Artikel der Lagerzeitung des Karlag "Putjowka"
Zu den wenig bekannten und durch die Gulagforschung kaum erschlossenen Seiten der Sowjetgeschichte gehört die Herausgabe von Lagerzeitungen. Von 1923 bis 1960 existierten in der UdSSR insgesamt 476 Lager, in denen zwischen 15 und 18 Millionen Häftlinge gefangen gehalten wurden. Das Karlag, d.h. das Karagandinsker Besserungsarbeitslager, bestand von 1929 bis 1959 in Kasachstan. Die Zeitung Putjowka („Dienstreiseauftrag“) war das Sprachrohr der für kultur-erzieherische Arbeit zuständigen Abteilung der Lagerverwaltung. Die im Lager zu sozialistischen Menschen „umgeschmiedeten“ Häftlinge erhielten nach verbüßter Zwangsarbeit ihre „Putjowka“ in die Sowjetgesellschaft, um in der kasachischen Steppe ein neues Leben zu beginnen. Im Mittelpunkt der vorliegenden Auswahl stehen die Arbeits- und Lebensbedingungen im Karagandinsker Lager. In den Artikeln und Karikaturen kommen der menschenverachtende Charakter und die Ineffizienz des Lagersystems deutlich zum Ausdruck. Damit legen, so zensiert und manipuliert die Berichte auch sind, jene Häftlinge Zeugnis ab, die heute nicht mehr befragt werden können.
Wladislaw Hedeler: geb. 1953 in Tomsk, Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität, international renommierter Kommunismusforscher, lebt in Berlin.
Besprechung von Felicitas Fischer von Weikersthal, Zeitschrift Osteuropa, 2014 (1)
"Diese verdienstvolle Arbeit hat Hedeler nun mit der Übersetzung einer bisher weitgehend unbekannten Quellengattung fortgeführt. Vom Schmieden neuer Menschen umfasst insgesamt 41 Artikel und zahlreiche Illustrationen der Jahrgänge 1933–1935 der Zeitung Putevka, die
im Karlag für die Häftlinge ab 1932 bis 1937 erschien. Der Titel, abgeleitet von dem sowjetischen Film Putevka v ¸izn’ (Der Weg ins Leben), stand für eines der vorgeblichen Ziele der Lager: „die Erziehung und Umerziehung der Häftlinge“ (S. 14). In den Lagern müssten, so die Zeitung, die „gesellschaftlichschädlichen Elemente“ sowie „alle anderen Rechtsverletzer [. . .] alle Phasen der Erziehung und Umerziehung durch Arbeit durchlaufen, um sich vom Erbe des Alten zu reinigen und die erforderlichen Arbeitsgewohnheiten anzueignen, die Voraussetzung für die innere Umwandlung des ,verrenkten‘, auf die schiefe Bahn geratenen Individuums und seine Wandlung in ein nützliches Mitglied der freien Arbeitsgesellschaft sind“ (S. 23). In diesem Artikel von 1933 spiegelt sich deutlich die Anfang der 1930er Jahre durchaus verbreitete Vorstellung, Kriminelle durch erzwungene Arbeit und das Leben im Kollektiv disziplinieren und in die Gesellschaft reintegrieren zu können. Die Presseorgane, die anders als die „freie“ Presse von offizieller Seite unterstützt wurden (S. 6), sollten unter anderem diese Umerziehung oder Umschmiedung vorantreiben. Und tatsächlich, so lassen uns die ausgewählten Artikel glauben, fanden ehemalige Kriminelle durch den Aufenthalt in den Lagern in die sowjetische Gesellschaft zurück. Ihr aufrichtiger, ja „flammender Dank“ (S. 87) gilt der Lagerverwaltung, die u.a. durch ihre Teilhabe an der Umwandlung und ihre „Menschlichkeit“ den Weg ins Leben unterstützt habe. Artikel wie diese sind der Grund dafür, dass die Gulag-Forschung die in allen größeren Lagern existierenden Zeitungen bisher ignoriert oder zu bloßen Propagandablättern herabgewertet hat. Die zwar kaum repräsentativ zu nennende Auswahl – Hedeler selbst räumt ein, dass nicht alle Facetten der Berichterstattung abgedeckt wurden und dass vor allem für die späteren Jahre ausreichend Ausgaben fehlen – zeigt jedoch sehr deutlich, dass die Presseorgane der Lager als ergänzende Quelle von der Gulag-Forschung herangezogen werden sollten..."
"Was Hedeler für diesen Band ausgewählt hat aus einer im Karagadinsker Besserungsarbeitslager (Karlag) erschienenen Zeitung mit dem Namen "Putjowka", erlaubt einen tiefen Blick in eine Welt, die beklemmend genug ist ... 1937, als der stalinsche Terror auch die Funktion der Zwangsarbeitslager veränderte, wurde die Zeitung eingestellt. Umso erstaunlicher ist, dass etliche Exemplare in den Archiven überlebt haben. Und noch erstaunlicher, wie sehr in dieser eigentlich ebenfalls für Propaganda gedachten Zeitung das Leben der Zwangsarbeiter trotzdem sichtbar wird. Einer der Gründe dafür war die offizielle Aufforderung an die inhaftierten Leser, Missstände im Lager öffentlich anzuprangern und dabei die Verantwortlichen auch mit Rang und Namen zu nennen. Und weil auch die damalige Lagerleitung wusste, das dieses öffentliche Denunzieren nicht funktioniert, wenn die Häftlinge auch noch mit Namen unter ihren Beiträgen stehen, äußerten sich diese meist mit Pseudonymen wie Igel, Lagerkorrespondentin oder auch Stoßarbeiter. Aber auch in den von den Zeitungsredakteuren selbst gezeichneten Artikeln wird das Leben in den weit verstreuten Produktionsstätten des Lagers sichtbar, kommen die Versorgungsschwierigkeiten ans Licht, der mühsame Kampf selbst um neue Arbeitskleidung und das tägliche Brot. - Und da Hedeler die Texte zwar auswählt, aber nicht kommentiert oder gar redigiert, bekommt der Leser ein recht klares Bild vom Leben in diesem einen Lager, taucht aber gleichzeitig auch wieder ein in den militärischen Sprachbombast des Stalinismus. Zeichnungen aus der Zeitung sind im Band ebenfalls reproduziert." Ralf Julke, L-IZ
Leseprobe:
Aus dem Vorwort
Zu den wenig bekannten und durch die Gulagforschung kaum erschlossenen Seiten der Geschichte der sogenannten Besserungsarbeitslager gehört die Herausgabe und Verbreitung von Lagerzeitungen. Alla Gortschewa legte 1996 in Rußland eine erste Überblicksdarstellung zur Gulag-Presse vor, die eine unvollständige Bibliographie von 137 Lagerzeitungen enthält.
Von 1923 bis 1960 existierten in der UdSSR insgesamt 476 solcher Haftorte, die unterschiedlich lange, zwischen einem Jahr und dreißig Jahren, bestanden. Von Anfang 1920 bis Ende der 1950er Jahre wurden zwischen 15 und 18 Millionen Häftlinge zu „Besserungsarbeit“ in den zu unterschiedlicher Zeit gegründeten und unterschiedlich lange bestehenden Lagerkomplexen mit ihren Tausenden Haupt- und Nebenlagern verurteilt.
Am verbreitesten waren in der UdSSR von 1931 bis 1960 Besserungsarbeitslager, die zwischen einem und fünf Jahren existierten. Davon gab es ca. 275. An zweiter Stelle folgten 102 maximal ein Jahr bestehende Lager. An dritter Stelle 84, zwischen fünf und zehn Jahren bestehende Lager. Diese Rangfolge änderte sich nur in den Kriegsjahren 1941 bis 1945, als die maximal ein Jahr existierenden Lager auf Platz eins aufrückten.
In der erwähnten Bibliographie Gortschewas, die trotz ihrer Unvollständigkeit im-mer noch als die zu diesem Thema umfangreichste gilt, ist die im Karlag, dem Karagan-dinsker Besserungsarbeitslager, in den 30er Jahren herausgegebene Lagerzeitung „Put-jowka“ nicht verzeichnet. Nur die in den 1940er/50er Jahren verlegte Nachfolge-Zeitung „Für die sozialistische Landwirtschaft“ wird erwähnt. Beide Zeitungen waren ausschließlich für den Vertrieb innerhalb des Lagers bestimmt, das von 1929 bis 1959 auf dem Territorium Kasachstans existierte.
Der Name „Putjowka“ (Dienstreiseauftrag) wurde in Anlehnung an den Titel des da-mals populären ersten abendfüllenden Tonfilms „Putjowka w shisn“ (Der Weg ins Le-ben, 1931) von Nikolai Ekk gewählt. Er handelt von der Befreiung verwahrloster Jugend-licher von ihrer Vergangenheit, von ihrer Weihe zu gleichberechtigten Mitgliedern der neuen Gesellschaft.
Bei der russischsprachigen „Putjowka“ und ihrer von März 1934 bis Februar 1935 er-scheinenden insgesamt 49 Parallelausgaben in kasachischer Sprache („Shana Shol“ – „Neues Leben“) handelte es sich um das Sprachrohr der für kultur-erzieherische Arbeit zuständigen Abteilung der Lageradministration. Der Chefredakteur war als Leiter dieser Abteilung einer der Stellvertreter des Lagerkommandanten. Die im Lager zu sozialisti-schen Menschen „umgeschmiedeten“ Häftlinge erhielten nach verbüßter Zwangsarbeit in der kasachischen Steppe ihre „Putjowka“ in die Sowjetgesellschaft, um hier ein neues Leben zu beginnen.
Welcher Stellenwert der auf Disziplinierung und Mobilisierung ausgerichteter Lagerpresse beigemessen wurde, könnte auf dem Hintergrund der zur gleichen Zeit er-folgten Einstellung von 15 überregionalen sowjetischen Zeitungen im Jahre 1933 erläutert werden. Die „Putjowka“, die ihrem Escheinungsbild nach dem Zentralorgan der KPdSU(B), der „Prawda“, folgte, erschien anfangs dreimal monatlich, dann als Wochen-zeitung, später alle drei Tage, wobei Formate, Gestaltung, Auflagenhöhe und Umfang (zwischen 2 und 4, selten 6 Seiten) wechselten. Sie wurde von Häftlingen gesetzt und in der lagereigenen Druckerei in einer Auflage bis zu 5.900 Exemplaren gedruckt, im Abonnement vertrieben, an Wandzeitungen ausgehangen, in den Häftlingsbaracken verlesen und in für Häftlinge zugänglichen Orten, wie z. B. den Barbierstuben, ausgelegt.
Im Karlag mußten in der Entstehungsphase des Lagers zwischen 12.000 und 30.000 Häftlinge Zwangsarbeit leisten. Zum 1. Januar 1934 waren es 24.148 Häftlinge, darunter 3.011 Frauen. Sie waren die eigentlichen Adressaten der Artikel. Sie nutzten die Zeitung auf ihre Weise. Im Befehl des Kommandanten vom 23. Mai 1935 „Über die Versorgung der Häftlinge mit der Lagerzeitung“ heißt es, daß sie zweckentfremdet verwendet wird, als Tischdecke, als Zigarettenpapier zum Rauchen, oder als Unterlage für die unter den Betten abgelegten Sachen dient.
Im ersten Jahrgang 1932 erschienen 28 Ausgaben, auf deren Inhalt nur aus Artikeln und Leserbriefen geschlossen werden kann, die in den Ausgaben von 1933 publiziert wurden, da im Archiv des Karlag in Karaganda leider keine Exemplare dieses Jahrgangs überliefert sind. Daher konnte für diese Publikation nur der fast lückenlose Bestand für die Zeit von Januar 1933 bis März 1935 ausgewertet werden.
Vom 10. Januar bis 6. Dezember 1933 erschienen 50 Ausgaben, 1934 waren es 78 (die ersten 15, bis März 1934 herausgegebenen Ausgaben fehlen leider im Archiv), der archivierte Bestand bricht mit der Nr. 23 vom 12. März 1935 ab. Insgesamt sind 190 „Putjowkas“ erschienen. Von Januar bis zum 12. Mai 1933 wurde die Zeitung in einer Auflage von 2.000 Exemplaren gedruckt, danach stieg die Auflage zunächst auf 3.000 Exemplare, der Preis von 3 auf 5 Kopeken, an. Von nun an erschien sie nicht mehr dreimal im Mo-nat, sondern wöchentlich. Auf vier Zeitungsseiten fanden im Durchschnitt 20 bis 30 Artikel Platz.
1933 übte I. D. Schtschigarow, bis Mai 1934 A. Schitow, nach ihm M. L. Kljuschin die Funktion des Chefredakteurs aus. Im Juli 1934 übernahmen I. Kostromin und W. Iwanow abwechselnd die Leitung der Redaktion. 1935 zeichnete P. Sokolow als verantwortlicher Redakteur.
Im Regelfall betrug der Umfang 4 Seiten, sechsseitige Ausgaben waren die Ausnahme. Die Auflage betrug 1934 zeitweilig 4.300 Exemplare. Mit steigender Auflage änderte sich das Format, die Zeitung wurde kleiner, 28 x 40 cm. Nur im November 1934, aus Anlaß des Jahrestages der Oktoberrevolution, erschien die Zeitung wieder im Großformat und Zweifarbdruck.
Am 7. November 1933 erschien die Putjowka erstmalig mit Porträtzeichnungen von Regierungsmitgliedern auf der Titelseite, elf Tage später mit Fotos. Bis dahin enthielt die Zeitung ausschließlich Textbeiträge. Die Zeitung vom 6. Dezember enthielt darüber hinaus graphisch gestaltete Rubriken. Karikaturen, in denen die Mißstände im Karlag aufs Korn genommen wurden, sind in den Ausgaben der „Putjowka na posewnoj“ ab April 1934 zu finden.
Einzelne Zeichnungen wie der „kranke Traktor“, das die Rübe würgende Unkraut, der auf dem Tintenlöscher schaukelnde Bürokrat, oder der Faulpelz mit dem großen Eß-löffel wurden mehrfach verwendet. Ab Juli 1934 kamen weitere oft seitenbreite Schmuckelemente mit Motiven aus der Landwirtschaft hinzu, wie Viehtrieb, Heu- bzw. Gemüseernte, Schweine und Kühe.
Es gab auch einige wenige Ausgaben mit im Lager aufgenommenen Fotos aus dem Bereich der Tier- und Pflanzenproduktion. Häftlinge, die sich durch ihre Arbeit aus-zeichneten, wurden seit August 1934 mit Porträtzeichnungen geehrt, Fotos von Häftlingen durften nicht veröffentlicht werden. Im letzten Quartal des Jahres 1934 verdrängten sie die Karikaturen völlig. Mit dem Wegfall der innen- und außenpolitischen Be-richterstattung verschwinden auch die Fotos.