Essay
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig
Dieser autobiographische Essay erkundet die geschichtlich motivierte Hassliebe zwischen Litauern (stellvertretend für Ostmitteleuropäer) und Russen. Aufgewachsen in einer zweisprachigen Umgebung im sowjetischen Vilnius, schildert der Autor Einflüsse der russischen Denkweise, Reisen durch Russland, die Auseinandersetzung mit der russischen Literatur und Kunst sowie die Jahre der Perestroika, die Unabhängigkeitsbewegung und schließlich persönliche Bekanntschaften mit russischen Schriftstellern und Intelektuellen. In Litauen wurde der Essay noch vor der Ukraine-Krise veröffentlicht und löste ein weites Echo in der Literaturkritik aus. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten des Westens, Russlands Mentalität zu verstehen, verleihen ihm erneut Aktualität.
Laurynas Katkus: geb. 1972 in Vilnius (Litauen), studierte Lituanistik in Vilnius sowie Vergleichende Literaturwissenschaft in Leipzig und Berlin, arbeitete beim Radio, in Verlagen und als Übersetzer, promovierte über Exil in der modernen Lyrik, mehrere Gedichtbände, ein Roman und eine Essaysammlung, Übersetzungen u. a. von Gottfried Benn, e. e. cummings, Peter Handke, Menke Katz, Susan Sontag ins Litauische, seine Texte wurden ins Englische, Deutsche, Slowenische, Polnische und Lettische übertragen, Mitglied im P.E.N., wurde mit verschiedenen Stipendien und Residenzen ausgezeichnet. Laurynas Katkus lebt als freischaffender Autor und Übersetzer mit seiner Familie in Vilnius.
Claudia Sinnig: geb. 1965, aufgewachsen in Gotha, Studium der russischen und englischen Sprache und Sonderstudium der litauischen Literatur in Leipzig und Vilnius, Mitbegründerin der Lithuanian Review, der ersten unzensierten englischen Zeitung in Litauen, 1990 Mitarbeit im Pressebüro von Parlamentspräsident Landsbergis, Promotion, freie Autorin und Übersetzerin, lebt in Berlin.
Leseprobe:
MOSKAUER PELMENI
I
woran ich mich erinnere: an grüne Lampen, Stehleuchten mit grünen Schirmen am Bett, die ein weiches Licht verbreiten, das auf Möbel aus hellem Holz fällt, wegen ihnen erinnere ich mich daran, denn sie waren importiert - so hell und glatt, solche hatte ich noch nie gesehen, nicht in jenen Wohnungen, Krankenhäusern und Sanatorien, in denen ich bis zu jenem Tag, vor jener Reise übernachtet hatte, und daran, in diesem seltsamen Zwischen-Raum zu liegen und mir den funkelnden Fahrstuhl vorzustellen, der aus der Eingangshalle mit den weichen Teppichen zu unserem Zimmer hinauffuhr; oder an den Zug mit den jungen Schlafwagenschaffnerinnen, dessen Fenster nicht von einer Schmutzschicht überzogen und sogar mit bunten, kleinen Gardinen geschmückt waren, und besonders an den Speisewagen, wohin mich mein Vater führt, der mit der Sicherheit eines erfahrenen Passagiers, der diese Reise schon mehr als einmal unternommen hatte, für mich ein Omlett auf einem Metallteller oder etwas Ähnliches bestellt – und überdies auf Litauisch, obwohl sich das Litauische, von härteren, kraftvolleren Intonationen durchmischt und bedrängt, bereits allmählich zurückzieht, bis es sich schließlich nach der Ankunft in der frühmorgendlichen Luft des riesigen Weißrussischen Bahnhofs ganz verflüchtigt, um nur noch in einigen Schließfächern aufbewahrt zu werden – in unseren Köpfen, die sich ihren Weg durch die Menge bahnen, aber das wird erst später geschehen, jetzt ist Abend, schon werden die Lichter gelöscht, die grünen Lampen gehen aus und auch die Lampen im Abteil, nur der Plafond leuchtet noch fahl, zieh es dir nur bis ans Kinn, das Plaid, adijalas
[i], mit dem gefalteten Laken, du kannst trotzdem nicht einschlafen, erregt von Schritten auf dem Gang, vom Summen des Fahrstuhls (dessen Schacht neben unserem Zimmer liegt), vom Poltern der Räder auf den Gleisen –
und wie könnte es auch anders sein, denn dies ist nicht irgendein Zug, sondern der wichtigste, dessen Name nicht mehr und nicht weniger als „Lietuva“ - Litauen -lautet, der in die Hauptstadt des Landes führt, denn dies ist unsere Vertretung, die der weiten Heimat zeigen soll, wer wir sind, unsere postojannoje pridatelstvo, wie sie mein Vater nennt, unsere ständige Verräterei, in der alle Klienten aus unserer Provinz zusammenströmen, die in den Behörden der Zentrale etwas zu erledigen haben, Anliegen an „eigene Leute“ und hochrangige Würdenträger, und mit Kindziukas, kalt geräucherter Presswurst aus der Suvalkija, und Kräuterschnaps an den Stadttoren durch die Menschenmenge rudern, Algirdas’ Lanzen haben sie zu Hause gelassen, oh je – wir vergassen..., nur pssst, kein Wort zu irgendwem; die Lampen, diese grünen Lampen, warum erinnere ich mir nur an sie, warum nur an kleine Details, wie prähistorische Amulette präsentieren sie sich in der Vitrine meines Gedächtnisses, warum enthält es keine Straßen mehr, keine Gemälde, keine Kantinen, keinen Himmel? nur an irgendeine Garderobe in einem Untergeschoss kann ich mich noch erinnern, wo ich und mein Bruder auf unseren Vater warteten und sich eine ältere, gebildet wirkende Garderobiere bei uns erkundigte, was wir denn in Moskau schon alles gesehen hätten und uns riet, auch einmal ins Lenin-Mausoleum hineinzuschauen – es lohnt sich, es lohnt sich (wir haben es nicht geschafft, obwohl wir uns angestellt haben – die Schlange war zu lang), dann noch an das Gesicht meiner Mutter hinter der Scheibe, nachdem wir sie lange nicht gesehen hatten, so lang wie nie zuvor, Mutter, die vier gestreifte Plastikkörbe trägt, vollgestopft mit Sachen für Freude und Komfort, Mutter, die aus dem Märchenland in unser Jammertal Säcke voller Steine herbeischleppte, oh, du sowjetische Kunst der Logistik - welche Höhen hattest du erklommen, also Mutter im [Flughafen] Scheremetjewo, aber das ist dann auch alles
vor dem Schlafzimmerfenster sehe ich zwischen Sträuchern die Spitze einer Budjonowka – das ist Paschka, der Sohn der Nachbarn aus dem 2. Stock, der im Gebüsch mit dieser komischen Mütze mit dem roten Stern auf dem Kopf herumspringt, und er spielt, nein doch, er verkörpert mit dem [russischen] Ruf wperiod, krasnaja gwardija! – vorwärts, rote Garde! - Budjonny und Tschapajew, die Unfassbaren, in einer Person, so lange bis Vater und Mutter ihn nach Hause rufen, halb schreiend, halb krächzend, so dass jeder zufälliger Passant annehmen muss, hier pfeift jemand auf dem letzten Loch, denn seine Eltern sind stumm, obwohl sie grundsätzlich Russen sind, stumme Russen, das gibt es auch, und Paschka hat jetzt keinen Freund zum spielen, obwohl ich, als wir noch in der Sandkiste hockten, bis wir etwa fünf Jahre alt waren, als die Sprache noch nicht wichtig war, immer mit ihm gespielt, kleine Autos getauscht und herumgekabbelt habe
aber jetzt ist Paschka allein wie die Revolution in der Wüste und muss warten, bis der andere kleine Russe groß genug ist, wie war noch mal sein Name, aus dem ersten padjezdas[ii], dem ersten Eingang, weil für uns der Bürgerkrieg fremd ist, obwohl wir, na klar, die Filme gesehen haben, wir spielen klassisch „Räuber und Gendarm“ und „Schnipseljagd“ und „Alibaba tschego sluga“ (russ., Alibaba was denn Diener), aber nicht Bürgerkrieg, das nicht
vielleicht noch nicht? denn als wir dann mit „historischen“ Spielen anfingen, waren sie recht eigenwillig, wir spielten in jenem Vilniuser Hof in den 1970ern Kreuzritter, und sie kämpften nicht, wie man annehmen könnte, gegen die Litauer oder gegen die Pruzzen, sondern gegen die Russen; wen wundert’s, schließlich arbeitete sie pausenlos, die Maschine zur Vernichtung von Überresten bürgerlich-nationalistischer Vorurteile; schließlich habe ja auch ich in der Kinderabteilung des Buchladens „Šatrija“ diese kleinen bunten Bücher über die Heldentaten von sowjetischen Partisanen und über Lenin, das Lockenköpfchen, gekauft, der seine Eltern niemals belogen hat – ich habe sie mir von selbst gekauft, niemand hat mich dazu gezwungen, schließlich bin ja auch ich in die Kriegsfilme gegangen und habe Ostrowskij[iii] und Gaidar[iv] gelesen, ich habe alles verschlungen, alles war tschjotko, klar – doch daneben hatte ich auch das Vorkriegs-Lehrbuch der litauischen Geschichte von Vanda Daugirdait?-Sruogien? praktisch auswendig gelernt und auf den Landkarten der UdSSR die Gebiete des Litauischen Großfürstentums in seiner größten Ausdehnung mit Buntstiften angemalt, an manchen Stellen hatte ich aus Versehen auch etwas mehr dazu genommen, auch Moskau –
[i] adijalas: lituanisierte Form des russ. Substantivs „odejalo“ – Decke, Plaid
[ii] padjezdas: lituanisierte Form des russ. Substantivs „podjesd“ – Eingang (eines Wohnblocks mit mehreren Hauseingängen)
[iii] Nikolaj Ostrowskij: sowjet. Schriftsteller (1904-1936), Autor von „Wie der Stahl gehärtet wurde“ (1932), einem der berühmtesten Romane des sozialistischen Realismus (über den Bürgerkrieg 1917-1922)
[iv] Arkadij Gaidar: sowjetruss. Schriftsteller (1904-1941), Autor von „Timur und sein Trupp“ (1940), einem der bekanntesten Kinderbücher in der UdSSR und Osteuropa