Erzählungen. Mit Zeichnungen von Anna Frauendorf
Eine halb gerauchte Zigarette auf einem Blumenuntersatz. Der Duft von Eichenmoos im Textil eines nassen Kleides aus der Jahrhundertwende. Der Rest einer geschälten und halb gegessenen Orange, die in den Rinnstein gerollt ist. Jemand, der vergißt, daß er Tomatensuppe bestellt hat, während er noch in die rote Farbe vertieft ist, am Fenster sitzt, vor dem es weiter regnet.
Facettenreiche Alltagssituationen, in Nichts aufgelöst, das sind die Erzählungen von Gesche Blume - denn in einem Zeitalter der Auflösung leben wir. Dekadenz, hätten ihre Figuren gern gesagt. Gesche Blume behauptet von sich, sie sei schon im Koma auf diese Welt gekommen und seither nicht mehr wirklich erwacht.
"Die Prosa von Gesche Blume hat etwas Lyrisches, zugleich philosophisch Tastendes. Ein weites Feld für Assoziationen wird aufgeschlagen und vieles bleibt schwebend. Gerade für die kurze Prosaform ein sehr geeigneter Stil." (Constanze John)
Gesche Blume: geb. 1967 in Wolfenbüttel, Studium der Literaturwissenschaften in Hannover, Marburg und London, Promotion über Irmgard Keun, studierte am Deutschen Literaturinstitut, lebt in Leipzig
Leseprobe:
Schade
Sie steht in dem leeren Zimmer, unter den Staubflusen schimmert das Parkett. Vielleicht regnet es, irgendwo. Der Mann steht auf der entgegengesetzten Seite des Raumes am Fenster; in einen dunklen Mantel gehüllt, hält er sich an der Heizung fest. Sie spricht zu ihm, schenkt ihm einen verstohlenen Blick, er antwortet sogar. Niemand darf es erfahren, mein Lieber! Der Raum füllt sich, die Menschen tragen Stühle und Tische herbei, beginnen zu lesen. Weißes Papier raschelt. Vielleicht wird der Mann einen Vortrag halten. Er kommt von der Fensterseite langsam auf die Tischreihen zu, hält eine frühreife Birne in der Hand. Stiel und Blatt entfernt er zaghaft. Er setzt sich zu den anderen, schließt die Reihe. Sie bleibt in der Tür stehen. Neben ihr steht noch eine Obstkiste mit grünen Birnen, die würde sie lieber verschwinden lassen. Doch nicht hier, nicht in diesem Raum! Wenn er gleich zu reden beginnt, würde sie die Birnen essen müssen, die stopfen ihr den Mund. Die anderen sehen nichts davon, sitzen über ihre raschelnden Papiere gebeugt.
Wir gehen auf der Straße, unter einem Regenschirm, der glitzert schwarz oder dunkelblau, wie dein Mantel – oder wie unsere Nerven damals, als sie sich berührten. Du hältst den Schirm fest und lädst mich ein, doch bei dir zu bleiben. Aber ich weiß, wann ich gehen werde, zurück in dieses Zimmer, wo sie Tische und Stühle wieder entfernen, nachdem ihr dort wart und ich die Birnen vor euren Augen essen mußte. “Schade”, sagt er. “Wenn du geblieben wärst, hätte ich dir vielleicht gestanden, daß ich Lord Chandos getroffen und mit Des Esseintes gesprochen habe. Doch nun ist es zu spät ...” Der Regen fällt noch viele Tage und Nächte. “Ja, es war zu spät, zu viel Dunkel um uns herum”, denkt sie versonnen, vielleicht ein wenig traurig – und doch erleichtert.