Roman
Vincent Van Spickerdeel, Bürgermeister einer Hansestadt und Mann der Realitäten, engagiert trotz seiner Skrupel einen Magier zur Behebung eines Rattenproblems im Rathaus. Doch im Gegenzug verlangt der Magier - ein vagabundierender Zigeuner - Gastfreundschaft im Haus des Bürgermeisters und genau hier beginnt seine Gegenwart, Unheil zu stiften. Als der Zigeuner einer Gewalttat zum Opfer fällt, entspinnt sich ein schwerer Konflikt zwischen Van Spickerdeel und seiner Frau, dessen Wurzeln bis zum Anfang ihrer Beziehung zurückreichen: Was wie eine Kriminalerzählung mit satirischen Untertönen beginnt, entwickelt sich im Fortgang des Romans zu einer Parabel um Ehrgeiz, Wahn und Leidenschaft
- und die zerstörerische Gewalt der Liebe.
Suzanne Latour: geb. 1964 in Hamburg, Studium der amerikanischen und spanischen Literatur, Dozentin, freie Autorin, lebt in Hamburg.
"Das ist Erzählkunst vom Feinsten, fein ausbalanciert, zum Mitfiebern..." Ralf Julke, L-IZ
⇒ www.l-iz.de/Bildung/Bücher/2010/01/Suzanne-Latour-Spickerdeel.html
"Hochspannende, bewegende Lektüre, mit Meisterschaft erzählt." Dagmar Bode, Wochenblatt Waiblingen
Leseprobe:
I.
Es muß wohl eine sehr mißliche Lage sein, die einen Mann von Vernunft, Bürgermeister, Familienvater, und Politiker aus Überzeugung, dazu bewegt, sich auf Gedeih und Verderb einem Zigeuner in die Hände zu begeben, dessen Ab-sichten er nicht kennt, von dessen Herkunft er nichts weiß, und auf dessen moralische Lauterkeit er nicht unbedingt zählen kann. Man sollte meinen, die bloße Intuition hätte ihm sagen müssen, daß dies auf die Dauer nur zu desaströsen Ergebnissen führen konnte – andererseits gibt es im Leben Situationen, die selbst Verstandesmenschen, als welche Politiker gemeinhin zu gelten haben, zeitweilig um ebendiesen bringen können – unter gar nicht so seltenen Umständen soll dieser Mangel sogar chronisch werden. In unserem Fall aber gab es eine mißliche Lage, und sie bestand darin, daß das Kellergewölbe des Rathauses – also des Gebäudes, in dem er seinen Amtssitz hatte – im Verdacht stand, Ratten zu beherbergen. Nun sind Ratten in Städten keine Seltenheit, und man findet sich mit ihnen ab, solange ihre Zahl ein gewisses Ausmaß nicht überschreitet, und sofern sie klug genug sind, ihre Köpfe nicht aus Klosettschüsseln zu stecken oder sich in aufdringlicher Weise bemerkbar zu machen; in einer Hansestadt wie jener zumal, in der diese Geschichte sich zugetragen haben soll – Lübeck nämlich – mit ihrem Hafen, ihren Lagerhallen und ihren am Wasser gelegenen Speicherhäusern wäre die völlige Abwesenheit einer Ratten-population ein geradezu unheimliches, widernatürliches Phänomen. Dies da-hingestellt, was hatten sie im Rathaus zu suchen, wo es keine Mehl- und keine Pfeffersäcke gab, sondern allerhöchstens Akten und Archive, Chroniken, Urkunden und gebündelte Dokumente? Der Bürgermeister hatte sich hierüber bereits Gedanken gemacht, ja, er war schon fast zum Grübler geworden, seitdem er zum ersten Mal mit diesem Argwohn in den Keller hinuntergegangen war und dort in einem der entfernteren Gänge lange ins Dunkel gehorcht hatte, bevor er mit der Hand nach dem Lichtschalter tastete – worauf er ein leises, aber unmißverständlich trippelndes Geräusch zu vernehmen glaubte, das aller-dings zu schlimmen Befürchtungen Anlaß gab. Und dies in seinem wunderschönen Rathaus, jenem Kleinod der Renaissance und Spätgotik, in dessen spitzen, grünbezinnten Türmen, gemauerten Bogengängen und Arkaden noch die Erinnerung an die hanseatische Vergangenheit fortlebte, Monument demokratischer Selbstbestimmung zu einer Zeit, da die Mehrzahl der deutschen Städte noch unter fürstlicher Willkür und Selbstsucht zu leiden hatten! Als die erste Ratte ihren Weg ins Parterre gefunden hatte und in einem Putzeimer jämmerlich ertrunken war, verlor der Bürgermeister keine Zeit mehr und bestellte umgehend die Kammerjäger. Es waren erprobte, tüchtige Leute, sie versuchten es mit den drei klassischen Methoden – Gift, Gas und Schnappfalle – aber mit so gut wie gar keinem sichtbaren Erfolg: die Köder blieben liegen, das Gas verflüchtigte sich durch Ritzen und Fugen, ohne etwas Nennenswerteres getötet zu haben als ein paar harmlose Spinnen, die in einigen stillen Winkeln ein friedliches und abgeschiedenes Dasein geführt hatten und nun sozusagen in Vertretung starben, und auf irgendeine Weise brachten es die unerwünschten Mieter sogar fertig, die aufgestellten Fallen um ihr Lockmittel zu erleichtern und der Schnappvorrichtung unversehrt zu entkommen. Dies war seltsam, in gewisser Hinsicht sogar beunruhigend, hierin waren sich der Bürgermeister und die Kammerjäger durchaus einig, wenn auch weniger darin, was es zu bedeuten hatte, und nachdem die letzteren, bei bereits abergläubisch gekreuzten Fingern, sich sehr bedenklich angesehen, noch einmal alles geprüft, begutachtet, betastet und in Augenschein genommen hatten, steckten sie erneut die Köpfe zusammen und berieten sich, bevor sie sich anschickten, ihrem aufmerksam lauschenden Auftraggeber die Vorschläge der zweiten Kategorie – jener für erlesene Notfälle – zu unterbreiten: das gesamte Kellergewölbe in Schutt und Asche zu legen – es mit geweihtem Dampf auszuräuchern – es eine Woche lang unter Wasser zu setzen, das mit giftiger Schwefelsäure angereichert war –: wie man sieht, zerfällt auch die Gilde der Kammerjäger in Sadisten, Gewaltmen-schen und verkappte Jesuiten, und ihren Vorschlägen, so viele Möglichkeiten sie auch aufzeigten, blieb doch eines gemeinsam: ihre völlige Impraktikabilität, jedenfalls in den Augen Van Spickerdeels, der sich allerdings, Diplomat, der er war oder doch gerne sein wollte, hütete zu sagen, was er eigentlich darüber dachte: daß doch offenbar der Umgang mit Giftgas und eklem Getier die Gei-steskräfte dieser braven Zunftgenossen etwas in Mitleidenschaft gezogen hatte. Er dankte ihnen so herzlich, wie seine Enttäuschung es zuließ, bat sie, die Rechnung an die Stadt zu senden, und brachte sie persönlich bis zur Tür, indem er ihre Einwände mit der Bemerkung auffing, er werde sich nach einem neuerlichen Überdenken der Lage gegebenenfalls noch einmal an sie wenden. Danach saß er an seinem Schreibtisch, bis es dunkelte ... Seine Sekretärin klopfte zaghaft, sah in den dämmerigen Raum und wunderte sich. „Herr Van Spickerdeel, wollen Sie kein Licht anmachen? Sie können ja gar nichts mehr sehen ...“ – „Nein, vielen Dank, Frau Moldenhaupt, beunruhigen Sie sich nicht. Ich sitze manchmal gern im Dunkeln, wissen Sie ... – es hilft beim Nachdenken.“ – „Ach ... wirklich? Verzeihen Sie ...“ und etwas befremdet von solchen Methoden, die in diesem Gebäude durchaus neu waren, schloß sie leise die Tür. Das Licht hinter den Fenstern färbte sich tiefblau, ein paar Regentropfen fingen sich an den Scheiben, die herbstliche Düsternis, die über der ganzen Stadt lag, begann sich des Raumes zu bemächtigen. Der Bürgermeister saß bewegungslos in seinem Stuhl, den Kopf leicht zur Seite geneigt, das Kinn in die Hand gestützt, sah er stumm vor sich hin, während, ihm selbst unbewußt, seine Fingerknöchel einen unregelmäßigen Takt auf das polierte Holz der Lehne klopften; er fragte sich, ob es mehr der hygienische Aspekt dieser Angelegenheit war, der ihn mit dem stärksten Widerwillen erfüllte, oder der etwas anrüchige Charakter, der ihr anhaftete, mit welchem er der Irrationalität und Unvernunft seiner Gegner, von denen es bereits mehr zu geben schien, als er sich bei Amtsantritt hätte träumen lassen, sozusagen die offene Flanke darbot – und da ihnen jederlei Schwäche willkommen war, hatten sie sich auch gleich dieser bemächtigt. Meine Damen, meine Herren – im Rathaus – in unserm Rathaus! – das ist ein starkes Stück! Was sollen wir davon halten? Können wir unser Vertrauen im Ernst einem Bürgermeister schenken, der es nicht einmal fertigbringt, in sei-nem eigenen Amtsgebäude für tadellose Zustände zu sorgen – so oder ähnlich ging die Manier, und während sich Stolz, Eitelkeit und Intelligenz gleichermaßen dagegen empörten, sich Vorwürfe dieser Art gefallen lassen zu müssen, konnte der Bürgermeister bei nüchterner Selbstbetrachtung kaum umhin, ihnen eine gewisse – wenn auch vordergründige – Berechtigung zuzugestehen. Denn das Problem war ja wirklich, und nicht nur das, es war mittlerweile auch öffentlich – die Stadtzeitung hatte darüber berichtet; zwar zunächst auf humo-ristische Weise, aber doch mit etwas hämischem Unterton, und erst vor kurzem hatte sich ein Verfasser die Freiheit genommen, in einem Kommentar, der die Unfähigkeit der Regierung, die anwachsende Kriminalität zu bekämpfen, zum Thema hatte, das Lebensgefühl von Schiebern, Gaunern und Betrügern, Zuhältern, Mördern und anderem Gelichter, das sich in der Stadt herumtrieb (wie, nebenbei, in den übrigen Städten auch) mit dem Diktum auf den Punkt zu bringen, sie fühlten sich bereits so sicher wie die Ratten im Rathauskeller – ein Vergleich, der ihm wohl seiner volkstümlichen Bildkraft wegen sehr gelegen gekommen war. Der Bürgermeister hatte diesen Satz zunächst amüsant, dann aber doch bedenklich gefunden; die Senatsmitglieder hingegen, die sich nicht gerade durch ein Übermaß von Humor auszeichneten, hatten gleich übelgenommen, und die allgemeine Überzeugung ging nun dahin, daß es dem Stadtoberhaupt zukam, sich als seines Amtes würdig zu erweisen. Van Spickerdeel war zwar im Grunde ihrer Meinung – nur, wie sollte dies geschehen, da doch diejenigen, die in dieser Sache Experten waren, ins Delirieren gerieten, sobald ihre derben Methoden sich als unwirksam erwiesen? Er grübelte und grübelte, während es draußen Nacht wurde, und sei es durch die monotone Stille, die im Raum herrschte, oder durch die Qual, der sich sein Denken unterziehen mußte – jedenfalls hatte der Bürgermeister mit einem Mal das deutliche Empfinden, als nagte etwas an seinem Fuß – eine Vorstellung, die fast in dem Maße, wie er ihr nachgab, so grausig wirklich wurde, daß er sekundenlang die irrwitzige Versuchung verspürte, nach seinem Brieföffner zu tasten und die Probe aufs Exempel zu machen – bevor er sich jäh zur Ordnung rief, aufsprang und sich mit einem raschen Griff zur Lampe davon überzeugte, daß er dort unten, in der gähnenden Leere unter seinem Schreibtisch, nichts Erregenderes zu fassen bekommen hätte als das schwarzpolierte Leder seiner eigenen Schuhe; der Bürgermeister war im Nachhinein geradezu entsetzt über sich selbst, über den lachhaften Gewaltakt, zu dem er sich, von der Kraft seiner eigenen Vorstellung verführt, um ein Haar hätte hinreißen lassen; es bestärkte ihn nur in seiner Entschlossenheit, diesem Spuk, sobald es nur irgend ging, ein Ende zu machen.
Diese Sache fängt an, Macht über mich auszuüben, sagte er zu sich selbst, während er seinen Mantel überzog, – und das gefällt mir nicht. Das darf nicht sein! Noch bin ich es, der hier regiert, und das gedenke ich auch weiterhin so zu halten! Ich muß mir diese Plage vom Hals schaffen, je eher desto besser, und wenn es auf die eine Weise nicht geht, dann muß es eben auf eine andere geschehen! Wo die Gewalt versagt, muß die Klugheit den Gegner überlisten, das ist eine alte Weisheit – und es ist vielleicht an der Zeit, einer alten Weisheit wieder zu Ehren zu verhelfen. Die Klugheit!
Aber einstweilen war auch die Klugheit ratlos, und Van Spickerdeel stand noch eine ganze Weile bei einem der niedrigen Fenster und sah mit verschränkten Armen auf die Straße hinunter, bevor er sich, mit einem leisen Seufzer, endgültig zum Gehen wandte.