Roman. Aus dem Bosnischen von Barbara Nollmann
Mit diesem Buch schließt Baltic seine Trilogie ab, in der er von dem rätselhaften Fremden Sail erzählt, der aus Jerusalem kommend durch Zeiten und Länder, Träume und Visionen wandert, um nach einer Arznei gegen den Schmerz und den Haß zu suchen. Sails Weg führt nun zu den Deutschen, den "Schwaben", wie sie auf dem Balkan genannt werden. Auf dem Grund des Starnberger Sees wird Sail die Zukunft der Menschheit in einer technisierten, globalisierten Welt vorgestellt. Sails zweihundertjährige Wanderschaft geht damit zu Ende. Er wird nach Jerusalem zurückkehren.
Murat Balti?: geb. 1952 im Sandschak (ehemaliges Jugoslawien, heute zu Serbien und Montenegro gehörig, mehrheitlich von Bosniaken bewohnt), fand nach Beendigung des Jura-Studiums eine Anstellung als Richter in seiner Geburtsstadt Sjenica, war Kritiker des Miloševi?-Regimes und schrieb Kommentare für Oppositionszeitungen, wurde nach einem Interview in der Deutschen Welle zum Spion erklärt und entlassen, verließ Jugoslawien, weil sein Leben in Gefahr war, erhielt Literaturstipendien der Stadt München, der Heinrich-Böll-Stiftung und des Landes Brandenburg, lebt mit seiner Familie in Düren bei Köln.
Leseprobe:
Die Zeil
„Das ist die Zeil, ganz bestimmt die Zeil. Ich hab mir die Sohlen abgelaufen beim Suchen. Hab diesen und jenen gefragt, mit Zeichensprache, und da ist sie direkt vor meiner Nase, mir fallen fast die Augen aus“, schrie Suljo, so daß sich alle nach ihm umdrehten. Er war müde. Nicht nur die Grenzen und die Kontrollen hatten ihn zermürbt. Zuerst die jugoslawische Grenze mit den unvermeidlichen zwanzig Mark für den Busfahrer, der das Bestechungsgeld für die Zöllner und die Polizisten einsammelte. Die schauten dann erst ihn, dann das Foto an und sagten: „Aha, Suljo hat ein Visum bekommen.“ Schließlich die Straßen von Frankfurt, als er die Zeil suchte. Er warf die billige, halbleere Reisetasche mit der schwarzen Lederjacke zwischen den Griffen auf den Boden und setzte sich, ohne zu fragen, ob frei sei, auf einen von zwei leeren, weißen Holzstühlen. Auf dem dritten saß Sail. Die Tischecke trennte sie, so daß sie einander schräg gegenüber saßen.
Nachdem sich Suljo bequem zurückgelehnt, ein paarmal die Schultern nach hinten gezogen und das Knacken der Wirbel gehört hatte, schlug er zweimal die Handflächen gegeneinander, wobei die Muskeln seiner langen und behaarten Arme unter den kurzen Ärmeln des karierten Hemdes sichtbar wurden, streckte beide Beine aus, schaute um sich und wandte sich dann leiser als kurz zuvor an Sail:
„Ich habe gar nicht gefragt, ob der Stuhl frei ist.“ Er hätte das nicht gesagt, wenn er nicht Sails ungewöhnlichen dreifarbigen Bart bemerkt hätte, der deutlich aus einem grünen, einem schwarzen und einem gelben Teil bestand, die sich in der Mitte des Kinns in einem einzigen Haar trafen, das dicker und länger als die übrigen war.
Er meinte, Sail müsse ein Landsmann sein, zumal er solch einen Schal um den Kopf trug, aus dem das kohlschwarze Haar hervorschaute. Aber jetzt, mit diesem Bart, hätte er bei allem, was ihm teuer war, geschworen, daß Sail kein „Unsriger“ war. Wenn er ein Hodscha wäre, trüge er einen Fez, nicht aber solch einen gefärbten Bart. Wer weiß, was für ein Geschöpf er ist, dachte er und schaute auf die in der Nachmittagssonne leuchtenden bunten Gebäude jenseits der Straßenbahnschienen, dem Café gegenüber. An den anderen Tischen saßen junge Leute, ein wenig verwahrlost und unrasiert, mit gebräunten Gesichtern und scharfen Augen. Sie tranken und diskutierten, wobei sie lebhaft gestikulierten. Einige kamen hinzu, andere standen kurz auf und kehrten wieder zurück, so daß man meinen konnte, sie alle suchten oder warteten auf etwas.
Suljo freute das, es war wie an einem Markttag in einem der Kaffeehäuser von Sjenica.
„Was willst du?“