Agnes
Kürzlich riefen mich meine Eltern ins Wohnzimmer – ich hörte gerade die neue CD von „Gentleman“. Mutter sagte, „wir haben eine Überraschung für dich.“ „Oh toll, ich bin gleich unten.“ Vater hatte den Beamer aufgebaut und saß auf dem Sessel. Das bedeutete Filmabend. „Du bist letzte Woche sechzehn geworden. Wir wollen dir ein paar Aufnahmen aus deiner Kindheit, frühen Kindheit zeigen“, verkündet Vater. „Gibt's da welche, die ich noch nicht kenne?“, frage ich verwundert. „Ja, tatsächlich. Komm, setz dich aufs Sofa. Mama holt noch was zum Knabbern.“ „Du warst ganz früh schon ein kleiner Star, musst du wissen“, sagt Vater, „wenn auch ein namenloser“, wirft Mutter lachend ein, als sie mit dem Gebäck hereinkommt. „Na, ihr macht das aber spannend“, antworte ich und pflätze mich aufs Sofa. Vater schaltet den Beamer ein und sagt: „Zuerst kommt eine reine Tonaufnahme. Danach Fotos und Filmchen. Mit einem Knistern beginnt die Tonaufnahme, dann folgt ein Babylachen, in das eine Frauenstimme hineinspricht: „Bismarck-Apotheke! Mit uns werden Sie wieder gesund und bleiben es.“ Dann ertönt das Babylachen erneut. Ich schaue meine Eltern verblüfft an. „Das bist du, nicht einmal ein Jahr alt“, versetzt stolz meine Mutter. Die Werbung ist bei Kaufland geschaltet worden und lief dort mehrer Jahre. So früh warst du schon berühmt“. Ich verstumme auf dem Sofa. Frage mich, was geht hier vor. „Jetzt folgt ein Filmchen, mal sehen, ob du alle darin wiedererkennst“, sagt Vater.
Ein Farbfilm beginnt und zeigt ein Cabrio, eine Allee entlang fahrend. Dann zoomt die Kamera heran und man sieht Vater am Steuer und auf dem Beifahrersitz unseren Hund Basso. Auf der Rückbank sitzen meine Mutter und ich. Mutter packt gerade eine weiße Schokolade aus, bricht einen Riegel davon ab und steckt ihn mir zwischen die Finger. Ich beiße sofort hinein und lache. Dann ertönt ein Werbespruch: „Schokolade, wie sie alle mögen, groß und klein. Mit Schokolade einfach glücklich sein.“ „Da bist du schon drei Jahre alt“, sagt Vater. Mir ist, als würden mir augenblicklich die Beine weggezogen. „Und freust du dich nicht über die schöne Aufnahme? Wie süß du gekleidet warst“, sagt Mutter. Ich frage: „Hatten wir damals ein Caprio?“ „Nein, das wurde für die Aufnahme gestellt“, antwortet Vater. „Ich glaube, ihr gefallen die Aufnahmen nicht“, wendet Vater sich an Mutter. „Ach, sie muss sie erst einmal in Ruhe anschauen. Sie ist einfach überrascht.“ Jetzt folgt ein Foto. „Das hing als Riesenformat neben der Eingangstür von Kaufland“, erklärt Vater. Darauf seh ich wieder uns vier: Vater, Mutter, Basso und ich. Ich sitze auf Papas Schultern. Unter dem Bild steht: „Hier macht Einkaufen soooo richtig Spaß“. „Ich hasse diese Bilder“, bring ich nur schluchzend hervor. „Wer hat euch erlaubt, das mit mir zu machen?“ „Nun mal langsam, Agnes“, hakt Mutter ein. „Was gefällt dir denn daran nicht? Sind doch schöner Bilder. Wir haben damals als Familie von sehr kleinem Geld gelebt, mussten uns irgendwie über Wasser halten. Da hat Vater das Casting-Gesuch gelesen“.
„Und was ist mit der Baby-Aufnahme, meinem Lachen?“ frage ich empört. „Ach, das kann doch von jedem beliebigen Kind sein“, entgegnet Mutter. „Tut es aber nicht“, antworte ich verletzt. „Stefan, jetzt haben wir's doch falsch gemacht. Und wir dachten“, wendet Mutter sich mir zu, „du würdest dich freuen, wärest stolz.“ „In diesen Werbespots eine Rolle zu bekommen war nicht einfach. Es gab ein strenges Casting“, unterstreicht Vater. „Mama und ich verstehen nicht, was du hast“. „Und wie viele Aufnahmen gibt es noch? Auf jeden Fall möchte ich keine weiteren sehen“, sage ich. „Aber trotzdem wie viele gibt es noch?“ Vater überlegt kurz: „Noch vier“. „Und wofür werben die?“ frage ich. „Eine für den leckeren Obstsaft, den du so gern getrunken hast, und noch drei für Autos, praktische Familienwagen.“ “Versteh bitte, Agnes“, greift Mutter ein, „du solltest gute Kleidung bekommen und nahrhaftes Essen. Außerdem haben Papa und ich mitgespielt. Nur bei der Apothekenwerbung warst du allein. Aber da ging's nur um deine Stimme.“ „Genau“, pflichtet Vater bei.
„Ich dachte, in Deutschland sei Kinderarbeit verboten“, trumpfe ich traurig auf. „Willst du das Arbeit nennen? Achte mal darauf“, sagt Vater, „ wie viele Kinder bei Filmen, Fernseh- und Plakatwerbung mitmachen. Es gibt Sachen, die speziell für Kinder gefertigt werden. Wie soll man die ohne Kinder bewerben?“ „Ihr habt mich ohne mein Einverständnis für Werbung benutzt! Und was war später, als ich Bewusstsein hatte, brauchtet ihr da die Werbeeinnahmen nicht mehr?“ „Ja, Agnes, so war es“, antwortet Mutter, „da reichte das Geld, weil ich Arbeit angenommen hab und du im Kindergarten warst. Auf jeden Fall wollten Papa und ich dir heute nicht wehtun, sondern dir eine Freude bereiten.“ „Mama, versteh doch. Ihr wart in dem Werbeclip in einer Rolle, ich aber war ich selber, ohne jeden Schutz. Ich bin traurig, nein, schlimmer.“ „Wir reden morgen weiter“, sagt Vater.
Indessen hat er den Beamer ausgestellt und die DVD entnommen. „Die werde ich vernichten“, sage ich zu mir selbst. „In Deutschland ist Kinderarbeit verboten“, wiederhole ich. „Du verstehst nicht, Agnes“, sagt Vater. „Kinderarbeit bedeutet, wenn Kinder in Minen schuften oder Mädchen auf den Strich geschickt werden. „Diese Kinder konnten aber im Gegensatz zu mir in eine Rolle schlüpfen, wenn auch in eine grausame“, bring ich noch leise hervor und fliehe auf mein Zimmer.
"Die Texte kann man zwischendurch, fast wie eine Notiz, wie simple Gespräche wahrnehmen, und dabei fällt doch überall der Putz ab, fährt man ins Herz hinein und hinaus, der Schrott der Geistlosigkeit und der Humor des Wachsamen, alles das, in geradezu "einfacher" Sprache machen das Verblüffende: Als wäre es so dahingesagt, trockener Alltag, und doch die Abgründe und das Fragen nach Berührbarkeit." Bertram Haude
"Zum Glück gibt es sie noch, die Leserinnen und Leser. Die sich vom Etikett „Portraits“ nicht irritieren lassen sollten. Denn es sind keine Portaits. Auch keine Porträts. Walter Thümler ist kein Maler, kein Fotograf und auch kein Journalist. Er ist Dichter und Übersetzer. Er lebt in Wahrenberg bei Wittenberg an der Elbe. Und seine Bücher erscheinen recht konsequent im Leipziger Literaturverlag. Zuletzt besprachen wir hier
einen Band Sentenzen von ihm,
Poetologische Notizen und den Gedichtband
„Was draus wird“ ... Logisch, dass Walter Thümler diese Menschen nicht porträtiert. Aber er schlüpft in ihre Rollen, verwendet andere Namen, verfremdet die oft beklemmenden Handlungen, aber er zeigt auch, dass man als Erzähler sehr wohl in die Innensicht von Menschen schlüpfen kann, die einem da täglich als Helden und Monster serviert werden. In die des Richters zum Beispiel, der seine eigene Rolle als richtende Instanz infrage stellt, oder in die der Mutter, die ihr Kind verhungern lässt, weil ihr neuer Lover sie nur ohne Kind haben will, in die der jungen Frau, die die Nase voll hat, sich von Leiharbeitsfirmen und Jobcentern verarschen zu lassen … Manche Geschichten in diesem Buch sind auch ganz uralte Geschichten, wie die von der jungen Schönen, die sich mit dem Zimmermann, den sie liebt, nicht körperlich einlassen möchte und trotzdem schwanger wird. So kommt die Jungfrau zum Kinde. Viele der kleinen Berichte, die Thümler in diesem Band gesammelt hat, sind Paar-Geschichten. Auch verstörende Paar-Geschichten. So verstörend, wie sie im Leben ja wirklich sind. Man findet sich, liebt sich – aber wehe, eine von beiden beginnt neue Interessen zu entwickeln und über die Beziehung hinauszuwachsen. Oder Wünsche an intensives Geliebtwerden zu entwickeln, aber nicht darüber reden zu können, weil sie den Zufriedenen an ihrer Seite nicht verschrecken will ... Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft sollten das Allerselbstverständlichste sein. Sind sie aber nicht. Womit man wieder bei dem Richter wäre, der genau weiß, dass er zwar Recht spricht – aber gerade den armen Seelen gegenüber meist ungerecht. Thümler schaut auf unsere Gesellschaft ganz offensichtlich mit dem mitfühlenden Blick eines Charles Dickens ... Aber wo sind die Grenzen des Einfühlens? Da, wo der Leser nicht weiß, wie Zeitungen wirklich ticken. Da sieht der kleine Leser in den großen Zeitungen eine Macht, die sie schon lange nicht mehr haben. Von der aber Chefredakteure nur zu gern glauben, sie hätten sie noch. Dem Druck eines enthemmten Marktes geschuldet, der viel unbarmherziger wirkt, als es die leichtgläubigen Leser ihrer gescholtenen Regierung zutrauen. Ein Markt, der nicht nur Frauen und Männer verschlingt und ausbeutet, was nicht ausgebeutet werden darf. Sondern auch die Seele einer Gesellschaft auffrisst, indem er ihren inwendigen und notwendigen Dialog zerstört. Dann werden Ungetüme wie Wachstum, Wettbewerb und Effizienz zu heimlichen (und unheimlichen) Göttern. Und verschlingen das, worum es Thümler eigentlich in seinen 24 Geschichten geht: das Recht der Menschen, ein selbstgewähltes Leben leben zu dürfen – mit Anstand, Stolz und Zuversicht."
Ralf Julke, Leipziger Zeitung