Nach seinem umfangreichen Sentenzenbuch „Wie es wirklich ist“ legt Walter Thümler hier eine über einen Zeitraum von vielen Jahren entstandene Erzählprosa vor.
Eric Thompsen ist unterwegs in einer von Nutzanwendungen und Kapitalanreicherungen verbrauchten Welt. Diesen Realitäten zum Trotz sucht er „wahre Empfindung“, „reales Geschehen“, sucht Freundschaft, sucht Zärtlichkeit. In „Eric und Andere“ mischen sich Tagebucheintragungen mit Stimmenskizzen, mit Briefen und Bildgeschichten. Die Erzählung lässt Sinnlosigkeit, Schönheit und Erschütterung nah beieinander stehen: Es entsteht ein Historiengemälde der Gegenwart. Eric erfährt sich in einer durch Spektakel und Funktionalismus von Liebe, Fest und Freundschaft entleerten Welt der Teamfähigen und Kopisten, und fragt sich schließlich, ob es nicht besser sei, zu verschwinden. Und dann wieder: „Das Leben ist groß. Wie kann jemand sagen, es sei ein Nachteil geboren zu sein?“
Walter Thümler: geb. 1955 in Oldenburg, lebt seit 2014 – nach langjährigen Aufenthalten in München und Berlin – in Wahrenberg/Elbe. Er hat bisher sechs Gedichtbände veröffentlicht, Sentenzen zu Religion, Kunst und Philosophie sowie einen Band poetologischer Notizen. In seiner Übersetzung erschienen im Leipziger Literaturverlag die Gedichtbände Immer anders auf die Erde von Gennadij Ajgi und Von nun an des Pulitzer-Prize-Trägers C.K. Williams.
Leseprobe:
26. April
Bin heute unrasiert. Es war zu anstrengend, zu allen Vorkehrungen im Bad auch noch das Rasieren. Wie schwer, am Morgen mit dem Schlafgeruch im Hals und der Schlafschwere in den Gliedern sich ins Bad zu begeben. Wieviel Aufmerksamkeit verlangt der Körper. Aber mit ihm zu streiten hat keinen Sinn oder besser, der Streit endet mit meiner Niederlage. Nein, ich muß die notwendigen Dinge gerne und in Schönheit tun. Aber meine nicht von Bedürfnissen dominierte Zeit, was wird aus ihr? Jeder Tag ist zum Wahnsinn entschlossen. Und wenn ich morgens aufstehe, hat der Tag schon angeklopft. Und ich hinke durch seine Tür. Heute verbat er mir, Zeit zu verlieren. Er war das Maß. So lauf ich unrasiert herum.
Die Frauen kommen mir entgegen auf dem Trottoir mit vollen runden Brüsten, tiefen Dekolletés. Ihre Brüste wirken wie feste, frische Früchte. Sie strahlen Kraft aus. Aber du weißt, sie sind ganz weich. Sie sind ein zum Verschwinden weiches Fleisch. Man kann in sie hineinfallen. Es sind eher Kissen als Früchte. Das Harte, das für den Mann von der Frau kommt, ist das Kind. So wie eine in Bronze gegossene Skulptur das Weiche von Fleisch haben kann (man ist verwundert ob der Härte des Materials, wenn man mit dem Finger darüber streicht), so ist bei der weiblichen Brust das genaue Gegenteil der Fall: Sie scheint in der Hand zu vergehen. Aber die Frau ist damit noch keineswegs berührt. Sie weiß sich zu entziehen in unkörperliche oder anderskörperliche Regionen. Dennoch, die Lockung gelingt. Und die Frau ist sogar im Recht. Auch wenn sie es nicht selber ist, die lockt. Denn es muß gelockt werden, einfach deshalb weil – wie Pascal sagt – wir nicht in der Lage sind, still in unserem Zimmer zu bleiben. Wenn wir das aber nicht können – und damit fängt, nach Pascal, alles Übel an –, soll das Draußen, darin wir uns zumeist banal verlieren, schön und verschwenderisch gewesen sein.
Sonderbar, welch Geborgenheit die dünne Blechhaut eines Autos vermittelt und wie man bereit ist, sich zu mehreren Personen in diesen engen Raum zu zwängen. Sollte das Autofahren Erfahrungen der Kindheit wachrufen, jene, die wir im Kinderwagen machten? Aber in der kindlichen Freude des Fahrens und Gefahrenwerdens trat gerade die Welt als Welt hervor. Ich kann mir nicht vorstellen, daß im Auto, das mich anblinkt und anhupt, ein Mensch sitzt. Erst beim Unfall zeigt sich dieser, und dann steht er da mit seinem kleinen Verbandskasten, sofern er nicht überhaupt geflohen ist. Wie aus diesem Gehäuse, das ein universales, metaphysisches geworden ist, wieder aussteigen, ein ohnmächtiger Körper sein?
„Das kann man doch herunterbeten“, hatte Helen gesagt. Und in diesem Fall hatte ich ihr recht geben müssen. Begründete sich Gebet doch aus einem Gegenüber. Von welchem Gegenüber sollte die Rede sein? Der Himmel war leer, und wir fanden uns gut darin zurecht. Wie jedoch, wenn sich in dieser Leere Kontur zeigte? „Das kann man doch herunterbeten“, tönt es noch in meinem Ohr.
Ich mochte Helens harte Wangenknochen und ihr hartes Kinn. Es war wie eine Zeichnung, sagen wir, von Kirchner. Ich mochte ihr Haar, das immer ganz zersaust von ihren Händen war. Mit ihren wachen grün-grauen Augen hat sie mich oft groß und heiter angeschaut. Manchmal sah ich absichtlich kurz weg, nur um ihren Blick noch einmal aufzufangen. Ich mochte ihre langen hellen Arme, die sich wie Elfenbein um meinen Hals legten. Ich mochte unsere Gespräche, unser Streiten, darin sie erst nach langem Hin und Her irgendwann überraschend das Thema wechselte, um einen versöhnlichen Ton anzuschlagen und z.B. über Haare oder Socken redete und dann irgendwie innerlich belustigt allen Streiternst zwischen uns begrub. So behielt ich ihre Worte im Gedächtnis, und ich hatte das Gefühl, sie würde die meinen auch bewahren, auf sanfte Art. Ich mochte es, wie sie bei unseren Spaziergängen vorausging. Oft hielt ich einfach an, und sie bemerkte es nicht. Irgendwann wendete sie sich um und schaute, wo ich geblieben war. Dann kam sie mir entgegen und wir gingen zehn Schritte gemeinsam. Doch alsbald ging sie wieder voraus, es sei denn ich hielt sie am Arm oder hakte sie bei mir ein. Ich wußte nie, wo sie hin wollte. Sie hat zu mir gesagt, „das kann man doch herunterbeten“. Ich mußte ihr vorläufig recht geben. Aber bei dem, was diesem Gebet Grund verschafft hatte, lag die Sache anders. Ich mochte, wie sie sich durchs Haar raufte und danach meist kurz in sich hineinschmunzeld etwas Lustiges sagte. Oder plötzlich ganz ernst und versteinert war. Dann wirkten ihre Wangen- und Kinnknochen noch härter, noch markanter. Sie schwieg dann eine Weile, um etwas Bedeutsames zu sagen. Aber dieses Bedeutsame erschreckte sie und sie suchte eine lustige Pointe. Sie war vorsichtig. Darum hat sie auch gesagt, „das kann man doch herunterbeten“. Denn in der Art wie dieses zumeist gebetet wurde, war zu wenig Schmerz angesichts der Grenze.
28. April
„Viele Schichten hat der Lebensbau. Was weiß z.B. die obere reflexive Schicht von dem Erdulden der unteren? Die Kunst ist solch untere Schicht. Sie ist dort, wo Zukunft entsteht. Wer darf reden über Kunst?“, hast du zwischen den Kopiervorgängen beim Umblättern gelesen. Dann: „Sie suchen das Wissen, um mit Versuchsanleitungen aufs Dasein loszugehen …“ Und während du noch kopierst, fragst du dich: Dieser Glaube an die Vervielfältigung, ist das Zeichen für die Unmöglichkeit, einen Ausgangspunkt zu finden? „Kann ich die Welt nicht ein wenig verändern mit einer Kopie?“, erhofft sich das der sonntägliche Kunde? Erhofftst du dir das? Kopieren soll Sprechen ersetzen. Und Sprechen soll Spiel sein. Besser aber man spielt, als daß man tötet; aber Spielen droht Töten zu werden.
Aus den Lautsprechern im Supermarkt tönt alle paar Minuten ein fröhlicher Einkaufssong, jedenfalls soll er fröhlich klingen. Ein Chor von vielleicht vier weiblichen Stimmen singt freudig erregt den Namen der Supermarktkette „E – de − ka − ha“ auf den Noten C − C− G − und oktaviertes C. G und oktaviertes C fallen auf ka − ha. Danach erschallt der emphatisch-weiblich sanfte Ruf „Wir lieben Lebensmittel“. Gewiß war es keine Schwierigkeit, diesen Frauenchor zusammenzustellen und die Frauen diesen Satz ausrufen zu lassen. „Gilt ja nicht“ werden sie sich gesagt haben. „Ist ja nur für den Supermarkt, ist ja nur Werbung“. Wie schwer wäre es sonst, aus ihnen ein Bekenntnis herauszukriegen. Aber jetzt lieben sie Lebensmittel und singen „E − de − ka − ha“. Als ich an der Kasse steh, fragt jemand nach dem Preis für ein Shampoo. Die Kassiererin sagt „einsfünfundneunzig“, woraufhin der Mann erwidert, „oh, das ist günstig, das nehme ich“. „Ja“, sagt die Frau, „wir sind gut und günstig“, und wählt damit ein markteigenes Idiom, merkt aber, es war nicht ihre Sprache und schämt sich eine Weile.
Helen tauchte gern überraschend bei mir auf. Sie war oft zerstreut und sagte, sie habe eigentlich keine Zeit, wolle mich aber kurz sehen. Und tatsächlich, sie blieb nur auf einen Tee, stahl sich ein paar Küsse und verschwand wieder. Was soll das mit uns werden, mußte ich denken, mit zwei derart von der Zärtlichkeit Abgelenkten?
In der Akazienstraße siehst du, wie eine Frau versucht, ihr Auto einzuparken. Sie stellt sich dabei umständlich an. Als sie erneut zurücksetzt, schert sie beim Einbiegen weit aus. Ein herannahender Roller könnte jetzt auf die Gegenfahrbahn ausweichen, aber er bremst ziemlich scharf. Auf dem Roller sitzt ein dunkelgekleideter Mann, hinter ihm eine Frau im beigen Mantel. Auf der Höhe der Fahrertür hält der Rollerfahrer an und schimpft wutschnaubend in Richtung Fahrerin. Er ist unendlich aufgebracht, weil er bremsen mußte. Jetzt, während er Gas gibt und sich zum Weiterfahren etwas schräg legt, spuckt er auf die Seitenscheibe in Höhe des Gesichtes und zischt davon. Als du an dem Pkw vorbeikommst, läuft der Speichel dick vom Fenster herab, während die Frau den Wagen noch immer hin und her setzt.
Es gibt eine Erfahrung, die ist in keine Schriftform zu bringen. Immer wieder hast du versucht, etwas davon niederzuschreiben. Es wollte nicht gelingen. Das Format einer Seite spottete der Erfahrung. Du versuchtest, mehrere Blätter aneinanderzuheften. Aber auch hier widersetzte sich das Erlebte. Du stelltest dir einen wandgroßen Schriftträger vor. Aber das wäre immer noch ein herausgehobener Schriftträger gewesen, nicht das Leben selbst. Darum legtest du die Stifte beiseite. Die Erfahrung lag tiefer. Es war ein vulkantiefes Strömen und Schweigen. Irgendwie nicht kommunizierbar, aber Grund und Inhalt dessen, was Nachricht berechtigt zu sein.
Steht hier der Mörder, folgt dort der Räuber, lauert da der Dieb? Hinterm Hoftor, im leeren nächtlichen Bankvorraum, im dunklen Flur zu den Hinterhäusern? Furcht vor dem Gefressenwerden wie das Tier sie haben mag. Doch selten trifft das Befürchtete ein. Aber wenn ich auch von keinem Tier gefressen werde, so frißt mich die Angst häppchenweise und dauerhaft. Furcht um mein kleines Leben, das an Banalität kaum zu übertreffen, aber für den Verbrecher anscheinend interessant ist. Verbrecher wird, wer ausgeschlossen vom Allgemeinen bleibt. Er findet nicht hinein, und wird nicht hineingelassen. Sein Tun ist ein verzweifeltes Gleichgewichtschaffen. Jenseits aller Bewußtheit ist er im Unglück. Irgend etwas, irgendwer riß ihn hinein und hinterließ keine Adresse. Warum soll dieser Verbrecher nicht auf mich treffen? Nur eine minimale Verschiebung macht, daß ich nicht dieser Verbrecher bin, keine verzweifelte Ausgleichshandlung vollziehen muß, ich Zugang zum Allgemeinen habe. Warum aber fürchte ich den Verbrecher? Weil ich nicht bereit bin, im Monstrum mich selbst zu entdecken.
Abends
Habe vor einigen Tagen einen neuen Schrank bekommen. Heute habe ich ihn eingeräumt. Die Fotos, Bücher und all das, was jetzt vom alten in den neuen Schrank gewandert ist, wird eines Tages, vielleicht erst von meinen Kindern, wieder ans Licht gezerrt werden. Hatte mir lange eingebildet, im alten Schrank befänden sich halbwegs wertvolle Sachen. Beim Ausräumen kamen jedoch nur Dinge hervor, die für Dritte wertlos sind. Der neue Schrank stammt aus einer Haushaltsauflösung. Er strahlt die Schlafruhe alter Menschen aus. Vielleicht ein Geschenk von den Kindern oder Enkelkindern? Jener alte Mensch hat ihn mit dem Wenigen, was man im Wohnheim hat, gefüllt. Das helle Holz, das moderne Design mögen ihm vielleicht nur wenig gefallen haben. Das Möbelstück verkündete ein steriles Wenigerwerden, verbot in charmanter und gewählter Sprache weiteres Wachstum. Nicht daß man es nicht eingesehen, tagtäglich festgestellt hätte, daß man nur noch mit Wenigem haushalten konnte, aber mußte man deshalb auf die Stufe eines Jugendlichen, der gerade von zu Hause ausgezogen ist, zurückgestuft werden? Man lebte nur noch aus Restkräften, aber wollte man dies dokumentiert wissen? Doch irgendwann waren wohl auch diese Kräfte aufgebraucht, denn jetzt steht der Schrank bei mir und erzählt seine Resopal-Geschichte.
29. April
Bist dabei, deine Wintersachen einzumotten. Es ist Ende April. „The cruelest month“, wie ein von mir geschätzter englischer Dichter diesen Monat nennt, hat sich dem nahenden Mai ergeben. Die Sonne schenkt klares belebendes Licht. Du steckst deinen langen Mantel (Geschenk vom Freund) und deinen knielangen Mantel (auch Geschenk vom Freund), 1 graue Strickjacke und 1 dünnen grauen Pullover, 1 blauen vielfach gestopften Seemannspullover, 1 Schal, Handschuhe und 2 lange Unterhosen in einen blauen Müllsack. Jetzt legst du grüne Lavendelpapiere hinzu, um deine Habseligkeiten vor Motten zu schützen. Finden die kleinen Tierchen doch fast immer den Weg zu ihrem Festtagsbraten. Dieses Mal sollen sie aber deine Sachen in Ruhe lassen und ihrer Wege ziehen (fliegen). Die Verkäuferin sagte, die Motten gingen vor allem an Kleidungsstücke, die nicht bewegt würden. Was nicht bewegt wird, wird nicht gebraucht, schließt du daraus, kann also eingehen in die Nahrungskette. Aber bitte fresst den langen Mantel nicht, den brauche ich im nächsten Winter.
Viel gab es zu erzählen, wenn ich zwei- bis dreimal im Jahr die betagten Eltern besuchte, jedes Mal mit dem schlechten Gewissen, so selten zu kommen. Das Teetrinken war ein Ritual. Schönes Geschirr, Kerzenlicht. Vater sagte: „Gleich, ungefähr um fünf, kommt die Amsel. Sie geht unterm Terrassentor hindurch und kommt bis auf einen Meter an die Haustür heran. Wenn ich die Tür öffne, fliegt sie nicht weg.“ Sollte es wahr sein, ein Vogel kommt mitten in der Stadt an die Haustür auf eine umzäunte Terrasse, sich ein bißchen Futter zu holen, und das fast immer zur gleichen Zeit? fragte ich mich laut. „Ja“, sagte Mutter, „der Vogel kommt bis hierher, mußt mal sehen“. Plötzlich stand Vater auf. „Da ist sie ja“, rief er freudig und eilte zur Tür. Und tatsächlich, unterm Gartentor hindurch war eine Amsel gehüpft. Sie blieb auf der Terrasse stehen und verdrehte die blau-schwarzen Augen. Vater öffnete die Tür, und ohne daß sich der Vogel erschreckte oder Zeichen zur Flucht gab, hüpfte er auf die Körner zu, die Vater ihm mit sanfter Hand zuwarf. „Das hab ich noch nie gesehen, ein scheuer Vogel kommt wie auf Verabredung so nah ans Haus heran“, sagte ich erstaunt. „Er kann ja kaum wegfliegen“. Über der Amsel war das Dach, links und rechts die Wände und hinter ihr die Glasscheibe, die aus der Terrasse einen halben Wintergarten machte. Doch in diesem Augenblick hatte sich die Amsel umgewendet, war wieder, nicht ohne sich noch einen Leckerbissen zu schnappen, unters Tor hindurchgeschlüpft und weggeflogen.
Leider sind noch keine Bewertungen vorhanden. Seien Sie der Erste, der das Produkt bewertet.
Sie müssen angemeldet sein um eine Bewertung abgeben zu können. Anmelden