Roman
Aus dem Georgischen von Lamara Naroushvili und Sergei Okropiridze, bearbeitet von Nikola Deschauer und Viktor Kalinke
164 S., Festeinband
Dieses Buch ist eine Parabel sowohl auf die sowjetische als auch die heutige Zeit: Fragen von Wahrheit und Schuld, Macht und Ermächtigung, West und Ost, Sex und Menschenhandel, Obrigkeit und Mafia werden in einem intellektuellen Thriller verhandelt.
Aus der Perspektive eines italienischen Händlers und Reisenden wirft Bartolomeo d’Aniti einen Blick von außen auf das Land, das zu jener Zeit als „Kolchis“ bekannt war. Die Argonauten drangen einst, auf ihrer Suche nach dem Goldenen Flies, in dieses Land vor.
Antonio und David ist einer jener seltenen Fälle, in denen straffe Erzählung und hoher Gedanke meisterhaft zusammenfließen. Dank seines eleganten Stils und einer flüssigen Schreibtechnik ist der Roman für jeden geschichtsinteressierten Leser zugänglich, während er zugleich für den literarischen Kenner einen ästhetischen Sprachgenuß bietet.
Jemal Karchkhadze (1936-1998): Die Werke Jemal Karchkhadses wurden von der Leserschaft sehr positiv aufgenommen, stießen bei den Literaturkritikern der Sowjetunion auf heftige Kritik. Nichtsdestotrotz schrieb und publizierte der Autor weiterhin. Zu Lebzeiten blieben ihm Auszeichnungen und Preise verwehrt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Georgiens wird sein Werk von einer neuen Generation wiederentdeckt und seine Popularität nimmt stetig zu.
»In seiner Prosa zeigt uns Jemal Karchkhadse, daß ein Mensch die Fähigkeit besitzt, eine innere Wahrheit zu erkennen, die auf der Verwirklichung des höchsten menschlichen Konzepts beruht: der Freiheit.« M. Beriaschwili
Leseprobe:
Wie ich gleich am Anfang des Buches erwähnen möchte, bin ich einen großen Teil meines Lebens gewandert und habe dabei viele Länder gesehen, manche nach meinem eigenen Wunsch, andere aber im Auftrag des Hofes. Ich hatte das Reisen dermaßen liebgewonnen, daß ich zu Hause kaum länger als ein paar Tage bleiben konnte. Zwar überfielen mich in der Fremde nicht selten schwere Melancholie und Heimweh, aber sobald ich heimgekehrt war, zog mein Herz mich wieder in die unbekannten, nie gesehenen Ländern. Wo ich mich dann auch befand, ich lernte nach Möglichkeit die Sprache des Volkes. Anfangs ließ ich sie mir von den Einheimischen beibringen. Nachher aber, als ich merkte, daß die Fremdsprachen mir leichtfielen, versuchte ich sie noch vor der Abreise daheim zu lernen. Jedem, der das Reisen liebt, empfehle ich es, weil die Sprachkenntnis es dem Reisenden um vieles erleichtert. Vor allem geht viel Zeit durch das Dolmetschen verloren. Außerdem gewinnt man einen Fremden viel eher, wenn man ihn in seiner Sprache anredet. Auf diese Weise hat man schnell sein Vertrauen gewonnen, und er schüttet einem eher sein Herz aus. Das merkte ich überall. Die Natur des Menschen scheint nun einmal so beschaffen zu sein.
Als ich 65 Jahre alt geworden war, beschloß ich, das Reisen aufzugeben. Ich fühlte mich alt, meine Kräfte nahmen ab, und von Zeit zu Zeit beschlich mich die Angst, daß mich der Tod unterwegs ereilen und daß mein Leichnam in der Fremde bleiben könnte. Hat doch der Mensch das unbewußte Verlangen, in seinem Heimatland bestattet zu sein, dort also, wo seine Ahnen ruhen. Wenn ich plötzlich sterbe, so werde ich alle meine Kenntnisse und die ganze Erfahrung, die ich während der vielen Reisen erworben habe, ins Grab mitnehmen müssen, und dieses Buch, das ich jetzt schreibe, würde dann ungeschrieben bleiben.
Der geneigte Leser soll nicht denken, daß ich nach Ruhm und Namen strebe, wie es manche tun. Nein, ich habe während meiner Reisen soviel Gefahr gesehen und Not erlitten, daß von meinem Jugendehrgeiz nichts mehr übriggeblieben ist.
Ruhm und Name reizen mich nicht. Ein schlichtes und strenges Leben bedeutet mir viel mehr und ist das einzig Mögliche für mich. Das Schreiben des Buches erachte ich als meine Pflicht, da ich früher glaubte und auch jetzt davon überzeugt bin, daß ein Mensch, der über gewisse Kenntnisse verfügt, sie einem anderen zu übermitteln hat. Nimmt er sie mit, so wird er im Jenseits dafür Rechenschaft ablegen müssen. Aus diesen zwei Gründen also habe ich das Reisen aufgegeben. Vielleicht war ich schon müde, sehnte mich nach Ruhe. Zu jenen zwei Gründen gesellte sich allem Anschein nach also noch dieser dritte. Wie dem auch sei, ich reiste nicht mehr und zum Erstaunen meiner Verwandten und Freunde verkaufte ich mein herrliches Haus, den Lieblingsaufenthalt meiner Freunde, wo wir uns nach jeder meiner Reisen versammelten und wo wir mehr als eine Nacht bis zum Tagesanbruch in gemütlichen Gesprächen verbracht hatten. Ich hatte darüber hinaus meinen ganzen Immobilienbesitz außerhalb der Stadt veräußert. Dafür kaufte ich im Süden des Landes, am Meer, einen kleinen sonnigen und waldreichen Winkel und ließ mir dort ein Haus bauen, das meinen Nächsten und Freunden noch mehr Anlaß gab, mich für einen Sonderling zu halten. Aus dem Haus wurde in der Tat etwas Ungewöhnliches: abgesehen von dem geräumigen Arbeitszimmer, dem angrenzenden kleinen Schlafzimmer und den Stuben für die Dienerschaft hat es noch Räume, deren Zahl genau der Zahl der Länder entspricht, die ich bereist hatte. Jedes dieser Zimmer stellt ein Land in Miniatur dar, eingerichtet nach der dortigen Art, ausgestattet mit entsprechenden Gegenständen. Schon seit sieben Jahren wohne ich in diesem Haus, in Gesellschaft von nur drei Dienern und zwei Köchen. Ich gehe fast nie aus. Bis zum Mittag sitze und schreibe ich in meinem Arbeitszimmer. Nach dem Mittagessen gehe ich im Hain spazieren, der am Ende des Hofes liegt. Abends wandere ich aus einem Zimmer ins andere, sehe mir die zahlreichen aus den fremden Ländern mitgebrachten Souvenirs an und denke an die vergangene Zeit zurück. Mein Leben vergleicht man zuweilen mit dem eines Einsiedlers. Aber von was für einem Einsiedlerleben kann in meinem Fall die Rede sein, wenn kaum eine Woche vergeht, ohne daß mich drei, vier Mal Freunde besucht haben. Ich empfange sie bald in einem, bald im anderen „Lande.“ Auch den Tisch decke ich dann nach den jeweiligen Sitten. Wir sitzen dann am Tisch, trinken Wein und unterhalten uns. Hier und da erzähle ich, wenn ich darum gebeten werde, auch ein Reiseerlebnis. So lebe ich und erwarte, zu Gott gebeten zu werden, auch ein Reiseerlebnis. So lebe ich und erwarte Gottes Entscheidung ...
Derjenige, der ein Reisebuch schreibt, muß unbedingt die verschiedensten Neigungen und Interessen der Leser berücksichtigen. So interessiert sich der eine für die Geographie eines Landes: für seine Lage und Grenzen, für das Klima, für die Bodenbeschaffenheit und die Länge der Flüsse und die Dichte der Wälder; den anderen fesseln Peripetien in der Politik, Kämpfe um den Thron, Verschwörungen und Intrigen; mancher schwärmt für die Baukunst, ihn interessiert, welcher Art Häuser gebaut werden, ob Ziegelsteine gebrannt werden oder nicht, wie die Schlösser befestigt werden, wieviel Last die Brücken standhalten; wieder andere zeigen Interesse für das Leben des Volkes, für seine Abstammung, seit wann es sich hier niedergelassen hat, für seine Sitten und Bräuche und wie es den Gottesdienst verrichtet; manche haben kein Interesse für wissenschaftliche Beobachtungen, sie ziehen unterhaltende Erzählungen, bunte Geschichten, Abenteuer und Anekdoten vor. Deshalb muß ein Reisebuch so verfaßt werden, damit ein Mensch jedweden Charakters darin etwas für seine Seele finden kann: entweder etwas Ernstes oder etwas zum Amüsieren. Ich bemühe mich, gerade diese Regel einzuhalten: ausführlich und genau beschreibe ich alles, was ich mit eigenen Augen gesehen oder was ich von anderen gehört hatte. Dabei füge ich hier und dort unterhaltsame Geschichten ein, die bald ernst, bald drollig, bald auch traurig sind. Heute beschreibe ich die Geschichte von Antonio und David. Wenn der Leser bei der Lektüre dieser Geschichte ebenso nachdenklich und traurig wird, wie meine Gäste gestern Abend waren, als ich sie ihnen erzählte, werde ich meine Aufgabe als erfüllt betrachten.
Heute regnet es, und es weht seit dem frühen Morgen ein kalter Herbstwind. In dieser Zeit, wenn der Wind heult und der Regen monoton mit seinen schrägen Strahlen an die Fensterscheiben trommelt, kommen mir stets traurige Gedanken. Sie überwältigen mich dermaßen, daß ich sie auch mit geistiger Anstrengung nicht zu überwinden vermag. Auch gestern war es so: den ganzen Tag regnete es unaufhörlich, und ich konnte mich nicht zu einer Arbeit sammeln. Untätig saß ich am Schreibtisch und versuchte vergeblich, von jener Stelle an weiterzuschreiben, an der ich stehengeblieben war. Ich saß lange da und starrte aus dem Fenster. Über dem Meer lag ein dichter Nebel, und es regnete so eintönig, daß man glauben könnte, es würde nie aufhören. Von den Bäumen fielen die letzten Blätter ab. Allenthalben herrschte schwere Melancholie, die jeden Gegenstand durchdrang. Als ich dann endlich begriff, daß ich nicht imstande war, zu arbeiten, begann ich im Zimmer auf und ab zu gehen. Eine unbegreifliche, grundlose Schwermut lag mir am Herzen. Nachdem ich nun alle „Länder“ durchwandert hatte und am Ende in jenes Zimmer gekommen war, das „Kolchis“ hieß , ballte sich die ganze Schwermut an einem Ort zusammen, und es stand auf einmal von meinem geistigen Auge Davids Bild. Ich setzte mich vor den Kamin, starrte auf die kalte Asche und gab mich den heraufziehenden neuen Gedanken hin. Gegen Mittag besuchten mich meine Freunde, und meine Schwermut wich zurück. Ich habe, Gott sei dank, viele Freunde, die mich bei beliebigem Wetter besuchen. Ich sagte schon, daß sie mich gegen Mittag besuchten.
Von meinem Hoftor führt ein pfeilgerader Weg in die Allee, und meine Diener hatten die Kutsche deshalb schon von weitem erblickt. Die Gäste wollten durchaus, obgleich sie hier schon gewesen waren, das Haus ansehen. Ich führte sie durch alle Räume, zeigte ihnen jedes Zimmer. Am Ende blieben wir im „Kolchis“ stehen. Ich lud alle zum Abendbrot ein. Das „Kolchis“ gefällt meinen Freunden besonders. Jedesmal betasten sie begeistert alle seine Gegenstände und stellen dabei immer neue Fragen. Ich befriedige ihre Neugier von Herzen gern. Ausführlich erkläre ich ihnen Zweck und Beschaffenheit jedes Gegenstandes. Dabei nenne ich ihre georgischen Namen, die, wenn man sie laut ausspricht, einen süßen und traurigen Duft auszuströmen scheinen. Gestern wurde besonders viel besichtigt und der silberne Dolch mit Gürtel und Scheide gelobt. Das freute mich außerordentlich, weil er David gehört hatte. Als der Abend heranrückte, machte ich Feuer im Kamin. Wir setzten uns auf dreifüßige Schemel um die Tabla. Der Diener brachte uns das Abendbrot: in einem irdenen Topf gekochte Bohnen, heiße Mtschadi, Käse, Grünzeug sowie Wein in einem Weinkrug. Wir ließen es uns schmecken und unterhielten uns über dies und jenes, wie es in einem engen Kreis üblich ist. Dann wurde ich gebeten, etwas zu erzählen. Ich erzählte ihnen die Erzählung von Antonio und David. Als ich dann am Ende meiner Geschichte war, trat tiefe Stille ein. Und nichts störte diese Stille, außer das Tröpfeln des Regens. Tiefe Schwermut überfiel die Gäste, und sie wurden alle nachdenklich. Schließlich löste der gute Wein uns die Zunge.
Erst gegen Mitternacht brachen sie auf. Ich bat sie aufrichtig zu bleiben, aber sie wollten nichts davon hören. Angetrunken wie sie alle waren, stiegen sie in die Kutsche und fuhren los. Ich begleitete sie bis zum Haustor. Als ich zurückgekommen war, ging ich wieder in das Zimmer, in dem wir den Abend verbracht hatten. Ich setzte mich vor den Kamin und sah auf die Glut. Meine Gedanken flatterten in das ferne Kolchis und riefen meine Erinnerungen wieder wach.
Heute weht wieder ein Herbstwind, und wieder regnet es ohne Unterlaß. Ich beschloß deshalb, zeitweilig die Beschreibung der äthiopischen nationalen Tracht aufzugeben und stattdessen dem Leser über die Abenteuer von Antonio und David zu erzählen.