Roman. Aus dem Bosnischen von Astrid Philippsen
In diesem Roman erzählt Zilhad Kljucanin die Geschichte der wunderschönen Ezi und des Dichters Zeri, der nach Ezis Entjungferung das weiße Laken mit einer Rosenknospe in der Mitte in den Fluß wirft. Doch Ezi ist dabei, ihre bosnische Heimat zu verlassen, nach Paris zu gehen und im "Crazy Horse" als Tänzerin zu arbeiten. Als sie unterwegs das Fenster des Zuges öffnet, sieht sie das Laken auf dem Fluß treiben. Fünfzehn Jahre später begibt sich Ezi auf die Suche nach ihrem Vater, gelangt nach Marseille, wo sie in einem Rosengarten auf einen alten Mann trifft, der an einem Wörterbuch der vom Verschweigen bedrohten Wörter schreibt. Der Taxifahrer, in den Ezi sich verliebt, lernt ihre Muttersprache. Bis wieder ein Krieg kommt.
"Ich schreibe gern mit Vergnügen. Ich schreibe leicht, ohne Mühe, wenn es mir auch nur die geringste Mühe bereitete, würde ich gar nicht schreiben. Ich 'spiele mit dem Text', und dieses 'Spielen' resultiert aus meiner Freude am Schreiben."
Zilhad Kljucanin, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Bosniens, erzählt von der Liebe und der Sehnsucht der Menschen nach ihren Wurzeln, ihrem Verhältnis zum Fluß, einer Metapher der Zeit, die kreist und in den Biographien verschiedener Generationen wiederkehrt - das Wasser führt Menschen zusammen und trennt sie. Als die Brücke im Ort fehlt, kann niemand mehr fliehen und fast alle Einwohner fallen den Soldaten zum Opfer.
Zilhad Kljucanin: geb. 1960, Studium der Philosophie und Sozilogie in Sarajevo sowie der Literaturwissenschaft in Zagreb, Promotion 2002 in Sarajevo, lehrt an der Pädagogischen Fakultät in Bihac und an der Philosophischen Fakultät in Tuzla, Auszeichnungen: Mak Dizdar 1983 und 1985, Bosnischer Buchpreis 1987, Bosanske rijeci 2000, Drustva pisaca BiH 2000
Leseprobe:
1.
EZI
springt von ihrem schwülen Lager auf, bohrt den Finger in die Tür (wie ins Schicksal, wie ein kleiner Finger, der einen großen, alles entscheidenden berührt) und sagt:
„Na klar, der Dichter Zeri. Bin ich blöd! Na klar.“
Und sie knallt die Tür hinter sich zu wie etwas Unumkehrbares, wie das Schicksal im Rücken. Na klar.
DER DICHTER ZERI
greift in die rechte Tasche seines Sakkos, der über der Stuhllehne hängt. Ehe er die Hand hineinschiebt, denkt er, wenn sie da drin sind, heirate ich heute, wenn nicht – dann nie! Seine Finger fummeln in der rechten Tasche des schon verschlissenen Herrensakkos, ziemlich lange, lange wie der Zweifel. Die Streichhölzer sind nicht da. Die Zigarette im Mund bleibt kalt wie das nie angezündete Schicksal. Na ja, natürlich.
EZI TRABT
durch den schwülen Tag wie ein junges Fohlen. Sie ist die einzige Brise an diesem schon abgestandenen Augusttag. Die Brise öffnet die Fenster:
„Man müsste sie um die Ecke bringen.“
„Gott, wie schön sie ist!“
„Wie ein Regenschauer, wenn er jetzt runterkäme. So schön ist sie.“
„Woher kommt ihr Name – Ezi?“
„Wie ein verrücktes Fohlen!“
DER DICHTER ZERI SITZT
in seinem heißen Zimmerchen, in jenem Klotz Leere, wo Gedanke und Bewegung und Wunsch und Blick abstumpfen, auf dem Stuhl mit dem Sak-ko über der Lehne. Sein linker Arm hängt bis zur Öffnung der linken Sakko-tasche hinunter, aber so lustlos, so abgesondert, dass man mit Sicherheit behaupten könnte, die Linke wird nie in die Tasche greifen. Na klar, natür-lich.
Keinesfalls darf man das Bild des Mädchens vergessen, das durch den Tag trabt (einen schwülen oder winterlichen; windigen oder windstillen; sonni-gen oder trüben), so selbstbewusst, so überschwänglich, so, dass sie den Jahren die Fenster öffnet, von einem Ende der Vorstadt zum anderen, von ihrem muffigen Zimmer bis zu dem schwülen Stuhl des Dichters Zeri:
„Gott, ist die hübsch“, sagt Professor Muli.
„Wie ein verrücktes Fohlen“, sagt die Wahrsagerin Gagi.
„Man müsste sie um die Ecke bringen“, sagt jemand.
„Woher kommt ihr Name – Ezi?“ singt O Sole Mio.
„Wie ein Regenschauer, wenn er jetzt runterkäme. So schön ist sie.“ Das hört man von einem Ende der Vorstadt bis zum anderen, überall, wie den Regenschauer, der plötzlich herunterrauscht.
EZI TRABT DURCH DEN SCHAUERTAG
wie ein junges Fohlen durch den Sturm.
DER DICHTER ZERI HÖRT LANGE NICHT
(wie sollte er auch?) das Klopfen an der Tür (das Schicksal klopft niemals an die Tür). Nie konnte er sich später erinnern, wann er dennoch sagte: „Her-ein!“
Dennoch, sie trat ein.
Schüttelte ihr Haar aus.
Stellte sich vor ihn hin.
„Seit heute bin ich volljährig. Ab heute möchte ich keine Jungfrau mehr sein.“
So einfach.
Wie Regen.
Ein Sommerregenschauer.
Plötzlich.
Übermütig.
Wie Mädchenweinen.
Oder ein Vorhang.
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Es gießt. Und vergeht.
NIEMAND SIEHT EZI AM NÄCHSTEN TAG
in der Vorstadt des Städtchens S. Nicht am nächsten Tag, und nie wieder.
2.
AM NÄCHSTEN TAG
sucht der Dichter Zeri lange die Streichhölzer in seinem Zimmerchen. Er dreht x-Mal den Sakko um, der über die Stuhllehne geworfen ist, er sucht hinter den Büchern im Regal, konzentriert – wie die Sorgfalt in Person – rückt er jeden einzelnen Gegenstand auf dem Schreibtisch beiseite (den Aschenbecher zuoberst nach rechts, die Papierblätter darunter in die Mitte, die Schreibmaschine, angehoben, dann nach links, links...), er schaut hin-ters Bett, hebt das Kopfkissen hoch und schüttelt es auf, zieht das Laken ab und breitet es aus, ganz weiß.
Weiß? denkt er und hält
das Laken ausgebreitet, weiß?
Unwillkürlich lächelt er.
Weiß wäre ganz weiß.
Dieses Weiß ist in der Mitte durchbohrt von Rot.
Ein kleines Rot, klein wie eine Rosenknospe, die noch kaum erblüht ist.
Ja, klar.
Er lächelt.
Faltet sorgsam das Laken zusammen, rollt es ein und legt es aufs Bett.
Er steht davor und denkt nach.
Es wäre schön, wenn es ginge, denkt er. Wenn
ich es noch einmal faltete, dann wäre es ein aufgeblähter Lappen, aber jeden-falls kein Hochzeitstuch!
Er nimmt, fast grob, das zusammengerollte Laken vom Bett, klemmt es unter den Arm und geht eilig aus dem Zimmer.
„Gott, wie blöd er ist!“ sagt Professor Muli.
„Wie ein verrücktes Pferd!“ sagt die Wahrsagerin Gagi.
„Man müsste ihn um die Ecke bringen“, sagen alle.
„Woher kommt sein Name – Zeri?“ fragt sich zum x-ten Mal O Sole Mio.
„Wie ein Regenschauer, wenn er jetzt runterkäme. So verrückt ist er“, hört man von einem Ende der Vorstadt zum anderen, überall, wie der Regen-schauer, der gestern plötzlich herunterkam.
„Was hat er da unterm Arm?“
„Eine Tischdecke?“
„Eine Fahne?“
„Eine Leinwand?“
„Ein Leichentuch?“
Der Dichter Zeri geht indessen eilig die einzige Straße der Vorstadt entlang, lächelnd allerdings.
So verschwindet er nach dem letzten Haus, schwenkt ab ins Feld, das sich hinter der Vorstadt bis zum Fluss ausbreitet wie ein altmodischer, nutzlo-ser Fächer.
Er geht auch in den Fluss hinein, bis zur Mitte, bis zur Brust, breitet das Laken in seinem ganzen deflorierten Weiß aus, hält es einen Moment auf dem Wasser und
lässt es los.
Das war’s dann, denkt er,
alles andere wäre eine Entwürdigung.
Er wundert sich nicht, dass das Laken nicht untergeht, sondern vielmehr, ausgebreitet wie ein Hochzeitsschleier, schwebt,
weiß,
den Fluss hinab,
mit sich tragend
eine kleine
Rosenknospe.