Neue Szene. Aus dem Polnischen von Michael Zgodzay
Dieses Buch, in der polnischen Presse als eines der außergewöhnlichsten und wichtigsten bezeichnet, tastet zwei Tabus an: Mutter und Vaterland. Die Mutter, die Krieg und Holocaust nach der Flucht aus Lemberg in der Sowjetunion überlebte, macht ihre Tochter zur Geisel ihrer Leidensgeschichte. Die Tochter, erdrückt von der usurpatorischen Mutterliebe, kann nicht erwachsen werden. Die drastische Gesellschaftsanalyse parodiert die Form des antiken Dramas und des Poems. Die Autorin greift auf die Alltagssprache zurück und zitiert antisemitische Phrasen, die auf der Straße oder in einer Arztpraxis im Umlauf sind, im Originalton.
Bo?ena Umi?ska-Keff: geb. 1948 in Warschau, Dichterin, Literaturwissenschaftlerin, Filmkritikerin, Publizistin und Dozentin für Gender Studies an der Warschauer Universität
„Keffs Stück ist höchst blasphemisch. Nicht nur, weil es die kulturelle Heiligkeit der Mutterschaft aufs Schärfste angreift. Noch schwerwiegender thematisiert das Stück, und zwar unverblümt, wie stark das Trauma der Eltern das Leben ihrer Kinder beschädigt.“ Magdalena Marsza?ek, Novinki
Ohne Opferblabla
Rezension von Brygida Helbig-Mischwski
⇒ www.freitag.de/kultur/1115-kulturkommentar
Opfer des Opfers: Eine polnische Tragödie
Helga Hirsch, Die WELT vom 18. 6. 2011
⇒ www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article13436459/Opfer-des-Opfers-Eine-polnische-Tragoedie.html
Wenn die Idole das Leben erdrücken: Ein Stück über Mutter und Vaterland
Ralf Julke, L-IZ vom 21.01.2011
⇒ www.l-iz.de/Bildung/Bücher/2011/01/Bozena-Keff-Ein-Stueck-ueber-Mutter-und-Vaterland.html
Leseprobe:
Teil I
Die ewige Klage
Leeres Aufstoßen
Chor
Die ewige Klage der Mutter, ihr ewiges
oi moi, oi moi
die ewige Geschichte ihres Leidens, welches niemand bezweifeln wird.
Erzählerin
Eine Lebensgeschichte aus der fernen Zeit ihrer MUTTER und FAMILIE,
vor dem Krieg,
die Geschichte ihrer Geschichte während des Krieges,
eine Geschichte der Flucht, der Rettung, des Todes und des Falls der Juden unter das
Menschliche.
Sie hat sich nichts ausgedacht, es gibt Fakten, Archive, Filme, Dokumente.
Sie sagt, etwas Schlimmes geht in mir vor, so eine Verdauungsstörung,
ich muss aufstoßen, als hätte ich eine Leiche in mir oder eine Leere,
buurp!
Chor
Oi moi, oi moi
aus der Leere ins Nichts
hat sie ein Kind geboren.
Erzählerin
Um eine Familie zu haben, um nicht allein zu sein,
ein Kind ist immer das KIND seiner MUTTER,
eine Mutter ist aber DIE MUTTER. Wenn sie MUTTER ist,
wird eine Frau sich in der Welt zurechtfinden
und eine Identität gewinnen.
Chor
Der Tochter fehlen schier die Worte um zu sagen
wie leer die Mutter, wie langweilig und alt sie ist,
oi moi diese Tyrannin der Leere!
Nie hört sie zu, was sie sieht, weiß niemand und sie fühlt nach eigenem Gutdünken
vergeblich mit ihr zu sprechen, vergeblich zu ihr zu sprechen, kein Wort dringt zu ihr
und dies hält ihr die Tochter in Ewigkeit vor!
Erzählerin
Eine DICHTERIN ist also die Tochter,
es gibt nichts Unsagbares für sie!