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Zweisprachig. Aus dem Französischen von Margret Millischer
Rilke lernte Mimi Romanelli 1907 während eines Venedig-Aufenthaltes kennen. Seine Briefe künden von Verliebtheit und Schwärmerei, von Huldigung als Quelle der Inspiration, aber auch von Vorwürfen und Ausflüchten. Die kunstvoll skizzierten Stimmungsbilder offenbaren Rilkes besonderen Charme: sein Talent, durch Worte zu verführen, sich bei Entflammen des Gegenübers aber sofort zurückzuziehen. Zugleich betont Rilke den Stellenwert, den das Schreiben in seinem Leben beansprucht, und preist die Einsamkeit, die es als Tribut fordert. Die auf Französisch geführte Korrespondenz zwischen Rilke und Mimi Romanelli wurde bisher ausschließlich in Italien und Frankreich veröffentlicht. Die zweisprachige Ausgabe beinhaltet sowohl das französische Original als auch erstmals die deutsche Übersetzung der Briefe.
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926): eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke, gilt mit seinen vollendeten, von der Bildenden Kunst beeinflussten Lyrik als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Moderne, verfaßte Erzählungen, einen Roman und Essays sowie zahlreiche Übersetzungen von Literatur und Lyrik unter anderem aus dem Französischen. Sein umfangreicher Briefwechsel bildet einen wichtigen Bestandteil seines literarischen Schaffens.
Margret Millischer: geb. 1957, Studium der Romanistik und Kunstgeschichte sowie Übersetzen und Dolmetschen an der Universität Wien und der ESIT in Paris, seitdem Tätigkeit als Übersetzerin, Dissertation über "Die Rezeption Lou Andreas-Salomés in Italien", Lehrbeauftragte am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien
"Das ist eine feine Sache, dass die Romanelli-Briefe wieder greifbar sind und das auch noch mit deutscher
Übersetzung. Übersichtlich und schön gesetzt. Das ausführliche und die Forschung gut berücksichtigende Nachwort ist eine nützliche Einstiegshilfe für alle, die sich mit den Briefen beschäftigen wollen und werden." Prof. Dr. Erich Unglaub
Die organisierte Flucht des Rainer Maria R.: Briefe an eine venezianische Freundin
Ralf Julke, L-IZ
⇒ www.l-iz.de/Bildung/Bücher/2011/03/Rainer-Maria-Rilke-Briefe-an-eine-venezianische-Freundin.html
Rilkes französische Megakarriere
Margaret Millischer, STANDARD
⇒ derstandard.at/1297818966014/Literatur-Rilkes-franzoesische-Megakarriere
Leseprobe:
Venise, 26 Novembre
vers minuit
Ma chère et belle Amie
pour la première fois seul avec votre portrait je dois dans le silence de la nuit vénitienne vous écrire. Quelle que soit petite cette lettre, elle gardera l’avantage d’être la première. Il y en aura d’autres qui vous répéteront ce qu’elle vient vous dire tout ingénument :
combien je suis heureux de vous avoir rencontrée belle et admirable comme vous l’êtes en tout. J’apprends votre beauté comme un enfant à qui on raconte une belle histoire. J’admire ce que vous êtes devenue en souffrant sincèrement. Votre cœur a grandi où d’autres périssent. Ne l’oubliez jamais. Ne vous enfermez pas dans un sort, restez ce que vous êtes ; gardez les ailes d’ange qui vous permettent d’entrer dans une vie qui vous a attendue sans le savoir —. Ce sont ces mêmes ailes qui vous emportent vers votre Art. Prenez tous vos essors et imposez à ceux que vous rencontrez votre beauté et votre âme comme une loi. Soyez tranquille, chère, dans tout ce qui vous arrive : vous êtes sauvée.
Après tout ce dont nous avons parlé, que nous avons senti ensemble pendant ces jours, il est bien naturel que je vous aime. Il faut restituer ce mot dans son ancienne grandeur : c’est pour cela que je le prononce ; de loin : parce que j’ai pris sur moi toute ma solitude ; de près : parce que ceux que j’aime m’aident infiniment à la supporter. —
Plus tard il me semblera toujours d’avoir pensé au moment où je vous ai vue la première fois : mais c’est elle, c’est Mimi —. Car je vous aime depuis toujours. Mais je vous aimerai mieux depuis que je vous connais.
Bonne nuit, chère Amie, il est trop tard pour écrire. Et grand merci à vous et à votre bonne et chère Sœur : je me repose infiniment dans votre bonté.
Votre
Rainer Maria Rilke
Venedig, 26. November
gegen Mitternacht
Meine liebe und schöne Freundin
zum ersten Mal allein mit Ihrem Porträt (1), muss ich Ihnen schreiben in der Stille der venezianischen Nacht. Ist dieser Brief auch noch so klein, so hat er doch für immer den Vorzug, der erste zu sein. Dann mögen noch andere kommen, die Ihnen wieder und wieder sagen, was er Ihnen ganz unbefangen erklärt:
Wie glücklich ich bin, Ihnen begegnet zu sein, schön und bewundernswert wie Sie sind in allem. Ich erfahre Ihre Schönheit wie ein Kind, dem man eine schöne Geschichte erzählt. Ich bewundere, was Sie geworden sind durch echtes Leiden. Ihr Herz ist größer geworden, wo andere zugrunde gehen. Vergessen Sie das niemals. Schließen Sie sich nicht ein in ein Schicksal, bleiben Sie, was Sie sind; behalten Sie die Engelsflügel, mit denen Sie in ein Leben gelangen können, das auf Sie wartete, ohne es zu wissen —. Eben diese Flügel sind es, die Sie zu Ihrer Kunst tragen. Schwingen Sie sich hinauf und zwingen Sie jenen, denen Sie begegnen, Ihre Schönheit auf und Ihre Seele, wie ein Gesetz. Seien Sie ruhig, Liebe, in allem, was Ihnen widerfährt: Sie sind gerettet.
Nach allem, worüber wir sprachen, was wir gemeinsam fühlten in diesen Tagen, ist es nur natürlich, dass ich Sie liebe. Man muss diesem Wort seine alte Größe zurückgeben: Deshalb spreche ich es aus, von fern: weil ich all meine Einsamkeit auf mich genommen habe, von nah: weil jene, die ich liebe, mir unendlich helfen, sie zu ertragen. —
Später wird mir immer scheinen, in dem Augenblick, als ich Sie das erste Mal sah, gedacht zu haben: Aber das ist doch sie, es ist Mimi —. Denn ich liebe Sie immer schon. Doch ich werde Sie noch besser lieben, seit ich Sie nun kenne.
Gute Nacht, liebe Freundin, es ist zu spät zum Schreiben. Und vielen Dank Ihnen und Ihrer guten lieben Schwester: Ich ruhe mich unendlich aus in Ihrer Güte.
Ihr
Rainer Maria Rilke