Ein poetischer Dialog mit Milos Crnjanski. Mit Holzschnitten von Inka Grebner
Intuition, Assoziation, grenzenlose Befreiung erhebt Crnjanski zu seinen Dichtungsprinzipien, es geht ihm um die Kraft der Visionen, um inneres Erleben, subjektives Gestalten und um den Gegensatz zwischen Realität und Irrealität. Viktor Kalinke greift Motive und Farben der Poesie Crnjanski’s auf und tritt in Dialog mit einem "toten Dichter".
"Milos Crnjanski (1893 - 1977) gehört zu den bedeutendsten Vertretern des serbischen Expressionismus und wurde vor allem durch seine Gedichtzyklen zur griechischen Antike ("Lyrik Ithakas") und zur chinesischen Philosophie bekannt. Städte Italiens wie Florenz oder Venedig haben den Dichter besonders inspiriert, so wie Orte in Serbien, die er nichtverklärt, sondern in ihrer kulturellen und geografischenBedeutung dem fernen Sumatra, das er nie sah, gleichstellt. Der Leipziger Autor und Herausgeber Viktor Kalinke hat sich längere Zeit mit der Dichtung Crnjanskis beschäftigt und ist in dem Buch "Herbst auf Sumatra" mit eigenen Gedichten auf den Spuren des Serben in einen poetischen Dialog getreten. Die fiktive Welt Crnjanskis, aus der Not des eigenen Schicksals geformt, dient Kalinke als Folie für seine Wirklichkeitsverarbeitung, die ihrerseits wieder ins Fiktive umschlägt, womit sich der Kreis des Dialoges schließt. Überall aber ist die Einsamkeit des poetischen Ichs spürbar, als Zeichen innerer Verwandtschaft aller Dichter, die in dem Satz Kalinkes kulminiert: " ... sie lieben die Einsamkeit / aber ertragen sie nicht allein" (der früh verstorbenen Beatrix Haustein gewidmet, von der im letzten Heft Gedichte zu lesen waren). Kalinke schreibt über Städte und Reisen, Schnittpunkte, an denen er den dichterischen Wegen Crnjanskis begegnete, über Orte, Helden und Dichter, aber auch über ganz Intimes. So ist der Dialog Kalinkes gleichwohl eine Anregung für Leser und Fachleute, ins Gespräch mit der modernen serbischen Literatur zu kommen." Heinz Weißflog, Ostragehege
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, lebt in Leipzig.
Leseprobe:
Sumatra
Sad smo bezbri¸ni, laki i ne¸ni.
Pomislimo: kako su tihi, sne¸ni
Vrhovi Urala.
Rastu¸i li nas kakav bledi lik,
što ga izgubismo jedno ve?e,
znamo da, negde, neki potok,
mesto njega, rumeno te?e!
Po jedna ljubav, jutro, u tu?ini,
dušu nam uvija, sve tešnje,
beskrajnim mirom plavih mora,
iz kojih crvene zrna korala,
kao, iz zavi?aja, trešnje.
Probudimo se no?u i smešimo, drago,
na Mesec sa zapetim lukom.
I milujemo daleka brda
I ledene gore, blago, rukom.
(Miloš Crnjanski)
Sumatra
Jetzt sind wir sorglos, zärtlich, leicht,
denken: wie still sie sind, in Schnee gehüllt,
die Spitzen des Ural.
Wie fährt die Trauer blaß uns ins Gesicht,
wenn wir eines Abends jemanden verlieren,
wir wissen doch, daß, irgendwo, irgendein Bach
statt seiner rötlich fließt.
Jede Liebe, jeder Morgen in der Fremde,
schnürt uns die Seele ein, alles wird eng,
mit der grenzenlosen Ruhe blauer Meere,
in denen rot die körnigen Korallen schimmern
wie, in der Heimat, die Kirschen.
Wir erwachen nachts und lächeln, liebevoll
zum Mond, der seinen Bogen spannt.
Und wir streicheln ferne Berge
und vereiste Gipfel, sanft, mit bloßer Hand.
(deutsch von Viktor Kalinke, 1. Fassung)
Nördlichstes Sumatra
Hinter der Düne ist nichts zu sehen : mit jedem Schritt
schwillt das Rauschen an : zu hören ist das Meer
mit einem Schritt öffnet es sich den Augen : Ostsee
zartes Meer : ohne Ebbe : Flut
ohne Schlick : ohne Schlack : die Angler
ziehen kraftvolle Aale aus dir : während der Leuchtturm
blinkt : im Sekundentakt gewährt er Zutritt
ins Geisterreich Traum : die Sirene beginnt
zu heulen : aus Betontrümmern schießen U-Boote
heraus : du wälzt dich von rechts nach links
ich fliehe ins Moor : zwischen Dün- und Niehagen
die Förster wissen : wo Ruhe ist
am Strand lauern unbehaarte Männer
den schlummernden Liebespaaren auf
Die Finger beim Tango
Die flüchtigen Begegnungen brennen sich ein : Prägemarke
im Gedächtnis : gut geschminktes Käthe-Kruse-Gesicht
der geflochtene Zopf fällt auf den Hühnchen-Rücken : um
die Wirbelsäule tanzen die Finger beim Tango : die Unfähigkeit
sich loszureißen : wenn allmählich (lentemente) die Füße
lernen : sich zu bewegen : es gibt keine Geste : die Abschied
bedeutet : also winken wir müde : vielleicht : das kostbare
Wort : der Hilflosigkeit entsprungen : wenn uns die Regeln
verlassen : es ist die Sprunghaftigkeit der Sympathie
nach zweistündigem Beinestellen einander das Leben
zu schenken : für eine Sekunde wohnt die Illusion
als Mondfinsternis am Himmel : bevor wir gehen