Sentenzen
196 S.
Unser Anrecht aufs Paradies angesichts unseres prekären Zustands der Vertreibung, dieses zu erinnern und einzufordern könnte man das zentrale Anliegen von Walter Thümlers neuem Sentenzenbuch nennen. Ging es in seinem ersten Band um die sich überschneidenden Sinn- und Lebensfelder von Glaube, Poesie und philosophischem Denken, so beschäftigen ihn hier nahezu alle Bereiche menschlicher Existenz. Die Sentenz ist dafür die vom Lyriker Walter Thümler bevorzugte Textsorte. Nach Themen geordnet nimmt er Stellung zu unseren menschlichen Grundbelangen, stets eingedenk unserer inneren Abgründigkeit und stillen Verzweiflung. Er beginnt bei der Gemeinschaft, dann geht es weiter zur Poesie, dann zu Staat, Arbeit, Glaube, Sexualität und Bildung, um irgendwann in L?lã und Nitya, dem gottgewollten Spiel des Relativen und dem vollkommenen Absoluten, zu münden. Immer neu wird die Frage gestellt, welche Selbstvergessenheit Selbst-Gewahrsein schenkt unter der Bedingung eines verlorenen oder verweigerten Seinsbezuges, unseres ständigen Projektionsschaffens. Die mystische Essenz der Religionen und die Kunst geben ihm darauf eine wichtige Antwort. Thümler schreibt nicht von der Warte der Gelehrsamkeit aus. Es geht ihm nicht um Richtigkeit, er errichtet kein System. Seine Sentenzen, die sich abwechseln mit Maximen und tagebuchartigen Einträgen, sind persönlich konnotiert und autorisiert und behaupten ein Grundrecht auf Freiheit eines jedes Menschen zu allen Zeiten, unter allen Bedingungen und erlauben sich, längst Norm gewordene Vorstellungsmodelle zu bestreiten. Wer das mögliche Paradies (nicht das zu erschaffende, das führt zur Vernichtung), sondern das uns einwohnende, nicht mehr glaubt, seiner nicht mehr inne wird, hat das Beste verloren: Die Sehnsucht und den Schmerz und das Glück der Erfüllung.
Walter Thümler: geb. 1955 in Oldenburg, lebt seit 2014 – nach langjährigen Aufenthalten in München und Berlin – in Wahrenberg/Elbe. Er hat bisher sechs Gedichtbände veröffentlicht, Sentenzen zu Religion, Kunst und Philosophie sowie einen Band poetologischer Notizen. In seiner Übersetzung erschienen im Leipziger Literaturverlag die Gedichtbände Immer anders auf die Erde von Gennadij Ajgi und Von nun an des Pulitzer-Prize-Trägers C.K. Williams.
Leseprobe:
Jeder stößt mit der ihn umgebenden Gesellschaftsordnung zusammen und muß sich zu ihr verhalten. Paßt er sich an, unterläuft er seine im Wesen anarchische, freie Integrität und muß jetzt versuchen, sich via Gesellschaftstier zu verwirklichen, zu identifizieren, muß sich auf den auf ihn eindringenden Handel einlassen. Paßt er sich nicht an, sucht er das Glück der eigenen Sprach-, Bild- und Weltfindung, die Integrität der Anarchie. Er will niemandes Knecht sein.
Weil wir in unserem Handeln schlafwandeln, in einem tiefen Sinn nicht wissen, was wir tun, wir in einem ständigen Wirklichkeitsdefizit befangen sind, muß sich die Wirklichkeit selbst zu ihrem Recht verhelfen.
Die Digitalisierung entspricht einer neuen Verschriftlichung der Welt. Verschriftlichung ist Virtualisierung. Und Virtualisierung ist ein Verschwinden von Welt bei aufdringlicher Gegenwärtigkeit von Welt. Sie eröffnet Selbstreferentialität, das Nullsummenspiel der Zeichen, ein Spiel ohne Einsatz. Doch Schrift ist nicht zwangsläufig selbstreferentiell. Eine Kultur entscheidet, was sie aus ihrer Schrift macht, ob sie schriftunterlegen oder schriftüberlegen agiert. Die Schriftbesitzer sind Herrscher aufgrund ihrer umfassenderen und schnelleren Kommunikation. Sie versprechen der Sehnsucht nach Austausch ohne Reibung, nach raumunabhängigem Dasein Erfüllung. Die Schrift kann nur in dem Sinn-Horizont agieren, der von Religion, Philosophie und Kunst freigesetzt ist. Sie begünstigt unsere Angst vor menschlicher Nähe, unseren Autismus. Sie ist Beschleunigung der Dramaturgie wie deren Ausleerung. Sie macht die Nachricht verfügbar; man muß diese folglich nicht mehr internalisieren. Das Begehren der Schrift - und das ist unser gnosisierendes Begehr - ist der absolute Schrift-Raum.
Die Demut antwortet auf die Frage, die Anklage, den Vorwurf des andern nicht schlagfertig, sondern läßt das mögliche Gerechte an diesem Anliegen zu Wort kommen.
Der Mann zeugt und die Frau gebiert, und indem der Mann zeugt, zeigt er. Das ist weder zu bestreiten noch zu beweisen. Es hat den Charakter einer Voraussetzung. Die Frage ist, welches Verhältnis wir dazu einnehmen. Mannsein und Frausein wie auch das Transsexuelle sind gegeben. Sie können nicht durch Argumentation verändert werden, wohl aber kann der Blick darauf einen anderen Winkel einnehmen. Aus der Voraussetzung von „Mann und Frau“ ergibt sich kein zwingendes Geschlechtsverhalten. Dieses ist als Begehren auf das Andere bezogen. Was aber mir das Andere ist, bestimmt meine Erfahrung.
Die Zeit, die zwischen dem Spruch des Propheten und dessen Annahme durch die Herrschenden und das Volk, der Gemeinschaft, liegt, beschreibt den Grad der Finsternis, darin sich jene Gemeinschaft befindet.
Seit dem Fall können wir nicht mehr unmittelbar sprechen. Unser unmittelbarstes, aber im Medium der Sprache sich verbergendes, die Seele enthaltendes Sprechen ist die Dichtung und, auf Gott bezogen, und damit unverborgen, das Gebet. Wir berühren im Sprechen der Dichtung die urständliche Kommunikation. Im Gebet erleben wir Gottes erstes, uns als Gestalt unerkennbares Sprechen.
Die Verachtung darf wer seinsoffen sein will nicht verachten. Ihm ist ihr subtiler Haß nicht erlaubt. Das heißt er darf überhaupt nicht verachten. Verachtung ist Hochmut. Die Liebe erkennt das Herz aus Stein, das sich in der Verachtung kundtut, die Selbstablehnung. Die Liebe erleidet diesen Angriff, schaut auf das Herz aus Fleisch in jenem Menschen, der sich solch subtilem Haß hingibt. Sie kann mit jenem nicht sprechen, kann sich nur mit sich selbst besprechen.
Perversion verlangt Willen zur Perversion. Der Wille zur Perversion ist Wille zum Ausnahmezustand. Die Perversion findet immer Anlaß, denn immer gibt es Gesetz, immer gibt es Ordnung. Das Polymorph-Perverse unserer nicht kathartisierten Seelenlage ist Traumgestalt der Nichterfüllung. Es ist der symbiotische Kurzschluß des Bedürfnisses nach Körpernähe, Körperverwandlung, Körperüberwindung. Jede Gestalt unseres Lebens muß vom Nicht-Entfalteten und vom gefangenen Körper zum Entwickelten und befreiten Körper geführt werden. Im Schutz von Vertrauen und Verantwortlichkeit sollen das Bedürfnis, das Begehren und das Wünschen des Körpers Erfüllung finden. Aus dem Eingesperrtsein in meine Körperlichkeit, was mein Eingesperrtsein in meine Selbigkeit zur Voraussetzung hat, kann ich heraustreten, wenn ich das mir unmenschlich Erscheinende und das Faszinierende anvertrauen und durchleben und damit seiner falschen Wichtigkeit entreißen kann. In der Ehe z.B. wird alle Körperlichkeit zum liebevollen, aber unendlich wichtigen und schönen Wasserkochen. Die Geschlechtlichkeit zeigt sich als gleichzeitig banal und außergewöhnlich. Sie offenbart sich. Und damit befreit sie mich von falschen Besetzungen. Aber zuvor werde ich befreit durch die Andersheit des Anderen. Die Perversion versucht diese Andersheit zu unterlaufen. Sie ist versteckt totalitär. Sie träumt von totaler Freiheit, die aber totale Selbigkeit ist. Sie ist eine „sich selbst erfüllen wollende Affektivität“. Gleichwohl ist die Perversion da als unerfülltes Leben, als kollektive Batterie der Verdrängung. Eine totalitäre Protesthaltung gegen Totalität.
Eine schöne Landschaft, ein großer Augenblick, das kann man allein nicht ertragen, und doch ist es, als ein Erstes, unteilbar. Es ist das Große und Wunderbare, was Gemeinschaft erst beglückend macht.
Jemand muß sein Leben lieben und nicht nur sein Leben, sondern auch den Ort, den er darin gefunden hat, um einem anderen Menschen unmanipulativ bei sich und um sich haben zu können. Ohne diese Liebe wird er - auch wenn er es nicht will – den andern benutzen und hoffen, durch ihn aus seinem Unglück, seinem Mangel an Leben befreit zu werden.
Der Selbstgerechte ist unfähig zum Mitleid. Er sagt zu den vom Turm zu Siloah Erschlagenen „ihr seid selbst schuld; was macht ihr da unter dem Turm.“ Da er nicht zum Mitgefühl vordringen kann, es aber eigentlich möchte und sich von den Verunglückten angeklagt sieht, kehrt er sein Mitleidenwollen zum Gegenangriff um, will Schuldige ausmachen und bestrafen. Der Selbstgerechte sieht im Leiden, das einen Menschen heimsucht, nur Anlaß für Straferhöhungen. Er lebt in eingeschränkter Beziehungsfähigkeit zu sich selbst, und damit auch zum andern. Das Mitleiden aber trauert und hilft. Der Selbstgerechte widersetzt sich diesem Ruf. Er schickt den Ruf zurück und sagt dem Leidenden: „Dir ist nicht Leid, sondern Gerechtigkeit widerfahren.“ Gewiß, jeder Leidende muß sich fragen, durch welches Fehlverhalten er möglicherweise das Unglück begünstigt, gerufen, über sich gebracht hat. Gab es keine Warnung? Übertrete ich nicht grundlegende Prinzipien natürlicher Lebenserhaltung und lebe folglich auf Kredit? Fordert meine Art zu leben nicht den Tod heraus? Habe ich jemandem etwas genommen, was ihm gehört und dieser kommt und erschlägt mich dafür? Das Leiden, das über mich kommen kann, hat eine rationale Seite, die ich mir erhellen muß. Die Rationalität meines Leidens mir zu entdecken ist jedoch nicht Aufgabe Dritter. Der Dritte möge mir helfen, mich selbst im Erbarmen anzunehmen.
Das Tier hat das andere schwache oder kranke Tier zur Beute, aber keines seiner Art. Und seine Beute ist ausschließlich seine Nahrung. Der Mensch hat das Tier zur Beute und seinen Mitmenschen. Schwachheit, Krankheit, Feigheit, Dummheit und Unfreiheit machen den Menschen dem Menschen zur Beute. Aber der Mensch erbeutet nicht nur, sondern er beutet aus, er erschafft die dauerhaft gewinnbringende Zerstörung des andern.
Man sehnt sich nach einem Menschen, nach Nähe, nach einem Miteinander-Sein, ohne miteinander zu verkleben. Ist das unmöglich? Die Konvention des Gefühls sucht, der Schwerkraft folgend, das Sich-Verkleben. Es bedarf großer Anstrengung, im Licht des Offenen zu bleiben. Ist die Alltagsmaschine der Sorgen angeworfen, ist es zu spät für Liebe auf Distanz. Diese Liebe ist erotisch, aber nur bedingt sexuell, denn der Beischlaf hebt die Distanz auf. Vielleicht waren und sind ein Großteil der Affairen und Liebschaften gar keine Treuebrüche, sondern nur verzweifelte Versuche, die Souveränität der Liebe wiederherzustellen. Dass man trotzdem beigeschlafen hat, war der Denkfehler, ein Automatismus des Sexuellen. Aber vielleicht war es auch die Bereitschaft, sich selbst aufzugeben und alles der Kühnheit unterzuordnen, wohl wissend, dass es kein gutes Ende nehmen kann. Es war notwendig, die Konvention des Gefühls zu durchbrechen. Das ist es, was uns dem Konflikt ausliefert: Nicht beim Anschauen bleiben können. Aber es scheint, wir brauchen den Konflikt für unser Uns-Selbst-Vergessen.
Wir ersehnen die vollkommene Kommunikation, doch wir erleben das monomanische Aneinandervorbei.