Die Antworten des Tronje Wagenbrant - Roman. Mit Zeichnungen von Marion Quitz
In diesem Schelmenroman schildert Viktor Kalinke das Leben eines Soldaten in der NVA - doch die Geschichte greift darüber hinaus. Es ist ein philosophischer Roman, in dem die Sinnlosigkeit jeder kriegspielenden Armee dargestellt wird: hier geht es, weit gefaßt, um den Traum von einer besseren Menschheit.
"Wir erkennen das Taumeln des Einzelnen inmitten der uniformierten Massenbewegung, und die Geschichte hat plötzlich ein Gesicht." (Holger Oertel, Dresdner Neueste Nachrichten)
"Der Autor schildert in seinem Roman, einer Montage aus fiktiven Tonbandprotokollen, den Weg eines jungen Mannes, der im Versuch, den Armeealltag zu durchbrechen, wahnsinnig wird. Der Held landet in der Psychiatrie, der Bericht wird zur Groteske." (Volker Sielaff)
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, lebt in Leipzig.
Leseprobe:
Erste Verkörperung des Ichleibs
Mir war, als könnte ich durch eine Taucherbrille meinen Organismus sehen. In durchsichtigen Röhren floß Blut vor einem dunklen Hintergrund, ich näherte mich, mit ruhigen Zügen schwimmend, dem Herz; wie ein Sog riß es mich Schlag für Schlag, ohne daß ich noch mit den Armen nachhalf, näher, zog mich durch einen Kanal in die Vorhöfe; ich wirbelte schreiend herum: laß mich alle Gefühle durchleben, Herz, du beköstigst das Gehirn, gib mir von deiner Nahrung ab, trommle, daß ich in dienem Rhythmus schwinge, kein anderer mir befiehlt als der, den ich, in mich lauschend, erfahre. Weiter spülte mich der pulsierende Schlag, eine innerorganische Seefahrt begann. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, in der orangefarben das Blut pulsierte; mich wunderte die Regelmäßigkeit, mit welcher das Herz, dieses Pumpspeicherwerk funktionierte.
Der Schmerz zwischen Schädel und Hals, wo sich die Beule eingenistet hatte, ließ nach, schwach nur brannte er noch. Das Blut strömte regelmäßig aufwallend und flößte mich weiter; Tosen, das vom Schnurren und Gluckern der Kapillaren herrührte, betäubte mein Gehör. Vor den Augen flimmerte es rötlich wie Glut in einem Ofen und allmählich, wurde mir der rünstige, einem Gesunden Übelkeit erregende Anblick vertraut. Ich folgte einem Faden, der glatt und ohne Hindernisse seinen verschlungenen Weg durch meinen Körper nahm, der jetzt die Außenwelt, mein Kosmos geworden war. Ohne zu tropfen, leiteten die Adern das Blut – die Welt war ein einziger, ein einzigartiger Organismus. Mit Abscheu erinnerte mich das Wort Pumpspeicherwerk, daß ich ihn mir als Mechanik vorstellte. Die Kapillaren, abzweigend in ein chaotisches Netz, verwirrten mich; meine Gewohnheit, die eigene Situation nicht begreifend, unentwegt nach einer Formel zu suchen, verlockten meinen auf die Beule geschrumpften Geist zur Erkenntnis: Innen und Außen waren verschmolzen, Einbildungen erlangten sinnliche Stärke wie Wirkliches und von dem, was ich zuvor großartig „Welt“ nannte, war wenig übrig geblieben, ein paar Adern, ein paar Liter warmes, klebriges Blut, eine langwielige Welt. Sie gab mir keine Aufschlüsse, wo ich war, an welcher Stelle mein „Ich“ saß, das mir wie eine geheimnisvolle Höhle erschien.
Abschied vom Ursprünglichen
Es war ein trüber Novembertag, der erste. Durch den breitkrempigen Lederhut, den ich trug, fiel ich unter den künftigen Soldaten auf, die den Sonderzug erwarteten. Kreischend bremste der Zug, schon nach kurzer Zeit riß uns der Pfiff einer dicken Schaffnerin von Mutter, Vater oder Freundin. Ich lüftete zum Abschied ein wenig den Hut, so daß mein Igel zum Vorschein kam, unter dem weißlich, von grünen Adern zerschnitten wie ein flacher Sumpf von Bächen, die Kopfhaut durchschimmerte. Mein Blick richtete sich auf ein kräftiges, dennoch schlankes Mädchen mit schulterlangen, dunkelblonden Haaren, Monique, die lässig an einem der Pfeiler lehnte, die das Bahnhofsdach stützten. Ich winkte ihr mit dem Hut, sie lächelte kurz, als sie meinen Kopf sah. Gestern noch hatte ich Haare, so lang wie ihre, vielleicht länger – die neue Zeit brach an.
Meine Freundin Elke hatte ich ebenfalls zum Abschied bestellt. Sie hockte wie ein Häufchen Unglück im Wartesaal, zerfressen von Sorgen, ob ich heil die Armee überstehen würde. Ich grinste sie an, sie erkannte mich nicht. Dabei hatte ich sie erst vorgestern eingeweiht, daß ich einige Zeit aus dem Leben verschwinde. Langsam lief ich an ihr vorbei und blickte ihr ins Gesicht. Sie sah verheult aus. Im Vorbeigehen stieß ich Monique an, die gelangweilt fauchte. Ich gab ihr einen Kuß, den sie in die Länge dehnte. Dann pfiff die Schaffnerin ein zweites Mal. Ich entfernte Monique von meinem Mund, sagte „Tschüß“, winkte im Umdrehen Elke zu, die mich erkannte, und stieg mit zwei bösen Blicken im Nacken und einem teils stolzen, teils unbehaglichen Gefühl in den Zug, fand keinen Platz mehr, setzte mich zwischen den scheppernden Waggons auf meinen Rucksack.
Noch ein Pfiff, Türenknallen, ein Ruck. Ich sah kurz Elke, die Monique anstarrte, welche bereits wieder gelangweilt am Pfeiler lehnte, und lächelte über mein Pendelspiel in den letzten Wochen, mein Jonglieren mit Elke und Monique, von dem ich endlich befreit war. Wehmut ergriff mich, dann Wut über diese Befreiung: Wieso hatte ich die Bälle von mir aus weggeworfen? Monique, dachte ich, bemerkt das Ausmaß an Verletzung nicht, das ich ihr zugefügt habe – aber Elke wird es schwer verkraften.
So fuhr ich zur Asche. Ein wütender Schrei, Füßeschurren, Rölpsen drangen aus dem Abteil, ich fühlte mich erleichtert. Es war die Sprache, an die ich mich gewöhnen müßte, glaubte ich, schloß die Augen, drückte meinen Rücken an eine hellgrüne Sprelacartwand. Ein dicklicher Junge mit kurzen strähnigen Haaren, Andreas, sah mich, stellte seinen Koffer ins Gepäcknetz und bot mir den freien Platz an. Als ich den Hut absetzte, bemerkte ich, daß sich Andreas fürchtete. Deshalb vielleicht begann er kein Gespräch. Ich wühlte aus meinem Rucksack einen Gedichtband hervor und tat etwas Sonderbares: Ich las darin, strich mir Zeilen an oder markierte sie mit Buntstiften. Um sie später wiederzufinden, sagte ich zu Andreas. In Wirklichkeit bildete ich mir ein, mich so tiefer mit den Texten zu beschäftigen. Irgendwann verschwammen die Zeichen in der Buchstabensuppe. Ich war nicht mehr fähig zu lesen. Ein Fettauge glotzte mich an. Immer wieder stießen die Verse in mir auf.
Der Zug zur Kaserne bummelte anfangs, nach und nach steigerte er sein Tempo und hielt es durch bis zum Ende. Als würde er einem Ziel folgen, das ihn anzieht und sich zugleich von ihm entfernt. Niemand stieg aus, es war ein Sonderzug. Ohne viel zu sehen, stierte ich aus dem Fenster. Die Landschaften glitten vorbei und standen still, dreckige Bahnhöfe mit verblaßten roten Transparenten wechselten einander ab. Die meisten Bäume waren kahl, graugrün lag das Land ausgestreckt wie ein hingeworfener Filzmantel. Die Sonne stand als grellgelbe Scheibe hinterm Dunst, welcher den Himmel wie eine Zuckerglasur überzog. Manchmal brach sich mein Blick in der Glastür, die so verschmutzt war, daß sie mich spiegelte. In der oberen Hälfte der Tür klebte ein Poster, auf dem ein Liebespaar dargestellt war, das sich unter einem Regenschirm umarmte. In den Pfützen schillerten Jugendstilfassaden. „Besuchen Sie Prag!“ stand darunter.