Gedichte. Mit Zeichnungen von Marion Quitz
Doppelbödige Texte zwischen Ironie und Endzeitstimmung, artistisch-schalkhafte Improvisationen, Spagat zwischen existentialistischer Gedankenlyrik und lautakrobatischen Übungen.
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.
"Originelle Stoffe, selten abgegriffene Metaphern. Mir gefällt der ungestockte Atem der Sprache des Autors. Man merkt auch, daß er sich im fortwährenden Schreibfluß bewegt." Grit Dias de Arce
"So stellt man fest, daß bei der jüngsten Generation das größte Maß an Epigonalität anzutreffen ist, denn hier tönt der Grünbein-Stil und guckt die Kling-Worttechnik fast hinter jedem Vers hervor. Positiv hebt sich davon aber das flotte und witzige Frankfurt-Porträt von Viktor Kalinke ab." Jürgen Egyptien, literaturkritik.de
"In Kalinkes poetischen Diskurs jagt eine unverhoffte Wendung das andere überraschende Bild, stets kommt es anders, als erwartet, sehr erfrischend und eindringlich." Franz Hodjak
Leseprobe:
Gras
Wir verdanken dem Gras mehr
als ein Fußballfeld / Gras
wird oft übersehen / flüssiger
Stein füllt die Erde / Gras
wächst unter dem Vorsprung
den erkaltende Lava hinterläßt / leicht
läßt es sich tragen vom Wind
ans Ufer des vergessensten Eilandes
ein Regenguß richtet es auf / es wächst
zu unseren Füßen / kaum daß wir
es achten / jeder Fußballer rechnet
mit seiner Dichte / jeder Bauer weiß
seine Kraft zu schätzen / es kitzelt
den Nacken / während die Füße
in Gladiolen liegen / Tiere kauen es
Stunde für Stunde / Kinder rauchen es
am Lagerfeuer / Erwachsene schneiden es
mit Mühe kurz / damit es sich emporreckt
Die Krähen
Am steinigen Ufer hockend
sehnen sie sich zurück
in ferne Nester / niemand
hat sie darin besucht
Im modrigen Schlamm wühlend
picken sie spärliche Früchte
heraus / die Bauern im Frühling
fluchen auf sie
Welch ein Triumph wohnt
in ihrem schwarzen Kleid
welch eine Zauberkraft / wenn sie
der Medizinmann in die Suppe wirft!
Das Feuer glimmt nicht mehr
erschreckend vor den Menschen
hüpfen sie / fliegen davon
so wachsen sie mir ins Herz
Fliehend vor den Kanonen
der Blicke und Begierden
den Pfeilen der Straße
können sie sich retten
Wie hebt sie der Flug
über die Stadt / sie landen
auf Dächern / wo Ruß sich
mit ihnen verwandt fühlen darf
Sie kehren zurück auf Äste / düster
herrscht der dunkle Vogel / kreischend
trösten sie den Wind / bringen
zum Lachen die traurigen Flüsse
Rauschen
Sie fahren in Motorbooten
bewegungslos und stumm
über die Seen
Sie fahren in Motorbooten
ohne Willen und Träume
über die Himmel
Sie fahren ohne Ziel
kalt und weiß
wie das schnelle Vergessen
Blitzend als graue Delphine
springen sie über die Seen
springen sie über die Himmel
Einmal werden
Wir Indianer
im karierten Hemd
hüsteln an den Schleusen
zu anderen Räumen
wo die Gräser verstummen
und die Düsenjäger
wenn wir eintreten
in die Erinnerung an den Tod
Täppisch trampeln wir
auf taufrischen Pfaden
stampfend besteigen wir
schweigende Hügel
Einmal werden wir wünschen
wieder Indianer zu sein
das karierte Hemd flattert
als Skalp an den Gerippen
der Bäume und der Raketen
an den Schleusen werden wir
wiedertreffen den Tod
die ausgerotteten Brüder