Das poetische Fruchtland des Walter Thümler
von Utz Rachowski
Walter Thümler (geb. 1955 in Oldenburg) kenne ich schon seit unserer gemeinsamen Zeit in Westberlin. Ich war 1980 aus der DDR direkt aus dem Gefängnis ausgebürgert worden, Walter kam aus München und wir begegneten uns im Oberbaumverlag in Neukölln, den der Dichter Siegfried Heinrichs (1941–2012) im Jahr 1985 übernommen hatte. Leider existiert dieser wichtige Verlag nicht mehr, der sich auf osteuropäische Literatur spezialisiert hatte nach der Übernahme durch Heinrichs. Vorher war er bekannt als Verlag für maoistisch-trotzkistische Veröffentlichungen, neben der dort verlegten Mao-Fibel konnte man auch den ersten zweiten und dritten „Bericht aus einem chinesischen Dorf“ im Programm finden. Das wurde anders durch Siegfried Heinrichs, der von Anna Achmatowa über Warlam Schalamov bis Marina Zwetajewa vieles im Programm hatte, dazu mehrere ungarische, serbische und auch polnische Schriftsteller. Einige, damals junge Autoren, wie Axel Reitel und ich, bekamen dort auch ihre Chance. Das größte Verdienst dieses Verlages ist wohl die Wiederentdeckung von Sándor Marái für den deutschsprachigen Raum, vor allem mit den sieben Bänden der Tagebücher und als Auftakt mit seinem Roman „Bekenntnisse eines Bürgers“.
Als der Verlag in das kleine Zimmer einer großen Neuköllner Wohnung zur Miete einzog, weißte ich zusammen mit Walter Thümler zuerst den Raum aus, wir hängten eine grüne preiswerte Deckenlampe auf, besorgten mehrere Stühle, wobei mir Walter in diesen Tagen den Unterschied zwischen apollinisch und dionysisch beibrachte – wir verstanden uns sofort gut.
Nun ist Walter Thümler, den ich viele Jahre nicht wiedersah, ein gestandener Schriftsteller mit zahlreichen Veröffentlichungen, seien es Gedicht- oder Prosabände oder Poetologische Notizen und zuletzt (2025) eine interessante und lesenswerte Sammlung von 24 Portraits. Sein Debüt „Schmaler Streifen Fruchtland“ erschien 1988 im Oberbaumverlag.
Auf den Portrait-Band möchte ich unbedingt hinweisen! Jetzt habe ich mir den bereits schon 2011 erschienenen Gedichtband „Ist jemand da“ herausgesucht, um das poetische Werk Walter Thümlers beispielhaft zu würdigen. Viele der Bücher nach seinem Debüt sind im Leipziger Literaturverlag erschienen, dazu noch besonders erwähnenswert, auch die Übersetzungen von Gennadij Ajgi (1934 in der heutigen Republik Tschuwaschien geboren, verstorben 2006) dessen Buch „Immer anders auf die Erde“ (2009) und Gedichte des berühmten US-Lyrikers C.K. Williams (1936-2015) unter dem Titel „Von nun an“ (2010)
"Das Kunstwerk und die theologische Dimension" hieß ein 1996 in Minsk gehaltener Vortrag Walter Thümlers im Rahmen des II. Internationalen Poetenfestes "Zeit und Ort". Dieser Ansatz erinnert mich sehr an die poetisch-theologische Position des lyrischen Ich schon in seinem Debüt „Schmaler Streifen Fruchtland“, mit dem er uns 1988 überraschte, hatte er doch, bescheiden, über die Jahre, als wir uns privat und beruflich fast täglich sahen, kaum von sich als Autor oder Dichter gesprochen. In seiner Lyrik, auch in seinem Band „Ist jemand da“ und den vorhergehenden und nachfolgenden wie „Balken, Striche, Brösel“ (München 2001), „Die Verlegenheit des Ornithologen“ und „Was daraus wird“ (beide Leipzig 2013), „Immer geschieht etwas“ (Leipzig 2016), glaube ich wieder diesen, seinen ganz eigenen Ton und besonderen Blick auf die Welt wahrnehmen zu können.
Schaut man sich Walter Thümlers Gedichtband „Ist jemand da“ genauer an, der auf 140 Seiten circa 80 Gedichte präsentiert und seiner verstorbenen Mutter gewidmet ist, wird vor allem wiederum auch seine theologische Sicht auf die Welt deutlich. Dabei das Motto des Bandes, ein nachdenklicher Aufruf, ein Auftrag an den Dichter, an sich selbst, zitiert er Dante Alighieri: „Und denk daran, daß du bei deinem Schreiben auch nicht verschweigst, wie du den Baum gesehen, der nun hier oben zweimal ausgeplündert.“
Diese Warnung eines Wahrheitssuchers gegen das Verschweigen.
Schon im ersten Gedicht werden die Themen abgesteckt (alle Zitate aus Platzgründen hier nicht in Versform wie beim Autor):
„…wenn du nicht springst (Springen in den Glauben wie Kierkegaard es versteht) Überdrehst du dich wie die Schraube in der Mutter vor Zuviel Abprall…“ oder:
„…beginnt dort die Welt (jetzt wo Sprache ihre eigene Parodie) das Getriebe läuft leer ein Kind stirbt im Fernsehen Jeanne d’Arc betet während sie ein Thema haben gegen den Aufruhr im Land Morija…“
Wo ist Morija? … ich schlage nach: das ist der Name eines Berges im Buch Genesis, wo Abraham die Fesselung Isaaks vorgenommen haben soll. Juden identifizieren die in Genesis erwähnte Region und den konkreten Berg, auf dem das Beinahe-Opfer stattgefunden haben soll, mit dem „Berg Moriah“, der im Buch der Chroniken als der Ort erwähnt wird, an dem Salomons Tempel erbaut worden sein soll, und diese beiden Orte werden auch mit dem heutigen Tempelberg in Jerusalem identifiziert.
Das folgende Zitat, jetzt aber in Versform, so wie beim Autor zu lesen, Zeilen, die Walter Thümler sofort zu einem modernen Dichter machen:
„…doch - ist Sprache nicht wie
beim Ausstieg aus dem
Zug Vor uns Hinter uns
Gedränge…“
Dieses Buch hält den Leser in Spannung und belohnt ihn mit herrlichen Metaphern fort und fort…:
„Die eingerollte verschnürte Luftmatratze des Himmels Wir freuen uns Wenn uns der Wahnsinn des Tages verkürzt wird durch diese oder jene Verrichtung lang müssen wir leben Während ein Tag alle Tage sein könnte Und - schrecklich Wenn wir recht behalten…“
„… die Fenster hinauf wird irgendwo Licht sein? Wäre dort jemand Mit der Seele Doch wer will dies inmitten Zer- hackter Luft und dem Weitermachen (der einzigen Religion Die wir vererben) …“
„…wer aber traut sich ins Grab der Sprache…“
Sind das nicht Gebete, eigenständig neue, sehr persönliche und dazu eben deshalb große Poesie? Gedichte, die auch in ebenso großer Tradition stehen, aber selten in deutscher, in deutscher Sprache. Ich erinnere, ich denke an Odysseas Elytis, als Beispiel.
In einem der letzten Gedichte des Bandes empfiehlt der Autor Walter Thümler:
„…Das vielleicht sich selbst zuhören und keinen Begriff finden Nur Worte die zerfransen wie die Jacke eines Bikers aus den Siebzigern Kontur in der Stimme vernehmen Eine Liebesnacht fühlen Das Ineinandergleiten der Körper und glauben Daß dies den Schmerz des Verrats überwiegt wer keinen Begriff findet (weil er ihn nicht braucht) kauft sich am Kiosk eine Zeitung und vergißt sie zu lesen…“