Gedichte. Künstlerischer Festeinband. Mit einer Umschlagvignette von Ingrid A. Schmidt
Die Wahrnehmung, die Welt bestehe als ein transzendentes System von Tunnelgängen, ist bei Peter Gehrisch in der Kindheit entstanden. Pränatale Ängste, Beklemmung und konkrete Bedrohung während der Bombenabwürfe auf Dresden kennzeichnen seinen Erfahrungshintergrund. Die Umstände der stark beschädigten Welt formten seine Rezeptivkraft. Der Zusammenbruch des Kommunismus 1989 weckte in ihm die Illusion einer handhabbaren Veränderung. Nach kurzer Zeit aber wurde er sich des Tunnel-Syndroms wieder bewußt und lenkte seinen geistigen Hunger auf einen grotesken Umgang mit der gegenwärtigen Tunnel-Welt.
Peter Gehrisch: geb. 1942 in Dresden, Mitherausgeber der Zeitschrift für Literatur und Kunst OSTRAGEHEGE, lebt in Dresden und Lwówek ?l?ski
"Bestach der 1942 in Dresden geborene Autor stets durch die kongeniale Korrespondenz der strikt ins Detail ausgearbeiteten Form mit dem genau durchdachten metaphysischen wie auch die menschlichen Tiefen auslotenden Gehalt seiner Texte, so fügen die 'Tunnelgänge' dem weitere, neue und überraschende Aspekte hinzu." Uta Wiedemann (Dresdner Neueste Nachrichten)
Leseprobe:
Mit jedem Wort bin ich
Ohne Begriff
Unbemerkt kehrte mein Reichtum an
Wahrnehmung um
Wusch sich ins Alphabet
Trug
Das Korsett
Grammatikalischer Wort-Bandagen
Ich verlernte meine Vernunft
Die Aufklärung
Unterwies mich im Gebrauch einer
Gummischnur
Die zog ich und zog
Die Fragen
Katapultierten sich mir ins Gesicht
* * *
Die Welt ist anders
Als das Echo
Dir weismachen will
Gefiedert, fern
In Nacht-Etagen dort hockt sie
Im Aufbegehren der Dissidenten
Die das ewige Dafür
Und Dagegen nicht erspürten
Im Quarren
Geschnäbelter Wichtigtuer
In den erhobenen Flaggenzeichen
Einer Ideologie
Die Sonne zu täuschen
In blinden, faulenden Augen
Sitzt sie
Hinter glitzernden Schlieren
Und brütet – ein gefangener
Traum (die Liebe
Die dir fremd blieb)
Das unersättliche
Ich bin der ich bin
* * *
Es ist ja nur Talmi
Mit dem wir laut-
Lose Zwiesprache
Tauschen
Untauglichen Blicks streifen wir
Über die aus Gewohnheit
Eroberten Körper
Verführt
Von schizophrener Begierde
Reisen die Fingerkuppen über das Silber-Tableau
Ertasten
Die kunstvoll zusammengesteckten Nippes-Gegenstände
Unser Mund ruft – Da! Da! –
Und wir halten – zu Argwohn nicht fähig –
Münzgold in den geköderten Händen
Für den flüchtigen Tausch
Den Chronos uns gönnt
Doch schon schiebt der Irrtum uns
Hieroglyphen
Über den Mund
* * *
Bei Kirke (I)
Während ich in deinem betäubenden
Schenkelfleisch lag verführt
Von Vergessenheitsdüften – Moschus
Rausch, Schmeichelei –
Spürte ich plötzlich die Zeit im Genick
Sah: Meinen Gefährten genügte die Grütze
Im Becken
Saufen, Krauchen, Kopulation
Rief: Wär dieser Trieb nicht – Ithaka –
Und der scharfe
Geschmack auf der Zunge – Hermes’
Harm-Fraß
Auf-
Geschossen im Trojanischen Feuer-
Sturm
Ich genöß eure Show
Das alltägliche
Somnium:
Matte
Ekstase: Glotzaugen – Bauchtanz, Ballett
Kleb-Etikett
Nein, Futterluken
Schlurft, gafft nur und lacht!
Ich aber, Narr
Werde die Toten kitzeln im faulenden Laub die
Gierig auf Körperlichkeit
Ihr Wissen in düsteren Tunneln verbergen
Bis sie mir Auskunft erlauben
Auf! Ins Labyrinth
Aus Fratzen und Fragezeichen!