Selbstkontrolltraining 1 - Grundstufe: Sensibilisierung und soziale Kompetenz
Enthält zahlreiche Vorlagen für die Gestaltung von Gesprächen, Gruppensitzungen und praktische Checklisten als Kopiervorlage.
Das vorliegende Manual verschafft dem Praktiker einen Überblick zum Selbstkontrolltraining in der Grundstufe und gibt Orientierung zum Ablauf sowie Anregungen für die Vorbereitung der Sitzungen. (Sexuelle) Gewalt kann gesehen werden als extreme Form der Kommunikation, die auf die Entwürdigung, Verletzung oder Ausschaltung des Anderen abzielt. Oft folgt sie auf Desintegrationserfahrungen, sei es in der Familie oder in Bezug auf Partizipationsgelegenheiten, die die Gesellschaft verweigert.
Wenn (sexuelle) Gewalt in diesem Rahmen durch einen Mangel an sozialen Fertigkeiten begründet ist - statt bei vorhandender sozialer Kompetenz strategisch eingesetzt zu werden -, stellt das Selbstkontrolltraining - häufig irreführend als "Anti-Gewalt-Training" bezeichnet - als Gruppenarbeit die Methode der Wahl dar und kann an den individuellen Verletztheiten ansetzen: um miteinander Handlungsalternativen auszuprobieren und Kränkungen zu überwinden.
Anwendungsfelder des Selbstkontrolltrainings:
ambulante Straffälligenhilfe, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe, Justizvollzugsanstalten, Beratungsstellen bei häuslicher Gewalt
Zur Leipziger Gefängnissstudie
⇒ l-lv.de/neu/product_info.php/info/p276_klemm--torsten--delinquenz--haftfolgen-und-therapie-mit-straffaelligen.html
Zur Aufbaustufe des Selbstkontrolltrainings (SKT): Lebensplanung, Familientraditionen und Sexualität, Beziehungsgestaltung
⇒ l-lv.de/neu/product_info.php/info/p278_klemm--torsten--selbstkontrolltraining-2---aufbaustufe.html
Inhaltsverzeichnis
Vom praktischen Nutzen eines Selbstkontrolltrainings 7
Gesellschaftsstruktur und Gewalt 10
Sozialneid und differenzielle Kontakte 10
Labeling-Effekte und Zirkularität 10
Selbstwertgefühl und Gewalt 12
Erwachsenen-Autorität und Jugendlichen-Gewalt 13
Jugendgewalt = Jungengewalt?
13
Die Selbstkontrolltheorie 15
Standortbestimmung 15
Ein Faktor oder mehrere? 15
Selbstkontrolle und soziale Bindung 16
Selbstkontrolle und Emotionalität 18
Wirkfaktor Selbstkontrolle
20
Rahmenbedingungen für ein wirksames Selbstkontrolltraining 22
Indikation, Kontraindikation und Alternativen 22
Auflagen und institutioneller Kontext 24
Setting 25
Die Struktur des Selbstkontrolltrainings 26
Ablauf der Sitzungen 27
Therapeutische Haltung, Menschenbild und Gesprächsführung 29
Ausblick 34
Sensibilisierung und soziale Kompetenz 35
Biofeedbacktraining 36
1. Thema: Stärken- und-Schwächen-Interview 39
2. Thema: Allgemeine Entspannungsinstruktion 46
3. Thema: Muskelentspannung 52
4. Thema: Atmung und Gedankenfluß 54
5. Thema: Wahrnehmungssensibilisierung 56
6. Thema: Wahrnehmung minimaler Zeichen und Respekt 58
7. Thema: Bedrohungs- und Angstempfinden 59
8. Thema: Augenkontakt und nonverbale Kommunikation 61
9. Thema: Vertrauen 63
10. Thema: Grundgefühle 65
11. Thema: Gefühlsschattierungen 67
12. Thema: Täter-Opfer-Empathie 69
13. Thema: Provokation aushalten und Humor 71
14. Thema: Verbale Argumentation 75
15. Thema: Selbstwahrnehmung (Videokonfrontation) 83
16. Thema: Rollenwahrnehmung und Gerechtigkeitsempfinden 86
17. Thema: Selbstbehauptung, Sich-Durchsetzen und Nein-Sagen (Rollenspiele) 90
18. Thema: Kontaktknüpfen und Eifersucht 95
19. Thema: Kooperation und Streit 97
20. Thema: Kooperation, Respekt und Zwischenbilanz 99
Literatur 101
Zum Hintergrund: Die Selbstkontrolltheorie
Selbstkontrolle und soziale Bindung: Das Zwei-Prozeß-Modell
Aus der Umkehrung ihrer Beobachtung, daß delinquente Kinder zu wenig beaufsichtigt wurden, betonen Gottfredson & Hirschi die Bedeutung einer Erziehung, die effektiv die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub fördert. Erst die Beaufsichtigung der Kinder, so die Autoren, erlaube es, einen angemessenen Umgang mit devianten Verhaltensweisen zu finden. Stigmatisierung gilt Gottfredson & Hirschi nicht als mitverursachend, sondern als notwendiges Mittel der Erkennung und Bestrafung gewalttätigen Handelns – mit anderen Worten: Gottfredson & Hirschi leugnen den negativen Rückkopplungseffekt sozialer Sanktionen.
Kritisch ist darüberhinaus anzumerken, daß die Modellwirkung prosozial handelnder Bezugspersonen in der neuen Theorie von Gottfredson & Hirschi (1990) zu kurz kommt. Bereits 1969 legte Travis Hirschi eine Theorie vor, in der er behauptete, daß die Hemmschwelle zur Delinquenz desto höher liege, je wahrscheinlicher die Tatendeckung mit einem existenziellen Verlust, z.B. eines Arbeitsplatzes oder einer Lehrstelle, oder einem Gesichtsverlust gegenüber Freunden verbunden ist. Je stärker die sozialen Bindungen, desto geringer die Gewalt- und Delinquenzneigung. Hirschi’s Theorie der sozialen Bindungen wurde zu einem wichtigen Maßstab des US-amerikanischen Justizministeriums, um Präventionsmaßnahmen zu beurteilen. Er postulierte vier Stufen der Bindungsqualität:
• Freundschaftlichkeit und Intimität (attachment): Familie, Freunde
• Verpflichtung (commitment): Beruf, Familie
• soziale Einbindung (involvement): Schule, Arbeit, Sport, Vereine, Kirchen
• ethische Überzeugung (belief): Rechtsbewußtsein, Ehrlichkeit
Dies entspricht im Kern dem hierarchischen Loyalitätsmodell der systemischen Therapie (vgl. Bateson, 1972, 553; Mücke, 1998, 96ff.) Tatsächlich schließen sich soziale Bindung und Selbstkontrolle nicht gegenseitig aus, sondern setzen einander voraus (Akers, 1994; Andrews & Bonta, 1994). Hirschi & Gottfredson (1995, 140) selbst räumen ein, schwache Bindungen seien „to some large degree products of low self-control“. Doch auch das Umgekehrte läßt sich beobachten. Jüngste Längsschnittbeobachtungen bei schwerkriminellen Drogenabhängigen, einer von der Selbstkontrollforschung vernachlässigten Klientel, zeigen, daß geringe Selbstkontrolle Freundschaften und Liebesbeziehungen schneller scheitern läßt. „The combination of self-control and social control perspectives shed some light on the causal process by which low self-control may influence later deviance.“ (Longshore et al., 2004, 559) Wenn Selbstkontrolle und soziale Bindung wechselseitige Mediatorvariablen bilden, wundert es nicht, daß sie hoch korrelieren. In einer funktionalen Sichtweise wäre es dennoch nicht sinnvoll, sie miteinander zu identifizieren. Herz- und Lungentätigkeit mögen eng aneinander gekoppelt sein. Kein Biologe käme jedoch auf die Idee, sie zu identifizieren. Vielmehr unterscheiden sie sich inhaltlich und stehen in einer reziproken zeitlichen Abhängigkeit:
Die primäre Bindung oder „emotionale Investition“ der primären Bezugspersonen in das Kind (Bowlby, 1988) bildet die Voraussetzung für die spätere Einübung einer empathischen Sichtweise. Empathie – das Vorstellungsvermögen für langfristige Folgen, die Befindlichkeit und Situation anderer Menschen sowie die Funktionsweise von Institutionen und Systemen – wird benötigt, um Selbstkontrolle zu erwerben. Selbstkontrolle ist die minimale, notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung einer selbstbestimmten Lebensform. Autonomie der Einzelnen gegenüber den jeweiligen Eltern gehört zu den bedeutsamen Voraussetzung einer gelingenden Partnerschaft.
Mit dem Übergang von der Herkunfts- in die Fortpflanzungsfamilie tritt der Kreislauf in einen zweiten Zyklus ein. „Such attachments – to a spouse, a workplace, or to coworkers – may occur later in life and repair the original attachment relationship. Only a limited number of studies take empathy into account in explaining criminality and most focus exclusively on sex offenders.“ (Katz, 1999) Dieses Modell verdeutlicht, weshalb in der Adoleszenz die Gewalt- und Kriminalitätsneigung am höchsten ist, wenn es die Gesellschaft versäumt, der Übergangsphase des Adoleszenten in das Erwachsenenalter einen Rahmen zu geben. (Archaische Gesellschaften plazieren in dieser Phase starre Initiationsriten.) Der Jugendliche ist weder tatsächlich autonom noch genügend sozial gebunden.
Nicht jede soziale Bindung stärkt die Empathiefähigkeit und damit die Selbstkontrolle des Einzelnen. Bindungen an impulsive Eltern, Kontakte zu devianten Freunden fördern die Gewaltneigung eines Jugendlichen (Akers,1994; Matsueda & Anderson, 1998). Das zirkuläre Modell der Selbstkontrolle läßt sich umgekehrt auch für den Fall des Gewaltkreislaufs formulieren. Auch hier steigern sich die Effekte gegenseitig.
Der Kreisprozeß kann an jeder Stelle selbstverstärkend einsetzen. Während der primären Sozialisation bilden Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, selektive Wahrnehmung, Bedrohung durch harsche Erziehungsmethoden, Kindesmißhandlung sowie Vernachlässigung oder krisenhafte Trennungen der Eltern die Initialzündung zur Gewaltdynamik (West & Farrington, 1973, 1990; Wadsworth, 1979). Soziale Ausgrenzung, Hegemonie beanspruchende Ideologien, Empathie verhindernder Machismo oder Eifersucht setzen den Gewaltkreislauf nach Verlassen der Familie in Gang (Messerschmidt, 1993). Das hier vorgestellte Modell der Selbstkontrolle ist weit davon entfernt, soziale Umstände der Gewaltentstehung zu psychologisieren. Der Mangel an Selbstkontrolle wird als Folge und Reaktion verstanden, er moderiert Gewaltausübung. Die Ausgrenzung impulsiver Kinder und Jugendlicher in der Schule führt oft dazu, daß sich diese in Gruppen wiederfinden, in denen Selbstkontrollmangel dominiert und als Modell wirkt. In diesem Sinne erlernen oder verstärken sie ihre Impulsivität durch „differenzielle Kontakte“ (Wright et al., 1999, 2001).
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