



Eingeleitet und aus dem Serbischen übersetzt von Robert Hodel
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Rastko Petrović verließ Serbien im Ersten Weltkrieg und wurde in Paris Teil der Bohème um Pablo Picasso, Paul Éluard, André Breton. Er entwickelte seinen eigenen, provokanten Stil und galt in den 1920ern als einflussreichster Dichter Jugoslawiens und war last not least besonders durch seine Homosexualität, die zu dieser Zeit noch kriminalisiert wurde. Er ging als Diplomat in die USA, bereiste als Ethnologe Afrika. Im neuen, sozialistischen Jugoslawien wird er ab den fünfziger Jahren, nach Titos Bruch mit Stalin, als Klassiker anerkannt. Robert Hodel gibt eine Einführung in Rastko Petrovićs unorthodoxes Leben und stellt repräsentative Werke in deutscher Übersetzung vor.
Rastko Petrović (geb. 1898 in Belgrad, gest. 1949 in Washington): War der neunte Sohn seines Vaters Dimitrij, eines Historikers, und seiner Mutter Mileva, einer Lehrerin. Rastko war der jüngere Bruder der bekannten Künstlerin Nadeshda Petrović. Die Familie Petrović war in Belgrad sehr bekannt und angesehen. In seiner frühen Kindheit verlor er seine Mutter und wurde von seinen Schwestern aufgezogen. Von 1905 bis 1914 besuchte er die Grundschule und die unteren Klassen des Gymnasiums in Belgrad. Auf dem Höhepunkt des Balkankrieges 1912 brach er seine Ausbildung am Gymnasium ab. Im Ersten Weltkrieg ging er zunächst als Freiwilliger an die Front, durchquerte Albanien und zog nach Frankreich, wo er das Gymnasium in Nizza abschloss und als Stipendiat der französischen Regierung an der juristischen Fakultät in Paris studierte. In Paris traf er viele Dichter und Künstler und pflegte den Austausch mit ihnen. Er schrieb Gedichte, Erzählungen und Berichte über Kunstausstellungen. 1921 veröffentlichte er den einzigartigen komischen Roman über das Leben der alten Slawen mit dem Titel „Burlesque des Herrn Perun, des Gottes des Donners”. Ende 1922 veröffentlichte er den Gedichtband „Offenbarung“. Während all dieser Jahre arbeitete er in Belgrad aktiv mit zahlreichen Autoren wie Milan Dedinac, Marko Ristić, Tin Ujević und anderen zusammen. Ihr Schaffen legte den Grundstein für den Surrealismus in Serbien. Später arbeitete er als Sachbearbeiter im Außenministerium und wurde Ende 1923 als Assistent eingestellt. Im Oktober 1926 wurde er zum Beamten in der Vertretung des Außenministeriums im Vatikan unter der Leitung von Milan Rakić ernannt. Rakić ermöglichte ihm Reisen durch Italien, Spanien, Frankreich und die Türkei und vor allem durch Afrika. So erschien 1930 sein großer Reisebericht mit dem Titel „Afrika”. 1935 wurde er zum Vizekonsul sechsten Ranges im Generalkonsulat in Chicago ernannt. 1936 zog er nach Washington, um dort als Sekretär der Botschaft zu arbeiten. Er bereiste die USA, Kanada, Mexiko und Kuba. Während des Zweiten Weltkriegs blieb er in den USA, schrieb Gedichte für die Sammlung „Mitternächtliche Werke“. Im Alter von 51 Jahren starb er am 15. August 1949 plötzlich an einer Krankheit in Washington. Er wurde auf dem Friedhof Shady Creek in Washington beigesetzt. 1986 wurden seine sterblichen Überreste nach Belgrad überführt.
Robert Hodel: geb. 1959 in Buttisholz (Luzern), studierte Slavistik, Philosophie und Ethnologie in Bern, Sankt Petersburg, Novi Sad und Prag. Seit 1997 ist er Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Seine Übersetzungen und Biographien sind mit dem Petropol-Preis der Stadt Petersburg (2015), der Goldenen Verdienst-Medaille der Republik Serbien (2021) und dem serbischen Slawistenpreis (2025) ausgezeichnet worden.
„Petrović ist so etwas wie unser Mallarmé, Rimbaud oder Lautréamont ... Er weckte seine ganze Umgebung zur Poesie auf. Wo immer er war, war auch Poesie.“ Stanislav Vinaver
Der sechste Tag
Montag, 2. November 1915
Ein neuer Tag brach an.
Alle schliefen noch. Stevan Papa-Katić tauchte immer wieder aus dem Schlaf auf, jedoch nur soweit, um sich gewahr zu werden, dass er fröstelte. Ganz wach wurde er nicht. Alles vermischte sich in einem Traum, in dem er über einem riesigen, für ihn unsichtbaren Licht im kalten Schlamm versank. Und immer wieder fiel er so tief in den Schlaf zurück, dass er nichts mehr wahrnahm.
Am Morgen, als er endlich die Augen öffnete, hatte er das Gefühl, aus einem Abgrund in die Höhe geschleudert zu werden. Vom jähen Erwachen erschreckt, spürte er keuchend sein banges Herz rasen; Blut schoss ihm in den Kopf. Und nach einer Weile schaute er mit jener ruhigen Verzweiflung um sich, mit der die halbe Menschheit Morgen für Morgen ins Leben zurückkehrt. Ich muss mich von etwas befreien. Aufstehen. Vergessen, dass es existiert! Langsam mich umsehen!
Er erhob sich. Spürte etwas Bitteres im Mund, im Blut, in seinen Gedanken. Er wollte sich wieder setzen, seinen Kopf verhüllen, schämte sich aber. Es drängte ihn hinaus, seine Notdurft zu verrichten. Als er über den Balken lief, stürzte er beinahe, so träge und betrübt fühlte er sich. Von der Schwelle der Wassermühle aus sah er noch ein paar verspätete Gestalten, die sich auf der Straße langsam verloren. Das riesige, mächtige Gebirge nahm sie wie ein Rachen auf, als wollte es sie verschlingen.
Die gewaltigen Bergwälder stiegen, noch nass von der nächtlichen Feuchtigkeit, von allen Seiten die Felsen herab, bis unter die Erde, unter das Wasser, das überall hervorsprudelte. Und im nächsten Augenblick schon waren weder Menschen noch Behausungen zu sehen. Der „Ford“, der etwas weiter entfernt stand, schien, perspektivisch verkleinert, irgendwie winzig, lächerlich zu sein. Sein Gerippe, von Wasser und Schlick durchtränkt, mit gebrochenem Rückgrat, wirkte ebenso verlassen und unglücklich wie der Mensch, der es betrachtete.
Stevan nahm sein Gepäck und schlug den Weg ein, auf dem er gestern gekommen war. Den Koffer ständig von der einen Schulter auf die andere wechselnd und wie im Traum über die Sturzbäche springend, ohne irgendetwas zu verstehen, identifizierte er sich allein mit der Straße, als führe sie ihn zu sich selbst zurück, und mit den Stromschnellen, mit ihren Läufen, ihrer Seelenlosigkeit, eigentlich: mit der Absenz des Lebens, und letztlich, mit dem Tod.
„Ich komme nirgendwo hin“, dachte er, „ich komme nirgendwo an, ich, der Tod, ich, die Verlassenheit und die Verzweiflung, in einem Körper, der erst siebzehn Jahre alt ist. Selbst, wenn ich auf demselben Weg an denselben Ort zurückkehre. Nirgendwohin, zu nichts und niemandem, nicht einmal zu meiner Geburt, die der Ursprung dieses Flusses und meiner selbst ist.“
Er erreichte Kuršumlijska Banja* erst gegen Abend, zu einer Zeit, als sich von der anderen Seite, von Norden her, ganze Kolonnen von Autos und Lastwagen durch den Schlamm quälten.
Er lief zur Grundschule, in der er vor zwei Tagen übernachtet hatte; er wollte keine andere Schlafstelle aufsuchen, da diese ihm vertraut war, als sei er hier aufgewachsen, ohne sich den Ort ausgesucht zu haben, ohne ihn zu lieben; er kannte ihn einfach nur. Doch es überraschte ihn, hier nicht einen einzigen der Menschen anzutreffen, die er gestern gesehen hatte. Es war gestern ein dichtes Gedränge gewesen, wie in der Eisenbahn, und so war es auch jetzt, und dennoch handelte es sich um eine völlig andere Welt.
Kaum erschien er an der Tür, verfinsterten sich im Raum die Gesichter, die Körper machten sich breiter. Doch in einem der Klassenzimmer fand er noch eine freie Ecke, die niemand verheimlichen konnte.
– Ich habe hier vor zwei Nächten geschlafen – sagte Stevan, als müsste er sich entschuldigen.
– Hier?
– Ja, in dieser Schule. Ich bin dann weitergezogen, bin aber wieder zurückgekehrt.
– Warum sind Sie zurückgekehrt?
Papa-Katić zuckte mit den Schultern.
– Ich kam allein nicht über die Berge, und das Auto, mit dem ich mitfuhr, brach vor Prepolac auseinander.
Ein Mädchen hatte einen Hustenanfall, an dem es fast zu ersticken drohte. Es lag zwischen zwei Erwachsenen, langgestreckt, unwirklich langgestreckt, in mehrere Schals gewickelt, bleich. Stevan zählte, langsam, voller Unruhe, wie viele es im Zimmer waren. Genau zwanzig. Eine runde Zahl. Ein gutes Zeichen. Die junge Frau zuckte mit den Armen, als sei ihr ganzer Körper auf eine Feder gespannt, bevor sie erneut furchterregend zu husten begann.
– Du kriegst jetzt etwas Tee – murmelte ihr eine dicke Frau voller Zärtlichkeit zu und beugte sich stöhnend über sie.
– Du bist nur ein bisschen erkältet, das ist alles!
Doch dann geriet die Frau immer mehr in Wut, bis sie schließlich schrie:
– Ich habe dir doch gesagt, du sollst das Kopftuch über die Nase ziehen. Warum hast du heute Morgen das Kopftuch nicht über die Nase gezogen, wenn ich es dir doch gesagt habe? Jetzt muss ich wieder für alles den Buckel hinhalten. Oh, wie ich das Leben leid bin, leid, leid. Wie lange noch soll ich die Krankenschwester spielen?
Stevan zwängte sich gequält nach draußen. Hastig lief er auf die andere Straßenseite, zu einem Häuschen, wo sich die Lehrerwohnung befand. Er klopfte an ein beleuchtetes Fenster. Eine Frau mit Kopftuch erschien im schmutzigen Glas, vergeblich bemüht, etwas zu erkennen. Sie kam vor die Tür.
– Ist hier vor zwei Tagen nicht eine andere Frau gewesen? – fragte Stevan.
– Was für eine Frau? Es gibt auf der Welt so viele Frauen – erwiderte sie träge unter der Tür.
– Miras Tante. Sie hat eine Nichte, die Mira heißt. Ich möchte wissen, wie es ihnen geht.
– Die Tante ist irgendwo hier in Banja, sie schläft. Sie hat den ganzen Tag gejammert. Nun schläft sie. Mira hat sich gestern Nacht erhängt, vergeb’ ihr Gott. Dort hinten, im Stall. Sie hat die ganze Zeit davon gesprochen; ihre Mutter ist auch an Schwindsucht gestorben und nicht mehr ganz bei Sinnen gewesen. Heute Morgen hat man sie begraben. Der Pope wollte sie nicht aussegnen. Da sieht man, wieviel ein menschliches Geschöpf wert ist. Was wollten Sie denn von ihr?
– Sie ist mir eben in den Sinn gekommen. Sie hatte zu mir gesagt: „Ich habe Schwindsucht…“
Papa-Katić kehrte an seinen Platz zurück, setzte sich ins Halbdunkel. Er stellte sich die junge Frau vor, die im Stall hing, am Ende dieses übelriechenden Innenhofs, durch den ihre Tante schreiend rannte. Er sah ihren schmächtigen, hängenden Körper und die Hühner, die um ihn herum pickten, und das spärliche Licht, das auf die Schuhe fiel. Sie war fremd und fern inmitten dieses Gestanks, der lebte, dieses Federviehs, das lebte, dieses Lichts, das lebte, dieser schrillen Schreie, die sich nicht mehr auf sie bezogen. Und sie nahm in ihrer Fremdheit zu viel Raum ein, da sie nicht einmal mehr den Tod darstellte, den die Lebenden in sich tragen. Sie war nur mehr eine hässliche, zwecklose Form, die mit jener jungen Frau nichts mehr gemeinsam hatte, die dem Tuchmacher mitteilte, sie würde ihm die Decke zurückbringen, da sie eben Blut gespuckt habe, und sie würde ins „blaue Meer“ ziehen. Das war alles, was sie gesagt hatte: „ins blaue Meer.“ Und als ob alles um sie herum sich freute und zeigen wollte, zehnmal intensiver als zuvor zu leben, blieb nur sie ohne Bedeutung zurück, ohne Gewicht, mit herausgestreckter, geschwollener Zunge. Und doch war das Wichtigste: „dass sie noch ein bisschen leben konnte, wie kurz es auch gewesen sein mochte, noch ein bisschen leben, und dass sie von nichts mehr lebte, und dass sich das blaue Meer über ihr Geschick ausbreitete, dass der Tod absolut war, dass Tod und Leben nicht zusammengingen, dass im Menschen auch Todessehnsüchte und Todesgefühle existierten, dass sich alles auf die Frage reduzierte, ob sie noch atmete oder nicht…“
Papa-Katićs Blick schweifte über die Menschen, die sich schon alle hingelegt hatten – über das Mädchen, das sich in die Schals gehüllt hatte, über seine Eltern, über andere, dicht Behaarte und Bärtige. Er dachte an etwas, auf das er oft zurückkam, ohne seine Bedeutung wirklich zu verstehen – nicht die absolute Bedeutung, sondern die Bedeutung, die es für ihn haben könnte –, er dachte an das, was ihn ständig und hartnäckig begleitete. „Wasser und Feuer? Nein. Nicht Wasser, nicht Feuer, nicht Erde, nicht Luft. Und dennoch etwas in diese Richtung!“
Die Zeit verging nur langsam. Sie zog sich dahin, obwohl die Leute redeten. Nur das Mädchen, das zwischen seinen Eltern auf mehreren Decken lag, in Schals gehüllt, schwieg. Die junge Frau kannte das Geheimnis, das sie umgab, und schwieg. Wozu auch sprechen! Warum zeigen, dass sie es wusste, warum zeigen, dass ihr alles gleichgültig war, was sich auf sie bezog. Im Grunde genommen war überhaupt alles egal, egal, egal. Wenn nur die „Krankenschwester“ schweigen und nicht dauernd beteuern würde, Opfer zu sein, es nicht mehr auszuhalten!
Stevan fühlte deutlich: „Wenn ich zu mir ’jetzt’ sage, ist dieses ’jetzt’ bereits ein ’zuvor’, und das ’darauf’ ist zum ’jetzt’ geworden. Ich bin ’bereits’ gestorben, weil ich eines Tages sterben werde. Nichts mehr in mir ist lebendig. Wollte ich eine Bewegung machen, ich wäre dazu nicht imstande. Wollte ich aussprechen…“. Stevan bot alle Kräfte auf: „Wenigstens sprechen!“
– Als ich eben hereingekommen bin – sagte Stevan mit größter Mühe und doch laut – habe ich im Gang Benzinfässer gesehen. Um sie herum liegen Leute und rauchen.
– Es ist wahr – bemerkte jemand in der Nähe – es ist auch mir aufgefallen, ich hatte es aber wieder vergessen.
Fünf, sechs Gestalten sprangen auf, rannten hinaus, um nach den Fässern zu sehen.
– Es ist gut, alles ist gut – sagten sie, als sie zurückkamen – dort sind Gendarmen, wir haben sie gebeten aufzupassen, dass niemand in der Nähe raucht.
„Der Mensch kann den Gedanken nicht ertragen, dass ein anderer zu leben aufhört, denn dadurch hört auch ein Teil seiner selbst zu leben auf…“
Stevan döste. Kurze oder vielleicht auch längere Zeit später nahm er im Halbschlaf wahr, dass der Husten des Mädchens anders klang. Etwas in ihm hatte sich verändert. Er öffnete die Augen. Es herrschte vollkommene Dunkelheit.
– Wo hast du den Apparat? – sagte eine Frau mit fürchterlich erschrockener Stimme. – Jovan, such, such. Dummkopf, du weißt doch – ich habe ihn dir gegeben, damit du ihn in deine Tasche steckst. Mein Herzchen, beruhige dich. Herzchen!
Das Mädchen hustete erneut, ächzte, jaulte beinahe.
– Hier, gute Frau, ich habe ihn gefunden – sagte eine Stimme. Ein Streichholz flammte auf.
Eine Kerze wurde angezündet. Das Mädchen saß auf dem Boden, aufrecht, wie eine Wahnsinnige, überall mit Blut beschmiert. Mit jedem Hustenanfall schoss aus ihr eine rote Lache. Sie schaute auf ihre Eltern, auf die Leute, die sich erhoben, und zwischen zwei Attacken schrie sie:
– Nein! Lasst mich nicht sterben! Lasst mich nicht sterben!
Ihr Gesicht war entstellt. Tränen rannen ihr aus den Augen. Stevan wollte hinaus, doch die Tür war von Menschen versperrt, die gleich hinter ihr schliefen und ihn beschimpften, er solle sie nicht anrempeln. Er kehrte an seinen Platz zurück. Er wollte den Worten der Frau Glauben schenken, die meinte:
– Es ist nichts, Kindchen. Es ist bei dir nicht das erste Mal. Warum hast du dich so erschrocken? Ich habe es viermal gehabt, als ich noch ein Mädchen war. Hab keine Angst, hab bloß keine Angst!
– Lass mich nicht sterben, Mama, Mama! Lass mich nicht sterben!
„Und Mira“, erinnerte sich Stevan, „die den Tuchmacher noch am Vortag aufsuchte und zu ihm keuchend, mit wunderlichem Feuer in den Augen, sagte: ‘Man ruft dich, du sollst die Decke holen. Man ruft dich, und ich gehe ins blaue Meer, ins blaue Meer!‘ Und dann sah man sie im Schuppen hängen, über dem Stroh, mit gefletschten Zähnen, mit zwei gebündelten Sonnenstrahlen, die schräg über ihre Beine liefen.“
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