Sawjalow, Sergej: nahe der Brandung
Ausgewählte Gedichte, zweisprachig. Aus dem Russischen von Christine Hengevoß
Seine ersten Gedichte veröffentlichte Sergej Sawjalow in den 1980er Jahren im Leningrader Samisdat. Sein Schaffen ist geprägt von der antiken und russischen Poesie, der Suche nach seiner finnougrischen Identität, der Verarbeitung der sowjetischen Realität und von sozialer Verantwortung. Die im vorliegenden Band enthaltenen Werke zeugen von der Tragödie des Großen Terrors, der Hungersnot während der Belagerung Leningrads, der Grausamkeit von Kriegen, der Assimilation vorslawischer Völker. Er thematisiert den Verlust der sprachlichen und kulturellen Identität und des mythischen Selbstbewußtseins aufgrund der globalen Dominanz der „herrschenden“ Sprachen und „großen“ Kulturen. In Sawjalows Texten kommen Techniken der antiken Rhetorik, der mittelalterlichen Literatur und der avantgardistischen Poetik zum Einsatz. Die Fragmentierung und Interpolation von Zitaten lassen einen Akkord, ein Zusammenspiel der Epochen erklingen. Die Stimmen früherer Epochen erscheinen als Echo früherer Katastrophen und damit als Warnung: Die Geschichte bringt immer neue Opfer hervor. Somit sieht Sawjalow seine Aufgabe als Dichter darin, den Opfern der Geschichte eine Stimme zu geben.
Sergej Sawjalow: geb. 1958 in Zarskoje Selo (in der Sowjetunion: Puschkin), aus einer mordwinischen Familie stammender Lyriker und klassischer Philologe, in den 1980er Jahren gehörte er zu den aktiven Mitgliedern des nonkonformistischen Klubs 81, der damals eigene hektografierte Literaturzeitschriften herausgab, emigrierte 2004 nach Finnland und lebt seit 2011 in Winterthur (Schweiz). Auszeichnungen: Andrei Bely-Preis
Christine Hengevoß: aufgewachsen in Frankfurt/Oder und Moskau, Studium der Slawistik und Anglistik in Potsdam, Fremdsprachenlehrerin, seit 2013 freiberufliche Übersetzerin, Mitglied im VdÜ, zahlreiche Stipendien, u.a. des Deutschen Übersetzerfonds und des EÜK Straelen.
Sawjalow über sich selbst
Des Unglücks unbewegte Augen
Vorbemerkung des Autors
1
Die Poesie ist die wahrscheinlich fragilste Form geistigen Schaffens.
Und das nicht nur, weil mit den Jahrhunderten ein Großteil von ihr verlorenging – weil es kein Schrifttum gab, weil Sprachen ausstarben, Keilschrifttafeln zerbrachen oder Papyrusrollen zu Staub zerfielen.
Sondern vor allem, weil das historische Gedächtnis unsere Sicht auf gebieterische Weise deformiert: Es fordert von uns, jenes neu zu interpretieren, was offensichtlich erscheint, aber durch endlose Wiederholung im toten Winkel der Trivialität gelandet ist, und es in eine Sprache zu übersetzen, die der Erfahrungswelt sowohl des Sprechenden als auch des Zuhörenden entspricht.
Und schon lässt sich die durch Schullektüre abgedroschene Zeile aus Vergils „Aeneis“ Arma virumque cano (Waffen besing ich und den Mann) im Zwiegespräch mit den Büchern Primo Levis oder Warlam Schalamows folgendermaßen übertragen:
Ich lege Zeugnis ab von einer Katastrophe
und einem Menschen, der in ihr unterging
oder der, durch sie verkrüppelt,
überlebte.
Eine solche Herangehensweise lässt uns Aeneas‘ krampfhafte Flucht vor dem Liebesglück begreifen (ein paralleles Motiv finden wir bei dem Auschwitz-Überlebenden Imre Kertész), wie auch seine krankhafte Unlösbarkeit von den Schatten der Verstorbenen und seinen fieberhaften Drang, das ihm von der Vorsehung zugewiesene Haus umzubauen.
Und so beginnen, kaum ist das vom Dichter verheimlichte Trauma enthüllt, die scheinbar kalten, hochmütigen Zeilen bebend zu schluchzen:
Dicar qua violens obstrepit Aufidus
et qua pauper aquae Daunus agrestium
regnavit populorum ex humili potens
In der klassischen Übersetzung von Johann Heinrich Voß heißt es:
Mich nennt mancher, wo wild brauset der Aufidus,
Und wo, dürftig der Flut, Daunus den ländlichen
Völkerstämmen geherrscht: daß ich, aus niederem Hoch […]
Heute würde ich das so übersetzen :
Von mir wird man sagen
dort, wo der rebellische Aufidus tost
[die Kolonisatoren haben in meiner Heimat alles unterworfen,
haben alle Klänge erstickt, außer seinem Donnern],
dort, in dem Land karger Ernten,
wo einst ein Bauernführer namens Daunus
die Kämpfer für die Freiheit anführte,
dass ich, Sohn eines Aufständischen,
den sie ins Konzentrationslager geworfen hatten …
An anderer Stelle aber wird ebendieses Trauma klar benannt:
me libertino patre natum
(ich, der Sohn eines Freigelassenen)
fand doch noch die Kraft,
die sklavische Entwürdigung zu überwinden
2
Ich wurde vor über sechzig Jahren in Zarskoje Selo geboren, einer Stadt, die in der russischen Kultur einst für Schönheit und Inspiration stand. Sie war gleichermaßen das russische Versailles und das russische Weimar, eine „Stadt der Musen“, eng verbunden mit den Namen genialer Dichter: Puschkin und Annenski, Achmatowa und Mandelstam.
Die Revolution, die doch eigentlich alles umgekrempelt hatte, änderte an diesem Image nichts, sie verstärkte den die Stadt umgebenden Mythos nur, indem sie sie zu Ehren des dichterischen Idols in Puschkin umbenannte .
Von der über zwei Jahre währenden deutschen Besatzungsgeschichte 1941-1942 gedachte die offizielle Geschichtsschreibung einschließlich der in ihrem Fahrwasser folgenden Dichter der verlorenen Schätze der Zarenschlösser und der Entweihung der berühmten „Stadt der Musen“ .
Aber es gibt es auch eine andere Seite der Besatzungsgeschichte. Als die sowjetischen Truppen die Stadt am 24. Januar 1944 wieder einnahmen, fanden sie dort buchstäblich keinen lebenden Menschen vor. Von den etwa 60.000 Einwohnern hatten es vor dem Einzug der Deutschen nur etwa 24.000 geschafft, sich evakuieren zu lassen; 10.000 Menschen waren an Hunger und Krankheiten gestorben, 8.000 ermordet, 18.000 als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden.
Das ist jedoch noch nicht alles: Meine Heimatstadt war genau wie ihre gigantische Nachbarstadt Petersburg von den russischen Zaren auf finnischem, den Schweden abgerungenem Land erbaut worden (was die „Musendiener“ so manches Mal begeistert besangen). Und so war sie bis unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg eine Art Insel (so auch ihr ursprünglicher finnischer Name: Saari, die Insel) inmitten eines mit jeder Generation flacher werdenden, aber nie ganz versiegenden finnischsprachigen Sees. Zu Kriegsbeginn lebten in der Umgebung Leningrads noch etwa 120.000 Finnen, etwa ein Viertel der Landbevölkerung dieses Gebiets. Sie alle wurden deportiert, und erst die Tauwetterperiode der Fünfzigerjahre bot ihnen Schlupflöcher zur Rückkehr in ihre Heimat.
Ich entsinne mich einiger alter Menschen, die mit schrecklichem Akzent sprachen: des einäugigen Hausmeisters meines Kindergartens (wo er sein Auge wohl verloren hatte?), der Milchfrau, die jeden Morgen ihre Milch in einer überdimensionalen Milchkanne auf dem Rücken durch die Stadt schleppte, um sie zu verkaufen. Später, schon zu Zeiten der „Entspannung“, zogen die betagten Gemeindemitglieder in Reihen von der Bahnstation zur wiedereröffneten lutherischen Kirche.
Und so war in der Stadt meiner Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg fast die gesamte Bevölkerung ausgetauscht worden, wie auch in Wyborg, das von Finnland an Russland übergegangen war, oder in Breslau (von Deutschland an Polen), Pula (von Italien an Kroatien), zuvor im anatolischen Smyrna und wenig später im palästinensischen Jaffa. Hier können wir die von Atombomben verbrannten Städte Hiroshima und Nagasaki und die von Nicht-Atombomben zerstörten Städte Hamburg und Dresden ergänzen, auch die im ethnopolitischen Feuer vernichteten aschkenasischen Orte in Litauen, Weißrussland und der Ukraine.
Nach dem Krieg baute der Staat die Zarenresidenz im vollen Glanz des Elisabethanischen Barocks wieder auf und schuf so eine Art Theaterkulisse, die den dürftigen Alltag überdeckte. Dieser kaum zu ertragende Kontrast trieb die Menschen in die Abgründe des Passeismus: Jahrzehntelang berauschten sich idealistisch gesinnte junge Leute am Mythos von einem durch die „roten Barbaren“ zugrunde gerichteten Wunderland. Vermutlich aber war dieser Rausch nirgendwo so betäubend wie in den Parks des russischen Versailles. Der junge Dichter, der ich zum Ende der Sowjetzeit war, musste eine für seine Poetik, Ethik sowie Problem- und Themenwahl maßgebliche Entscheidung treffen: sich entweder zur Welt der „Schönheit“, zum hinreißenden Klang der Reimeskapaden des russischen Art Nouveau zu bekennen, zum Kult des „guten Geschmacks“; oder aber zu dem von Katastrophen verbrannten Feld des Art Contemporain, was bedeutete, einen Diskurs des Sieges von vornherein abzulehnen. Allein der Gedanke, dass man beide „große Narrative“ ablehnen könnte, war damals unvorstellbar .
Diese Entscheidung nun hatte eine gänzlich erbarmungslose Seite: Ich musste entscheiden, welche Leichen ich beweinen wollte. Ich hätte eine Auswahl treffen können, dann hätte zur Gruppe der zu Beweinenden nur die vernichtete Elite (einschließlich der minderjährigen Kinder der Zarenfamilie) gehört, deren Ästhetik ich teilte und für deren künstlerisches Erbe ich mich begeisterte. Dabei wären all jene übersehen worden, die von ebendieser Elite zu einer Existenz am Rande des Verhungerns, ohne Zugang zu Medizin und Bildung, verdammt und somit völlig aus der Gegenwart ausgeschlossen worden waren. (Vor der Revolution hatte ein Viertel der Bauernfamilien kein einziges Pferd besessen, ein weiteres Viertel nur ein Pferd, drei Viertel der Bevölkerung waren Analphabeten). Ich konnte mich aber auch gegen jegliche Auswahl entscheiden, dann würde die Zahl der zu Beweinenden alle Leichen umfassen: die aufständischen Arbeiter und die aus dem Don- und Kubangebiet herbeigetriebenen Kosaken, die auf sie geschossen hatten; die Besatzer der Stadt (einschließlich der Mordkommandos), etwa jene aus Schwaben oder Andalusien (in unserer Stadt war eine Division spanischer Falangisten stationiert) und die Rekruten von Wolga und Ural, die sie später zurückeroberten.
3
Im Grunde habe ich für diese Entscheidung, die darin bestand, die tragische Wirklichkeit zu akzeptieren und mir dessen bewusst zu werden, dass ich eigentlich gar keine Wahl hatte, mein ganzes Leben gebraucht. Der Genius Loci von Zarskoje Selo hat mir im Laufe der Jahrzehnte, während er sein wahres, mitleidloses, vom Schleier des „Schönen“ verhülltes Gesicht offenlegte, nach und nach Tragödien offenbart, die den seinen verwandt, allerdings anderen, zyklopischen Ausmaßes sind, und die mir mit meiner Geburt als Erbe zugefallen waren. Die Traumata unserer Nächsten gehen in uns über, selbst wenn sie uns mit aller Kraft davor beschützen wollen.
Genau in diesem Sinne interpretiere ich nunmehr den klassischen Vers:
Quem tu, Melpomene, semel
nescentem placido lumine videris …
Die Übersetzung durch Voß lautet der Tradition entsprechend:
Wen, Melpomene, du einmal
sahst mit gütigem Aug’, als er geboren ward …
Ich würde ihn so übersetzen:
Oh Unglück, auf wen du einst
bei seiner Geburt
deinen unbewegten Blick richten wirst …
Ich fragte den finnischen Hausmeister, ob es im Kindergarten zum Mittag Schokolade gäbe, und sein Akzent entführte mich zurück in die mordwinischen Wälder, aus denen meine Vorfahren stammten, die ihre (dem Finnischen verwandte) Muttersprache zusammen mit der armseligen Bauernkleidung und den schiefgetretenen Bastschuhen über Bord geworfen hatten.
Ich stand Schlange an der winzigen Eistruhe, die zur Freude der Kinder im Sommer auf den Platz vor dem Kino gerollt wurde (später erfuhr ich, dass genau an dieser Stelle einmal der Galgen des Mordkommandos gestanden hatte), und diese Schlange zog sich weit hin bis zu jener Stelle, wo die in Laken gewickelten Blockadeopfer übereinandergestapelt gelegen hatten, darunter auch mein Großvater väterlicherseits.
Ich spielte Geige unter dem Dach des Zarenpalastes, in dessen oberster Etage sich die Musikschule befand. Im Grunde aber waren Haydn und Vivaldi ein Betrug, stammten aus einer anderen, respektablen Kindheit. Dem Enkel eines erschossenen Volksfeindes (meines Großvaters mütterlicherseits, des Direktors einer Rüstungsfabrik) stand es bestenfalls zu, mit wettergegerbten Fingern zwischen langhaarigen Halbwüchsigen auf einer Hinterhofbank die Gitarrensaiten zu schlagen und zu primitiven Akkorden verzweifelt irgendwas hinauszuschreien.
Im Grunde genommen artikulieren meine drei großen Poeme diese Traumata in der Sprache des Art Contemporain: „Vier gute Nachrichten“ thematisiert die schmerzhafte Erosion der ethnischen und sprachlichen Identität der vorslawischen Bevölkerung Russlands; „Weihnachtsfasten“ zeigt die Auflösung der menschlichen Identität im Schraubstock des Hungertods während der Blockade; „Sowjetische Kantaten“ beschreibt die ekstatische Besessenheit, welche Opfer und Henker des Großen Terrors eint und ununterscheidbar macht. Doch verabschiede ich mich in meinen jüngsten Poemen „Quartett über ein Thema von Horaz“ und „Ich sah Jesus“ auch von dieser Weltsicht.
4
Mit den Jahren zeigt sich immer deutlicher ein Widerspruch: Der Dichter wird nur in der Lage sein, sich von der Egozentrik des „lyrischen Helden“ und dem Anspruch seiner Poesie auf Exklusivität im Geiste des Art Nouveau zu lösen, vom Gespräch über sich selbst zum Zeugnis einer Katastrophe überzugehen und seine Stimme denen zu leihen, die aus verschiedenen Gründen keine Möglichkeit haben, sich selbst zu äußern, wenn er bis zum Äußersten in den eigenen Traumata versinkt. Nur diese können zu Fenstern in die Welten anderer Menschen werden (oder auch nicht, was einem Bankrott gleichkäme).
Mir scheint, dass allein diese Fähigkeit der Kunst (nicht nur der Poesie, sondern auch jeder anderen) dem Künstler das moralische Recht gibt, sich am Leben anderer zu vergehen und ihnen die Zeit zu stehlen, von der wir alle in jeder Situation und in jedem Alter so katastrophal wenig haben.
Aber kann und darf (und inwieweit?) ein Dichter im Namen anderer sprechen, im Namen derer, die keine Sprache haben, um zu sprechen? Inwiefern berechtigt sein eigenes Trauma ihn, dies zu tun? Inwieweit lässt es die existierende soziale und kulturelle Kluft zu? Führt es nicht zur Exotisierung, in Gesellschaften der jüngeren Vergangenheit, vor allem der sowjetischen, den idealen Anderen zu sehen, der den Glauben des modernen Menschen an seine eigene Unfehlbarkeit nur verstärkt , diesem modernen Menschen aber im Prinzip egal ist?
Nicht minder wichtig ist die Frage, ob das Gespräch über die Katastrophen der Vergangenheit nicht als Vorwand dient, den drängenden Problemen der Gegenwart auszuweichen: dem der Globalisierung, die Arm und Reich nicht nur mehr innerhalb einzelner Länder, sondern zwischen den Kontinenten polarisiert; dem der Gentechnik, welche die soziale Ungleichheit auf eine physiologische Ebene zu übertragen droht?
Oder wäre eine solch scharfe Gesellschaftskritik nicht doch eigentlich eine Form aggressiven „Kidultismus‘“, eine Falle für die Protestenergie, die so auf die Bekämpfung von Ersatzfeinden gerichtet wird, während die wirklichen Feinde in der Zwischenzeit still und heimlich, Schritt für Schritt, die Welt erobern?
Die Liste der dringendsten Fragen, vor allem die der ethischen Grundsatzfragen, mit denen der moderne Künstler konfrontiert ist, ist so beschaffen, dass schon der ansatzweise naive Glaube an ein Vorankommen des Humanismus auf dem Planeten ihn bestenfalls um ein Jahrhundert zurückwirft – in jene Zeit, als die „Meister der Feder“ aller europäischen Länder ihre Leser mit wohltönenden Werken auf das gegenseitige Gemetzel einstimmten.
Hinter ihnen aber ragen sie empor: die Titanen der Romantik (die die Größe des Volksgeistes entdeckt hatten, der sich unter anderem in der Aggression gegen die Nachbarn manifestiert), die Barden der geografischen Entdeckungen (also der kolonialen Eroberungen), die Troubadoure der Kreuzzüge (also der religiösen Intoleranz), die Psalmendichter des Bundes zwischen Gott und dem auserwählten Volk (also ethnischer Säuberungen).
Sie alle waren aufrichtig, sie alle glaubten, dass sie dem Guten und dem Menschen dienen. Wir glauben das auch. Inwieweit dienen wir dem Bösen?
Die Jahrtausende gehen dahin, der Dichter aber nimmt in der völlig veränderten Gesellschaft noch immer dieselbe prekäre Position ein wie sein Vorfahre, der ekstatische Rituale, bisweilen mit Menschenopfern, durchführte, um böse Geister mild zu stimmen und den Stamm vor Naturkatastrophen und Hungersnöten zu bewahren; der inbrünstig das Massaker besang, das die Jugend in einem Nachbardorf angerichtet hatte, um so ihr Recht auf Frauen und Nachkommen sowie das Recht ihrer Nachkommen auf Leben zu behaupten, der mit einem prächtigen Begräbnisritual dem allmächtigen Triumph des Todes gebieterisch eine Grenze setzte.
Seine ersten Gedichte veröffentlichte Sergej Sawjalow in den 1980er Jahren im Leningrader Samisdat. Sein Schaffen ist geprägt von der antiken und russischen Poesie, der Suche nach seiner finnougrischen Identität, der Verarbeitung der sowjetischen Realität und von sozialer Verantwortung. Die im vorliegenden Band enthaltenen Werke zeugen von der Tragödie des Großen Terrors, der Hungersnot während der Belagerung Leningrads, der Grausamkeit von Kriegen, der Assimilation vorslawischer Völker. Er thematisiert den Verlust der sprachlichen und kulturellen Identität und des mythischen Selbstbewußtseins aufgrund der globalen Dominanz der „herrschenden“ Sprachen und „großen“ Kulturen. In Sawjalows Texten kommen Techniken der antiken Rhetorik, der mittelalterlichen Literatur und der avantgardistischen Poetik zum Einsatz. Die Fragmentierung und Interpolation von Zitaten lassen einen Akkord, ein Zusammenspiel der Epochen erklingen. Die Stimmen früherer Epochen erscheinen als Echo früherer Katastrophen und damit als Warnung: Die Geschichte bringt immer neue Opfer hervor. Somit sieht Sawjalow seine Aufgabe als Dichter darin, den Opfern der Geschichte eine Stimme zu geben.
Sergej Sawjalow: geb. 1958 in Zarskoje Selo (in der Sowjetunion: Puschkin), aus einer mordwinischen Familie stammender Lyriker und klassischer Philologe, in den 1980er Jahren gehörte er zu den aktiven Mitgliedern des nonkonformistischen Klubs 81, der damals eigene hektografierte Literaturzeitschriften herausgab, emigrierte 2004 nach Finnland und lebt seit 2011 in Winterthur (Schweiz). Auszeichnungen: Andrei Bely-Preis
Christine Hengevoß: aufgewachsen in Frankfurt/Oder und Moskau, Studium der Slawistik und Anglistik in Potsdam, Fremdsprachenlehrerin, seit 2013 freiberufliche Übersetzerin, Mitglied im VdÜ, zahlreiche Stipendien, u.a. des Deutschen Übersetzerfonds und des EÜK Straelen.
Sawjalow über sich selbst
Des Unglücks unbewegte Augen
Vorbemerkung des Autors
1
Die Poesie ist die wahrscheinlich fragilste Form geistigen Schaffens.
Und das nicht nur, weil mit den Jahrhunderten ein Großteil von ihr verlorenging – weil es kein Schrifttum gab, weil Sprachen ausstarben, Keilschrifttafeln zerbrachen oder Papyrusrollen zu Staub zerfielen.
Sondern vor allem, weil das historische Gedächtnis unsere Sicht auf gebieterische Weise deformiert: Es fordert von uns, jenes neu zu interpretieren, was offensichtlich erscheint, aber durch endlose Wiederholung im toten Winkel der Trivialität gelandet ist, und es in eine Sprache zu übersetzen, die der Erfahrungswelt sowohl des Sprechenden als auch des Zuhörenden entspricht.
Und schon lässt sich die durch Schullektüre abgedroschene Zeile aus Vergils „Aeneis“ Arma virumque cano (Waffen besing ich und den Mann) im Zwiegespräch mit den Büchern Primo Levis oder Warlam Schalamows folgendermaßen übertragen:
Ich lege Zeugnis ab von einer Katastrophe
und einem Menschen, der in ihr unterging
oder der, durch sie verkrüppelt,
überlebte.
Eine solche Herangehensweise lässt uns Aeneas‘ krampfhafte Flucht vor dem Liebesglück begreifen (ein paralleles Motiv finden wir bei dem Auschwitz-Überlebenden Imre Kertész), wie auch seine krankhafte Unlösbarkeit von den Schatten der Verstorbenen und seinen fieberhaften Drang, das ihm von der Vorsehung zugewiesene Haus umzubauen.
Und so beginnen, kaum ist das vom Dichter verheimlichte Trauma enthüllt, die scheinbar kalten, hochmütigen Zeilen bebend zu schluchzen:
Dicar qua violens obstrepit Aufidus
et qua pauper aquae Daunus agrestium
regnavit populorum ex humili potens
In der klassischen Übersetzung von Johann Heinrich Voß heißt es:
Mich nennt mancher, wo wild brauset der Aufidus,
Und wo, dürftig der Flut, Daunus den ländlichen
Völkerstämmen geherrscht: daß ich, aus niederem Hoch […]
Heute würde ich das so übersetzen :
Von mir wird man sagen
dort, wo der rebellische Aufidus tost
[die Kolonisatoren haben in meiner Heimat alles unterworfen,
haben alle Klänge erstickt, außer seinem Donnern],
dort, in dem Land karger Ernten,
wo einst ein Bauernführer namens Daunus
die Kämpfer für die Freiheit anführte,
dass ich, Sohn eines Aufständischen,
den sie ins Konzentrationslager geworfen hatten …
An anderer Stelle aber wird ebendieses Trauma klar benannt:
me libertino patre natum
(ich, der Sohn eines Freigelassenen)
fand doch noch die Kraft,
die sklavische Entwürdigung zu überwinden
2
Ich wurde vor über sechzig Jahren in Zarskoje Selo geboren, einer Stadt, die in der russischen Kultur einst für Schönheit und Inspiration stand. Sie war gleichermaßen das russische Versailles und das russische Weimar, eine „Stadt der Musen“, eng verbunden mit den Namen genialer Dichter: Puschkin und Annenski, Achmatowa und Mandelstam.
Die Revolution, die doch eigentlich alles umgekrempelt hatte, änderte an diesem Image nichts, sie verstärkte den die Stadt umgebenden Mythos nur, indem sie sie zu Ehren des dichterischen Idols in Puschkin umbenannte .
Von der über zwei Jahre währenden deutschen Besatzungsgeschichte 1941-1942 gedachte die offizielle Geschichtsschreibung einschließlich der in ihrem Fahrwasser folgenden Dichter der verlorenen Schätze der Zarenschlösser und der Entweihung der berühmten „Stadt der Musen“ .
Aber es gibt es auch eine andere Seite der Besatzungsgeschichte. Als die sowjetischen Truppen die Stadt am 24. Januar 1944 wieder einnahmen, fanden sie dort buchstäblich keinen lebenden Menschen vor. Von den etwa 60.000 Einwohnern hatten es vor dem Einzug der Deutschen nur etwa 24.000 geschafft, sich evakuieren zu lassen; 10.000 Menschen waren an Hunger und Krankheiten gestorben, 8.000 ermordet, 18.000 als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden.
Das ist jedoch noch nicht alles: Meine Heimatstadt war genau wie ihre gigantische Nachbarstadt Petersburg von den russischen Zaren auf finnischem, den Schweden abgerungenem Land erbaut worden (was die „Musendiener“ so manches Mal begeistert besangen). Und so war sie bis unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg eine Art Insel (so auch ihr ursprünglicher finnischer Name: Saari, die Insel) inmitten eines mit jeder Generation flacher werdenden, aber nie ganz versiegenden finnischsprachigen Sees. Zu Kriegsbeginn lebten in der Umgebung Leningrads noch etwa 120.000 Finnen, etwa ein Viertel der Landbevölkerung dieses Gebiets. Sie alle wurden deportiert, und erst die Tauwetterperiode der Fünfzigerjahre bot ihnen Schlupflöcher zur Rückkehr in ihre Heimat.
Ich entsinne mich einiger alter Menschen, die mit schrecklichem Akzent sprachen: des einäugigen Hausmeisters meines Kindergartens (wo er sein Auge wohl verloren hatte?), der Milchfrau, die jeden Morgen ihre Milch in einer überdimensionalen Milchkanne auf dem Rücken durch die Stadt schleppte, um sie zu verkaufen. Später, schon zu Zeiten der „Entspannung“, zogen die betagten Gemeindemitglieder in Reihen von der Bahnstation zur wiedereröffneten lutherischen Kirche.
Und so war in der Stadt meiner Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg fast die gesamte Bevölkerung ausgetauscht worden, wie auch in Wyborg, das von Finnland an Russland übergegangen war, oder in Breslau (von Deutschland an Polen), Pula (von Italien an Kroatien), zuvor im anatolischen Smyrna und wenig später im palästinensischen Jaffa. Hier können wir die von Atombomben verbrannten Städte Hiroshima und Nagasaki und die von Nicht-Atombomben zerstörten Städte Hamburg und Dresden ergänzen, auch die im ethnopolitischen Feuer vernichteten aschkenasischen Orte in Litauen, Weißrussland und der Ukraine.
Nach dem Krieg baute der Staat die Zarenresidenz im vollen Glanz des Elisabethanischen Barocks wieder auf und schuf so eine Art Theaterkulisse, die den dürftigen Alltag überdeckte. Dieser kaum zu ertragende Kontrast trieb die Menschen in die Abgründe des Passeismus: Jahrzehntelang berauschten sich idealistisch gesinnte junge Leute am Mythos von einem durch die „roten Barbaren“ zugrunde gerichteten Wunderland. Vermutlich aber war dieser Rausch nirgendwo so betäubend wie in den Parks des russischen Versailles. Der junge Dichter, der ich zum Ende der Sowjetzeit war, musste eine für seine Poetik, Ethik sowie Problem- und Themenwahl maßgebliche Entscheidung treffen: sich entweder zur Welt der „Schönheit“, zum hinreißenden Klang der Reimeskapaden des russischen Art Nouveau zu bekennen, zum Kult des „guten Geschmacks“; oder aber zu dem von Katastrophen verbrannten Feld des Art Contemporain, was bedeutete, einen Diskurs des Sieges von vornherein abzulehnen. Allein der Gedanke, dass man beide „große Narrative“ ablehnen könnte, war damals unvorstellbar .
Diese Entscheidung nun hatte eine gänzlich erbarmungslose Seite: Ich musste entscheiden, welche Leichen ich beweinen wollte. Ich hätte eine Auswahl treffen können, dann hätte zur Gruppe der zu Beweinenden nur die vernichtete Elite (einschließlich der minderjährigen Kinder der Zarenfamilie) gehört, deren Ästhetik ich teilte und für deren künstlerisches Erbe ich mich begeisterte. Dabei wären all jene übersehen worden, die von ebendieser Elite zu einer Existenz am Rande des Verhungerns, ohne Zugang zu Medizin und Bildung, verdammt und somit völlig aus der Gegenwart ausgeschlossen worden waren. (Vor der Revolution hatte ein Viertel der Bauernfamilien kein einziges Pferd besessen, ein weiteres Viertel nur ein Pferd, drei Viertel der Bevölkerung waren Analphabeten). Ich konnte mich aber auch gegen jegliche Auswahl entscheiden, dann würde die Zahl der zu Beweinenden alle Leichen umfassen: die aufständischen Arbeiter und die aus dem Don- und Kubangebiet herbeigetriebenen Kosaken, die auf sie geschossen hatten; die Besatzer der Stadt (einschließlich der Mordkommandos), etwa jene aus Schwaben oder Andalusien (in unserer Stadt war eine Division spanischer Falangisten stationiert) und die Rekruten von Wolga und Ural, die sie später zurückeroberten.
3
Im Grunde habe ich für diese Entscheidung, die darin bestand, die tragische Wirklichkeit zu akzeptieren und mir dessen bewusst zu werden, dass ich eigentlich gar keine Wahl hatte, mein ganzes Leben gebraucht. Der Genius Loci von Zarskoje Selo hat mir im Laufe der Jahrzehnte, während er sein wahres, mitleidloses, vom Schleier des „Schönen“ verhülltes Gesicht offenlegte, nach und nach Tragödien offenbart, die den seinen verwandt, allerdings anderen, zyklopischen Ausmaßes sind, und die mir mit meiner Geburt als Erbe zugefallen waren. Die Traumata unserer Nächsten gehen in uns über, selbst wenn sie uns mit aller Kraft davor beschützen wollen.
Genau in diesem Sinne interpretiere ich nunmehr den klassischen Vers:
Quem tu, Melpomene, semel
nescentem placido lumine videris …
Die Übersetzung durch Voß lautet der Tradition entsprechend:
Wen, Melpomene, du einmal
sahst mit gütigem Aug’, als er geboren ward …
Ich würde ihn so übersetzen:
Oh Unglück, auf wen du einst
bei seiner Geburt
deinen unbewegten Blick richten wirst …
Ich fragte den finnischen Hausmeister, ob es im Kindergarten zum Mittag Schokolade gäbe, und sein Akzent entführte mich zurück in die mordwinischen Wälder, aus denen meine Vorfahren stammten, die ihre (dem Finnischen verwandte) Muttersprache zusammen mit der armseligen Bauernkleidung und den schiefgetretenen Bastschuhen über Bord geworfen hatten.
Ich stand Schlange an der winzigen Eistruhe, die zur Freude der Kinder im Sommer auf den Platz vor dem Kino gerollt wurde (später erfuhr ich, dass genau an dieser Stelle einmal der Galgen des Mordkommandos gestanden hatte), und diese Schlange zog sich weit hin bis zu jener Stelle, wo die in Laken gewickelten Blockadeopfer übereinandergestapelt gelegen hatten, darunter auch mein Großvater väterlicherseits.
Ich spielte Geige unter dem Dach des Zarenpalastes, in dessen oberster Etage sich die Musikschule befand. Im Grunde aber waren Haydn und Vivaldi ein Betrug, stammten aus einer anderen, respektablen Kindheit. Dem Enkel eines erschossenen Volksfeindes (meines Großvaters mütterlicherseits, des Direktors einer Rüstungsfabrik) stand es bestenfalls zu, mit wettergegerbten Fingern zwischen langhaarigen Halbwüchsigen auf einer Hinterhofbank die Gitarrensaiten zu schlagen und zu primitiven Akkorden verzweifelt irgendwas hinauszuschreien.
Im Grunde genommen artikulieren meine drei großen Poeme diese Traumata in der Sprache des Art Contemporain: „Vier gute Nachrichten“ thematisiert die schmerzhafte Erosion der ethnischen und sprachlichen Identität der vorslawischen Bevölkerung Russlands; „Weihnachtsfasten“ zeigt die Auflösung der menschlichen Identität im Schraubstock des Hungertods während der Blockade; „Sowjetische Kantaten“ beschreibt die ekstatische Besessenheit, welche Opfer und Henker des Großen Terrors eint und ununterscheidbar macht. Doch verabschiede ich mich in meinen jüngsten Poemen „Quartett über ein Thema von Horaz“ und „Ich sah Jesus“ auch von dieser Weltsicht.
4
Mit den Jahren zeigt sich immer deutlicher ein Widerspruch: Der Dichter wird nur in der Lage sein, sich von der Egozentrik des „lyrischen Helden“ und dem Anspruch seiner Poesie auf Exklusivität im Geiste des Art Nouveau zu lösen, vom Gespräch über sich selbst zum Zeugnis einer Katastrophe überzugehen und seine Stimme denen zu leihen, die aus verschiedenen Gründen keine Möglichkeit haben, sich selbst zu äußern, wenn er bis zum Äußersten in den eigenen Traumata versinkt. Nur diese können zu Fenstern in die Welten anderer Menschen werden (oder auch nicht, was einem Bankrott gleichkäme).
Mir scheint, dass allein diese Fähigkeit der Kunst (nicht nur der Poesie, sondern auch jeder anderen) dem Künstler das moralische Recht gibt, sich am Leben anderer zu vergehen und ihnen die Zeit zu stehlen, von der wir alle in jeder Situation und in jedem Alter so katastrophal wenig haben.
Aber kann und darf (und inwieweit?) ein Dichter im Namen anderer sprechen, im Namen derer, die keine Sprache haben, um zu sprechen? Inwiefern berechtigt sein eigenes Trauma ihn, dies zu tun? Inwieweit lässt es die existierende soziale und kulturelle Kluft zu? Führt es nicht zur Exotisierung, in Gesellschaften der jüngeren Vergangenheit, vor allem der sowjetischen, den idealen Anderen zu sehen, der den Glauben des modernen Menschen an seine eigene Unfehlbarkeit nur verstärkt , diesem modernen Menschen aber im Prinzip egal ist?
Nicht minder wichtig ist die Frage, ob das Gespräch über die Katastrophen der Vergangenheit nicht als Vorwand dient, den drängenden Problemen der Gegenwart auszuweichen: dem der Globalisierung, die Arm und Reich nicht nur mehr innerhalb einzelner Länder, sondern zwischen den Kontinenten polarisiert; dem der Gentechnik, welche die soziale Ungleichheit auf eine physiologische Ebene zu übertragen droht?
Oder wäre eine solch scharfe Gesellschaftskritik nicht doch eigentlich eine Form aggressiven „Kidultismus‘“, eine Falle für die Protestenergie, die so auf die Bekämpfung von Ersatzfeinden gerichtet wird, während die wirklichen Feinde in der Zwischenzeit still und heimlich, Schritt für Schritt, die Welt erobern?
Die Liste der dringendsten Fragen, vor allem die der ethischen Grundsatzfragen, mit denen der moderne Künstler konfrontiert ist, ist so beschaffen, dass schon der ansatzweise naive Glaube an ein Vorankommen des Humanismus auf dem Planeten ihn bestenfalls um ein Jahrhundert zurückwirft – in jene Zeit, als die „Meister der Feder“ aller europäischen Länder ihre Leser mit wohltönenden Werken auf das gegenseitige Gemetzel einstimmten.
Hinter ihnen aber ragen sie empor: die Titanen der Romantik (die die Größe des Volksgeistes entdeckt hatten, der sich unter anderem in der Aggression gegen die Nachbarn manifestiert), die Barden der geografischen Entdeckungen (also der kolonialen Eroberungen), die Troubadoure der Kreuzzüge (also der religiösen Intoleranz), die Psalmendichter des Bundes zwischen Gott und dem auserwählten Volk (also ethnischer Säuberungen).
Sie alle waren aufrichtig, sie alle glaubten, dass sie dem Guten und dem Menschen dienen. Wir glauben das auch. Inwieweit dienen wir dem Bösen?
Die Jahrtausende gehen dahin, der Dichter aber nimmt in der völlig veränderten Gesellschaft noch immer dieselbe prekäre Position ein wie sein Vorfahre, der ekstatische Rituale, bisweilen mit Menschenopfern, durchführte, um böse Geister mild zu stimmen und den Stamm vor Naturkatastrophen und Hungersnöten zu bewahren; der inbrünstig das Massaker besang, das die Jugend in einem Nachbardorf angerichtet hatte, um so ihr Recht auf Frauen und Nachkommen sowie das Recht ihrer Nachkommen auf Leben zu behaupten, der mit einem prächtigen Begräbnisritual dem allmächtigen Triumph des Todes gebieterisch eine Grenze setzte.
Seine Dichtung beschäftigt sich vornehmlich mit tragischen Gegenständen: mit Stalins Grossem Terror, mit der Hungersnot während der Leningrader Blockade und mit dem Holocaust. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Typografie: Sawjalow setzt bewusst alte Schrifttypen, Grossschreibung, Kursivschrift und Flattersatz ein, um die verschiedenen Stimmen seiner Protagonisten zu unterscheiden. Wahrscheinlich muss man Sergei Sawjalow viel eher als Komponisten und nicht so sehr als Dichter bezeichnen. Seine «Sowjetischen Kantaten» hat er jedenfalls auf der Grundlage von Prokofjew- und Schostakowitsch-Oratorien zu einem Wortgesamtkunstwerk gefügt. Ulrich M. Schmidt, Neue Zürcher Zeitung
Aus:VIER GUTE NACHRICHTEN
GUTE NACHRICHT VON DEN ERSJANEN
1.
Und es ging Ineschkaipas nach allen Städten und Siedlungen Prialatyriens, er sprach in ihren Schulen, und in ihren beruflich-technischen Lehranstalten und Kulturhäusern, und er tat gute Nachrichten kund über die nahende Unabhängigkeit und heilte jegliche Krankheiten und Gebrechen in den Leuten.
1. Vor allem aber im August jenes Jahres, während es unaufhörlich regnete,
2. als der Tschernosem sich nicht nur in Morast verwandelt hatte, sondern in Schlick und Schlamm;
3. als die Straße hinter der Tschaunse (damals noch kein Asphalt – nur Teer auf Schotter) sogar irgendwie anders roch;
4. und in der Atjaschewer Kirche (die ganze Sowjetzeit über waren da Gottesdienste) – blaue Holzzwiebel mit bescheuerten Goldsternchen –
5. am Eliastag die alten Weiber der Mordwinen ohne die sonstige Inbrunst beteten;
6. und die abgerissenen Dorfsäufer, und die in den Ferien aus Saransk gekommenen Mädel, die dort unvermeidlich auf dem Pfad der Verderbnis irrten,
7. und eine aus irgendeiner Bruchbude angetrottete Missgestalt mit schlotterndem, riesigem Schädel
8. versuchten, sich in Erwartung Seiner unter den Überdachungen der Bushaltestellen vor Nässe und Wind zu verstecken.
Und als Er die Volksscharen sah, wurde er von Mitleid ergriffen, denn sie waren geschunden und hatten keinerlei Mitgefühl füreinander.
2.
Und das Gerede über Ihn breitete sich überall in der Mordwinischen ASSR aus, und die Vertreter der nationalen Intelligenz schrien: „Der ist gekommen und behauptet – er sei der Sohn der Ersjanen, dabei frisst und säuft er selber und ist mit allerlei Dirnen und Diebespack freund?“
1. Klar, es gab viel Gerede über jene seltsame Runde, die damals im August abends, im, wie sie es nannten, „Stadtcafé“ saß –
2. jenem stinkenden Schuppen in Ardatow, gleich neben der niemals abgebauten Festtribüne aus vollgekritzeltem Sperrholz;
3. sie alle wirkten gequält und zermürbt, oder, wie die Dichter sagen, werktätig und erschöpft;
4. sie aßen, ohne die Hände zu waschen, tranken Wodka, stierten finster vor sich hin und weigerten sich, russisch zu sprechen;
5. das heimische Gesocks (einer von denen schwärzte sie später bei den Bullen an) zog sich vor Schreck unter die Sonnenschirme am Fluss zurück;
6. sie rauchten Papirossy (der Marke „Sewer“, es hieß, die würden nicht so schnell durchweichen), fluchten infam und drohten, allen die Eier zu polieren.
Die Bullen aber hatten eine Besprechung gegen Ihn, wie Er zu vernichten sei. Doch Ineschkaipas zog fort, als er davon erfuhr, und das Volk folgte ihm in Scharen, und er heilte sie alle.
GUTE NACHRICHT VON DEN MOKSCHANEN
1.
Darauf zog er durch die mokschanischen Städte und Siedlungen, und mit ihm die Zwölf und einige Frauenspersonen, die ihnen zu Diensten waren mit ihren Leibern und ihrem Besitz.
1. Und da brach der Frühling ein, und es gab in jener Gegend eine nie gesehene Flut:
2. als sei das Warme Meer, nach dem, wie die Alten erzählten, Injasor Tjuschtjan gesucht hatte, selbst über seinen Samen gekommen.
3. Und das Dorf Mokschtrwa (auf Russisch Sand-Kanakowo), wo sie sich aufhielten während der Flut, verwandelte sich in eine Insel.
4. Und die Kinder („Lasst sie! Hindert sie nicht daran, zu Mir zu kommen!“, sprach ER) wurden in Motorkähnen zur Schule nach Kondorowka gefahren.
5. Und über dem Wasser ragten kahl die Kronen der Eichen, und im Gestrüpp der Weiden hing noch immer gefrorener Harsch.
6. Und die ganze Woche, die sie da waren, blendete die Sonne die Sehenden und betäubte die Hörenden,
7. und wenn in den landwirtschaftlichen Betrieben mal nicht die Melktechnik ratterte, herrschte sogar so etwas wie Stille.
8. Und weil das Wasser einfach nicht fiel, knackten sie am Sonnabend zu Beginn der dritten Nachtwache das Schloss am Nachbarkahn; Er aber war nicht dabei.
In der vierten Nachtwache aber war Ozjuschkaibas bei ihnen, und kam auf dem Wasser.
2.
Dann eines Tages kommt Er mit Seinen Jüngern zum Saransker Bahnhof und sagt ihnen: Fahren wir hinauf ins Suraland. Und sie erstanden Karten für die dritte Klasse und fuhren los.
1. Und es war 4.15 Uhr nachts, und der Reisezug Nr. 669 von Gorki nach Pensa hatte nur 20 Minuten Verspätung.
2. Und während ihrer Bahnreise fiel Er in Schlaf. Draußen aber kam ein heftiger Schneesturm auf; zum Morgen dann war alles wieder still, jedoch so kalt,
3. dass, als Er in Pensa ausstieg, die Stadt gänzlich zugeschneit war, und der Platz vor der Bezirksleitung der KPdSU eine einzige Eiswüste, darauf lief ein Wachposten hin und her,
4. und im Morgengrauen ging Er hoch ins alte Stadtviertel, ohne sich vor dem Wind zu ducken, in den Herbstmantel zu mummen und ohne Mütze,
5. über den Schornsteinen der Bretterbuden aber standen gewaltig die Rauchsäulen.
6. Und wie sie da gingen, krochen aus den Gassen die Kranken und Elenden heraus, und man führte die Blinden und trug die Gelähmten,
7. und in der Grünanlage vor der Lehranstalt namens Konstantin Apollonowitsch Sawitzky umringte Ihn schon die Menge, und Er sprach zu ihnen auf Mokschanisch,
8. und lehrte sie ebenda, bei Wind und Frost, und da niemand Ihn verstand, begann Er die zu ihm Gekommenen und zu ihm Geführten zu berühren,
9. und er heilte sie alle. Und seine Jünger traten zu Ihm und sagten: Wozu schweigst du, Ozjasor?
10. Er aber gab zur Antwort: Ich berührte sie, weil ihnen die Sprache fehlte, um mit ihnen zu sprechen,
11. und habe Wunder vollbracht, weil es an Einsichten fehlte für ihre Köpfe.
Denn verroht ist die Natur dieser Menschen.
GUTE NACHRICHT VON DEN ERSJANEN
1.
Und es ging Ineschkaipas nach allen Städten und Siedlungen Prialatyriens, er sprach in ihren Schulen, und in ihren beruflich-technischen Lehranstalten und Kulturhäusern, und er tat gute Nachrichten kund über die nahende Unabhängigkeit und heilte jegliche Krankheiten und Gebrechen in den Leuten.
1. Vor allem aber im August jenes Jahres, während es unaufhörlich regnete,
2. als der Tschernosem sich nicht nur in Morast verwandelt hatte, sondern in Schlick und Schlamm;
3. als die Straße hinter der Tschaunse (damals noch kein Asphalt – nur Teer auf Schotter) sogar irgendwie anders roch;
4. und in der Atjaschewer Kirche (die ganze Sowjetzeit über waren da Gottesdienste) – blaue Holzzwiebel mit bescheuerten Goldsternchen –
5. am Eliastag die alten Weiber der Mordwinen ohne die sonstige Inbrunst beteten;
6. und die abgerissenen Dorfsäufer, und die in den Ferien aus Saransk gekommenen Mädel, die dort unvermeidlich auf dem Pfad der Verderbnis irrten,
7. und eine aus irgendeiner Bruchbude angetrottete Missgestalt mit schlotterndem, riesigem Schädel
8. versuchten, sich in Erwartung Seiner unter den Überdachungen der Bushaltestellen vor Nässe und Wind zu verstecken.
Und als Er die Volksscharen sah, wurde er von Mitleid ergriffen, denn sie waren geschunden und hatten keinerlei Mitgefühl füreinander.
2.
Und das Gerede über Ihn breitete sich überall in der Mordwinischen ASSR aus, und die Vertreter der nationalen Intelligenz schrien: „Der ist gekommen und behauptet – er sei der Sohn der Ersjanen, dabei frisst und säuft er selber und ist mit allerlei Dirnen und Diebespack freund?“
1. Klar, es gab viel Gerede über jene seltsame Runde, die damals im August abends, im, wie sie es nannten, „Stadtcafé“ saß –
2. jenem stinkenden Schuppen in Ardatow, gleich neben der niemals abgebauten Festtribüne aus vollgekritzeltem Sperrholz;
3. sie alle wirkten gequält und zermürbt, oder, wie die Dichter sagen, werktätig und erschöpft;
4. sie aßen, ohne die Hände zu waschen, tranken Wodka, stierten finster vor sich hin und weigerten sich, russisch zu sprechen;
5. das heimische Gesocks (einer von denen schwärzte sie später bei den Bullen an) zog sich vor Schreck unter die Sonnenschirme am Fluss zurück;
6. sie rauchten Papirossy (der Marke „Sewer“, es hieß, die würden nicht so schnell durchweichen), fluchten infam und drohten, allen die Eier zu polieren.
Die Bullen aber hatten eine Besprechung gegen Ihn, wie Er zu vernichten sei. Doch Ineschkaipas zog fort, als er davon erfuhr, und das Volk folgte ihm in Scharen, und er heilte sie alle.
GUTE NACHRICHT VON DEN MOKSCHANEN
1.
Darauf zog er durch die mokschanischen Städte und Siedlungen, und mit ihm die Zwölf und einige Frauenspersonen, die ihnen zu Diensten waren mit ihren Leibern und ihrem Besitz.
1. Und da brach der Frühling ein, und es gab in jener Gegend eine nie gesehene Flut:
2. als sei das Warme Meer, nach dem, wie die Alten erzählten, Injasor Tjuschtjan gesucht hatte, selbst über seinen Samen gekommen.
3. Und das Dorf Mokschtrwa (auf Russisch Sand-Kanakowo), wo sie sich aufhielten während der Flut, verwandelte sich in eine Insel.
4. Und die Kinder („Lasst sie! Hindert sie nicht daran, zu Mir zu kommen!“, sprach ER) wurden in Motorkähnen zur Schule nach Kondorowka gefahren.
5. Und über dem Wasser ragten kahl die Kronen der Eichen, und im Gestrüpp der Weiden hing noch immer gefrorener Harsch.
6. Und die ganze Woche, die sie da waren, blendete die Sonne die Sehenden und betäubte die Hörenden,
7. und wenn in den landwirtschaftlichen Betrieben mal nicht die Melktechnik ratterte, herrschte sogar so etwas wie Stille.
8. Und weil das Wasser einfach nicht fiel, knackten sie am Sonnabend zu Beginn der dritten Nachtwache das Schloss am Nachbarkahn; Er aber war nicht dabei.
In der vierten Nachtwache aber war Ozjuschkaibas bei ihnen, und kam auf dem Wasser.
2.
Dann eines Tages kommt Er mit Seinen Jüngern zum Saransker Bahnhof und sagt ihnen: Fahren wir hinauf ins Suraland. Und sie erstanden Karten für die dritte Klasse und fuhren los.
1. Und es war 4.15 Uhr nachts, und der Reisezug Nr. 669 von Gorki nach Pensa hatte nur 20 Minuten Verspätung.
2. Und während ihrer Bahnreise fiel Er in Schlaf. Draußen aber kam ein heftiger Schneesturm auf; zum Morgen dann war alles wieder still, jedoch so kalt,
3. dass, als Er in Pensa ausstieg, die Stadt gänzlich zugeschneit war, und der Platz vor der Bezirksleitung der KPdSU eine einzige Eiswüste, darauf lief ein Wachposten hin und her,
4. und im Morgengrauen ging Er hoch ins alte Stadtviertel, ohne sich vor dem Wind zu ducken, in den Herbstmantel zu mummen und ohne Mütze,
5. über den Schornsteinen der Bretterbuden aber standen gewaltig die Rauchsäulen.
6. Und wie sie da gingen, krochen aus den Gassen die Kranken und Elenden heraus, und man führte die Blinden und trug die Gelähmten,
7. und in der Grünanlage vor der Lehranstalt namens Konstantin Apollonowitsch Sawitzky umringte Ihn schon die Menge, und Er sprach zu ihnen auf Mokschanisch,
8. und lehrte sie ebenda, bei Wind und Frost, und da niemand Ihn verstand, begann Er die zu ihm Gekommenen und zu ihm Geführten zu berühren,
9. und er heilte sie alle. Und seine Jünger traten zu Ihm und sagten: Wozu schweigst du, Ozjasor?
10. Er aber gab zur Antwort: Ich berührte sie, weil ihnen die Sprache fehlte, um mit ihnen zu sprechen,
11. und habe Wunder vollbracht, weil es an Einsichten fehlte für ihre Köpfe.
Denn verroht ist die Natur dieser Menschen.
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Diesen Artikel haben wir am Mittwoch, 6. September 2023 in den Shop aufgenommen.