalwerken von Louis-Ferdinand Céline, Stefan George und A.F.Th. van der Heijden. Im Mittelpunkt des Buches steht das Andersartige und Ungewöhnliche: Abweichen ist eine Entdeckungsreise an die Ränder und Grenzbereiche des literarischen und künstlerischen Feldes.
Marc Degens: geb. am 18. August 1971 in Essen, lebt als Schriftsteller in Eriwan, Armenien. Er schreibt Romane, Erzählungen, Aufsätze, Kolumnen und Gedichte. Seine Texte erscheinen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien.
Nach dem Abitur begann er ein Studium der Germanistik und Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum, das er 1999 als Magister Artium (M.A.) abschloß. Bereits vor und während seines Studiums veröffentlichte er literarische, journalistische und wissenschaftliche Arbeiten. Sein erster Gedichtband „Farben und Formen“ erschien 1992, sein erster Roman „Vanity Love“ 1997.
Texte von ihm wurden ins Dänische, Englische, Indonesische, Polnische und Serbische übersetzt. Die F.A.Z. veröffentlichte 2000 im Feuilleton in 18 Folgen seine Erzählung „Rückbau“, ebendort erschien von 2001 bis 2002 seine Romankolumne „Unsere Popmoderne“. Neue Folgen von „Unsere Popmoderne“ erscheinen seit 2005 in der Literaturzeitschrift „Volltext“.
Marc Degens ist Literaturredakteur und Herausgeber des Online-Feuilletons satt.org und veröffentlicht regelmäßig Aufsätze und Kritiken zur deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, über amerikanische und europäische Comics und zur Popkultur. Er ist Herausgeber der Reihe „Schöner Lesen“, in der bislang über siebzig Lesehefte von in der Mehrzahl jungen deutschsprachigen Autoren erschienen sind.
Leseprobe:
der büchermörder
Auf dem Weg in die Masuren lernt ein Tramper aus der DDR im Sommer 1978 in Warschau eine Rucksacktouristin kennen, die, wie sie sagt, aus Frankfurt am Main kommt. Die zwei reden über die verschiedenen Staatssysteme, doch das Gespräch ist unaufrichtig und wird von den eigenen Rollenerwartungen beherrscht. Am Ende lädt sie ihn in ihr Zelt ein, Alkohol fließt, er vergewaltigt sie. Am anderen Morgen erwacht der Tramper elend: »Felizitas schlief noch, friedlich: zufrieden. Leise suchte ich meine Sachen zusammen. Angst dabei, sie würde mich auf der Flucht erschießen. Geradezu selbstgefällig, wie sie da lag, flüchtig mit einem Schlafsack bedeckt. Dummer Bunditourist! Tourist wie fast alle! : Politiker werfen noch fliehend Bomben: ich brauchte Westgeld. Ich brauchte es nicht, doch so einfach weggehen, das kann kein Sieger! Ihre Umhängetasche. Ihre Briefmappe. Ihr ...: blauer Personalausweis! Blau wie meiner, ausgestellt in Potsdam. Felizitas Kannegießer, Juri-Gagarin-Allee.«
Die vierzehnseitige Geschichte »Fliehend Bomben« von Detlef Opitz ist eine der verstörendsten Erzählungen über die Befindlichkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen vor dem Mauerfall. Der Autor wurde 1956 in Steinheidel im Erzgebirge geboren, lebte als Schriftsteller ohne Werk in der DDR, und verdiente seinen Lebensunterhalt als Bibliothekstechniker, Buchhändler, Kellner, Puppenspieler, Verkäufer und Briefträger. Die Geschichte »Fliehend Bomben« wurde bereits Anfang der achtziger Jahre geschrieben, erschien aber erst 1990 mit weiteren Erzählungen und Kurztexten in Detlef Opitz’ Prosadebüt »Idyll« im Mitteldeutschen Verlag. Über die vergeblichen Mühen, seine Texte zuvor in der DDR erscheinen zu lassen, gibt nicht nur das Nachwort, sondern auch der im Buch abgedruckte, aberwitzige, knapp vierzigseitige Auszug aus dem mehrjährigen Briefkrieg zwischen Opitz und verschiedenen Behörden der DDR Auskunft. Es ist ein unfaßbares und unfreiwillig komisches Dokument aus einer Kunst und Künstler zerstörenden Zeit, die Opitz sogar eine Verurteilung wegen »gesellschaftlichen Mißverhaltens« einbrachte.
1996, rechtzeitig zum 450. Todestag des Reformators, erschien im Göttinger Steidl Verlag Opitz’ Romanerstling, die Martin-Luther-Phantasie »Klio, ein Wirbel um L.«. Es ist ein knapp 200 Seiten langer, wild zusammengeflunkerter Biographie-Entwurf voll derbem Spott und wüsten Zoten und einem ebenso umfangreichen, gelehrig-dreisten Anmerkungsapparat mit vielen Anspielungen auf Schriftstellerkollegen und Seitenhieben auf die Nachwende-Gegen-wart. Die arnoschmidtsche Diktion der früheren Werke ist zugunsten eines kräftigen, freien und äußerst erfindungsreichen Luther-Deutsches zurückgetreten, ein Stil, den auch Thomas Kapielski in seinen Büchern oft und meisterhaft verwendet. Ohne Zweifel zählt »Klio, ein Wirbel um L.« mit seinen zwei Lesebändchen zu den bemerkenswertesten, eigenwilligsten und hübsch gestaltetsten deutschsprachigen Romanen der letzten Dekade, der seinerzeit aber leider nur wenig und kaum außerhalb des Literaturbetriebs wahrgenommen wurde. Ähnlich erging es übrigens auch Opitz’ Verlagskollegen Michael Rutschky mit dem meisterhaften Großessay »Lebensromane« (1998) und Stephan Wackwitz mit seinem satirischen Roman »Walkers Gleichung« (1996).
Maßgeblichen Anteil am Entstehen von Detlef Opitz’ zweitem, 2005 im Eichborn Verlag Berlin erschienenen Roman hat, wie der Leser zu Beginn des Buches erfährt, sein alter Verleger. Im Laufe der Nachforschungen zu einem von Gerhard Steidl angeforderten kurzen Text über Goethe stieß Opitz auf Johann Georg Tinius (1764-1846), einen sächsischen Pfarrer und laut Lexikon »Räuber und Mörder aus Büchersammelwuth«. Sieben Jahre lang recherchierte Detlef Opitz zu diesem Thema, besuchte Archive, studierte Gerichtsakten ... Den Text über Goethe lieferte Opitz nicht ab, dafür, neun Jahre nach Erscheinen seines ersten Romans, diesen wundervollen und wunderlichen, rund 350 Seiten dicken Schmöker.
»Der Büchermörder« nähert sich dem kriminellen Bibliophilen, der zur Finanzierung seiner Sammelsucht nicht nur Kirchengelder unterschlagen, sondern auch zwei Morde begangen haben soll und in einem spektakulären, mehr als zehnjährigen Indizienprozeß 1823 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, auf vielerlei Weise. Zum einen rollt Opitz in seinem Roman den Fall neu auf, präsentiert Zeugenaussagen, Vernehmungsprotokolle und belastende Kassiber des die Taten zeitlebens leugnenden Angeklagten, andererseits aber bemüht sich Opitz auch um eine Typisierung von Tinius’ Charakter und präsentiert Zeitungsartikel über mordende Pfarrer, beschreibt andere Büchersammler und verfolgt die Spuren früherer Tinius-Forscher bis nach Amerika. Und zu guter Letzt ist Detlef Opitz selbst ein Bücherschwärmer und begeistert sich in seinem Buch für einzelne Stücke der Sammlung des Magister Tinius, die nach dessen Verurteilung zwangsversteigert und in alle Winde verstreut wurde.