Gedichte, zweisprachig.
Aus dem Montenegrinischen von Cornelia Marks
Ein sehr umfangreicher Sammelband des Lyrikers – er enthält 7 Gedichtzyklen mit insgesamt 183 Gedichten - hier wird eine Auswahl vorgelegt, die von der Übersetzerin Cornelia Marks getroffen wurde.
Milorad Popovi?: Dichter und Essayist, geboren 1957 in Lipa Cucka bei Cetinje, Montenegro, ist einer der Begründer des montenegrinischen P.E.N.-Klubs, Vorsitzender des Verbandes freier Schriftsteller Montenegros, Direktor des „Offenen Kulturforums Cetinje“ („Otvoreni kulturni forum Cetinje“, OKF), Herausgeber zeitgenössischer südslawischer Literatur sowie der Zeitschrift für Literatur, Kultur und gesellschaftliche Fragen „Ars“. Seine Lyrik wurde ins Englische, Italienische, Deutsche, Türkische, Tschechische, Polnische, Litauische, Ungarische, Rumänische, Albanische, Bulgarische und Mazedonische übersetzt.
„Wie kaum einem anderen südslawischen Schriftsteller und Intellektuellen in der Zeit des postjugoslawischen Kataklysmus, gelingt es Mijo Popovi?, seine nationale (montenegrinische) Idee so zu kultivieren, dass kritische Nüchternheit und Erkenntnis, ironisches Bewusstsein, die Ablehnung, niederen Partikularismus-Bestrebungen zu frönen, und die philosophische Tiefe (ein Merkmal des spezifischen Lyrismus in der Poesie von Popovi?) niemals zulassen werden, dass sie sich je in Nationalismus verwandelt.“ Ivan Lovrenovi?
„Diese, wahrscheinlich gewissermaßen auch zu strenge, Auswahl des Dichters, als Summe der lyrischen Gesänge Popovi?s, stellt eine der sicherlich wertvollsten und bedeutendsten Gedichtsammlungen in der modernen Lyrikwelt Montenegros dar.“ Pavle Goranovi?
Leseprobe:
Borhes
On koristi uši
kao što drugi ?italac
koristi o?i.
Koristi ušne školjke
kao ¸ive zjenice
da bi pretra¸ivao neku rije?
neku re?enicu, odlomak
kako bi potvrdio pam?enje.
Glasno analizuje stilsko sredstvo
ne bi li ?ita?a
(svoju bilje¸nicu)
prisilio na vlastitu definiciju
Kiplingovog tigra duha.
Piše jezikom
tim nevidljivim mastilom
(u najmanje ?etrdeset verzija)
kao što drugi pišu perom.
Piš sa¸eto
ali nenametljivo eruditski
i vrlo smiješo –
ponekad okrutno
da bi sabrao misli.
Dopuštao je
da mu rije?i
ote¸ale u unutarnjem ogledalu
ponizno i spokojno
dolaze i odlaze.
Borges
Er benutzt die Ohren
wie andere Leser
die Augen benutzen.
Er benutzt die Ohrmuscheln
wie lebendige Pupillen
um ein Wort abzusuchen
einen Satz, einen Abschnitt
um das Gedächtnis zu bestätigen.
Lautstark analysiert er das künstlerische Mittel
um den Leser
sein Notizbuch
zu einer eigenen Deutung
von Kiplings Tiger zu zwingen.
Er schreibt mit der Zunge
mit jener unsichtbaren Tinte
(in mindestens vierzig Versionen)
wie andere mit der Feder schreiben.
Er schreibt knapp gefasst
doch dezent gelehrsam
und sehr amüsant –
manchmal brutal
um seine Gedanken zu sammeln.
Er ließ zu
dass seine Worte
schwer geworden im inneren Spiegel
demütig und gelassen
kommen und gehen.
Samoubistvo
Marini Cvetajevoj
I ptice mogu predskazati smrt.
Zlatasta sjenka konjske balege
sle?ena je.
Jutro se ne osvrnu na vrbu.
Jutro na kraju.
Prva ratna godina.
Tvoj posljednji glas.
Pucanj.
U Jelabugu se zvijezda
izgubi.
U ribnjaku.
I razvedri rosnu poljanu
beskrajne stepe
Selbsttötung
Für Marina Zwetajewa
Auch Vögel können den Tod vorhersagen.
Der goldene Schatten von Pferdemist
ist gefroren.
Der Morgen schaut sich nicht nach der Weide um.
Der Morgen am Ende.
Das erste Kriegsjahr.
Dein letzter Ruf.
Ein Schuss.
In Jelabuga geht ein Stern
verloren.
Im Fischteich.
Und erhellt die taubenetzte Flur
der endlosen Steppe
Nepodnošljiva lako?a postojanja
Nije lako misliti slobodno kad imaš ¸enu
nije lako misliti slobodno kad imaš domovinu
nije lako misliti slobodno kad imaš prijatelje
nije lako govoriti slobodno kad imaš ¸enu
nije lako govoriti slobodno kad imaš domovinu
nije lako govoriti slobodno na trgovima, u bolnicama, u kasarnama
nije lako govoriti slobodno kad imaš sve
nije lako imati sve i ne govoriti ništa
nikome nije lako
osim Gospodu nad vojskama –
on je bez ijedne ideje
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Es ist nicht leicht, frei zu denken, wenn du eine Frau hast
es ist nicht leicht, frei zu denken, wenn du eine Heimat hast
es ist nicht leicht, frei zu denken, wenn du Freunde hast
es ist nicht leicht, frei zu reden, wenn du eine Frau hast
es ist nicht leicht, frei zu reden, wenn du eine Heimat hast
es ist nicht leicht, frei zu reden auf Plätzen, in Kliniken, in Kasernen
es ist nicht leicht, frei zu reden, wenn du alles hast
es ist nicht leicht, alles zu haben und nichts zu sagen
niemand hat es leicht
außer der Herr über die Armeen –
er hat keine einzige Idee
Melanholija
Svi ? me izdati i
ostaviti
gordog mra?nog i
ostarjelog.
Ismija?e me
prljavog i prevarenog.
Ti ?eš me pratiti.
´enstveno.
Sunce ?e se izgubiti
suncokreti ?e glavu okretati
vrane ?e se smijati
šavovi na lobanji ? pucati
ledeni pla? u tamnicama ?u
slušati.
Ti me ne?eš ostaviti.
Melanholijo.
Divno ¸ensko ime
Melancholie
Alle werden mich verraten und
verlassen
mich Stolzen, Finsteren und
Gealterten.
Sie werden verspotten
mich Schmutzigen und Betrogenen.
Du wirst mich begleiten.
In weiblicher Manier.
Die Sonne wird verschwinden
die Sonnenblumen werden die Köpfe verdrehen
die Krähen werden lachen
die Schädelnähte werden bersten
eisiges Weinen werd ich in den Kerkern
hören.
Du wirst mich nicht verlassen.
Melancholie.
Ein wunderschöner Frauenname.
Izgnani pjesnici
Ro?eni, kako su vas progonili
u provincije, gdje sjenke
jednostrano se zgusnu
ko maslinovo granje.
Kako su vas samo precjenjivali
kako su vas sna¸ili
kako samo nijesu znali da rije?i su vjetrenja?e
koje se okre?u u pravcu povijenog ¸ita
i mijenjaju svoj oblik
posve sli?an vodi.
Verbannte Dichter
Meine Liebsten, wie sie euch verbannten
in die Provinzen, wo die Schatten
sich einseitig verdichten
wie das Geäst der Olivenbäume.
Wie sie euch nur überschätzten
wie sie euch bestärkten
wie sie gar nicht wussten, dass Worte Windmühlen sind
die sich in Richtung des gewundenen Getreides drehen
und ihre Form verändern
ganz ähnlich dem Wasser.
Stepski Vuk
U moje divlje o?i
ne gledaj:
ja sam vuk
koji je pojeo svoju nogu.
Otkad ne bje¸im
bijesne na mene
redovno pregledaju mi o?i
jesam li prazan
jesam li posve prazan
i mio.
Der Steppenwolf
In meine wilden Augen
schauen sollst du nicht:
ich bin ein Wolf
der seinen Fuß aufgefressen hat.
Seitdem ich nicht mehr fliehe
sind sie zornig auf mich
mustern regelmäßig meine Augen
ob ich leer bin
ob ich ganz leer bin
und zahm.