Ein Zwischenruf
130 S.
In seinem religionsgeschichtlichen Essay spannt Uwe Nösner einen Bogen von den spirituellen Grundlagen der Reformation über deren Scheitern in einem geistfernen Staatskirchentum bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts hinein. Die bis heute unerfüllte Forderung des Erasmus von Rotterdam „Zurück zu den Quellen!“ ist gegenwärtig aktueller denn je, weil die geistige Entwicklung des Menschen und der Menschheit auf dem Boden der Weltreligionen entschieden wird. Vor dem Hintergrund der 3000 Jahre alten Grundfrage nach der Freiheit des Menschen und seines Verhältnisses zu Gott beschwört der Autor die Rückkehr zu den Fundamenten des Monotheismus im Judentum, worin sowohl das Christentum als auch der Islam seine Wurzeln besitzen. Als ein Akt der schöpferischen Religiosität des Einzelnen führt der Weg zu den Quellen über alle Konfessionen hinaus. Das Heilige wird im Menschen selbst aktualisiert und reaktiviert.
„Der Weg beginnt immer wieder in Adam, der in jedem Menschen den Geist empfängt und in jedem Menschen als Messias gekreuzigt wird. Die Hoffnung bleibt der messianische Mensch, der in der Seele eines jeden von uns zur Auferstehung berufen ist.“
Uwe Nösner: geb. 1960 in Dresden, lebt dort als Redakteur und Redenschreiber.
Leseprobe
Erasmus war der letzte große Repräsentant des Humanismus als Geistesrichtung, der die führenden Geister ganz Europas über Glaubensgrenzen hinaus miteinander verbunden hat. Nichts macht es uns deutlicher, welche kurze Lebensdauer dem hellen Leuchtfeuer des Humanismus nicht nur in Deutschland beschieden gewesen ist, als die Erkenntnis, dass er die Lebensspanne des Erasmus von Rotterdam kaum übersteigt. Der europäische Humanismus – wie er sich in der Verkörperung durch Erasmus definiert – hat im Zeitalter der Glaubenskriege und des Nationalismus keine Fortsetzung gefunden. Wer Erasmus liest, wird sehr schnell zu der Überzeugung gelangen, dass sich die Aufklärung zu Unrecht auf ihn beruft. Zwischen ihm und Voltaire tut sich ein Abgrund auf, wie er größer kaum sein kann.
Die Nachwirkung des Erasmus war keine geschlossene, aber immerhin dauerhaft. Zumal die spirituelle Seite seines Denkens hat in Deutschland ein lebhaftes Echo gefunden. Die Kirche der Gegenreformation setzte sein Werk auf den Index, so dass es innerhalb der katholischen Länder nur in den italienischen Häretikern noch weiterhin wirksam war. Nicht in, sondern vor allem zwischen den Konfessionen lebten seine Gedanken fort. In den Niederlanden, wo die freiheitlichen Gedanken des Erasmus den Aufstand gegen Spanien und den Widerspruch gegen den calvinistischen Dogmatismus beförderten, wurde zwischen 1703 und 1706 die erste und letzte Gesamtausgabe der Werke herausgebracht. (28) Darüber hinaus hat offenbar keine Nachfrage mehr bestanden, zumal das Latein in der Leserschaft zunehmend von den Nationalsprachen verdrängt worden ist. Die erste brauchbare deutsche Ausgabe der wichtigsten Werke ist erst im 20. Jahrhundert erschienen.
Nur wenige Einzelne – gedacht sei an Spinoza und Lessing – können innerhalb Europas als Erben des Humanismus verstanden werden, sofern damit die geistigen Fundamente gemeint sind, auf denen der biblische Humanismus gestanden hat. Er hat aufgehört, eine europäische Bewegung zu sein. Er ist nicht mehr Träger der abendländisch-jüdisch-christlichen Kultur. Die späteren Aufklärer, die zuallererst, aber nicht nur von Frankreich aus wirksam waren und für die jene Nachfolge gern in Anspruch genommen wird, haben Europa – was nicht klar genug formuliert werden kann – in die erste Militärdiktatur der Neuzeit geführt. Das nachnapoleonische 19. Jahrhundert nahm, wenn es überhaupt über Luther hinausblickte, dann allein das Mittelalter und seine gotischen Schöpfungen wahr. Das 20. Jahrhundert hat den „Herbst des Mittelalters“, die „Kultur der Renaissance in Italien“ und folgerichtig den europäischen Humanismus wiederentdeckt, was praktisch allerdings ohne Folge geblieben ist. Stattdessen hat sich der Dreißigjährige Krieg zwischen 1914 und 1945 in Form zweier Weltkriege wiederholt. Die Zwischenkriegszeit – wie es sie auch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gegeben hat – war diesmal angefüllt mit den Bürgerkriegen in Spanien und der Sowjetunion und den Kriegen der stalinistischen und nationalsozialistischen Diktatoren soweit ihre Einflüsse auch immer gereicht haben (und sie reichten weit) gegen das eigene Volk. Spinoza und Lessing hätten das vermutlich nicht überlebt.
Bisherige Veröffentlichungen von Uwe Nösner im Leipziger Literaturverlag:
- Die gekreuzigte Zeit, Gedichte: www.l-lv.de/neu/product_info.php/info/p88_noesner--uwe--die-gekreuzigte-zeit.html
- Reise ans Ende des Traums. Kurzprosa: www.l-lv.de/neu/product_info.php/info/p104_noesner--uwe---reise-ans-ende-des-traums.html