Gedichte und Kurzprosa. Mit Zeichnungen von Marion Quitz
Festeinband mit Etikett
Die Mexiko-Texte von Viktor Kalinke schärfen historisches Bewußtsein und magische Vorstellung. Sie schlagen eine Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart, ihre Eindringlichkeit holt die vergessenen Seiten der Konquista ans Licht. Die einfühlsame Schilderung strahlt auf Passagen aus, die von den Tatsachen abhebend eine zweite Ebene schaffen. Ergänzt um Zeichnungen von Marion Quitz, die in ihrer Surrealität die geistige Welt der Maya beschwören, entsteht faszinierendes Künstlerbuch.
Viktor Kalinke: geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, lebt in Leipzig.
"Erstaunlich, wie tief Kalinke in die Geschichte Mexikos eingetaucht ist und diese in eine poetische Sprache verwandelt hat, wortstark, metaphorisch, manchmal auch bewußt lapidar, um die Sache etwas aufzulockern ... Ich lese gerade das Buch zum zweiten Mal, weil ich weiß, daß mir bestimmt viel durch die Lappen gegangen ist beim ersten Lesen. Jetzt lese ich alles um so intensiver und denke natürlich auch dabei: Wie mag es bei Nerudas Gesang gewesen sein? Finnländischer Bahnhof, Karibik haben mich besonders beeindruckt. Die vierfache Heimkehr des Christoph C. habe ich wieder aufgeschlagen und wußte manche Sachen gar nicht, obgleich ich dachte, alles über C. zu wissen. So kann Lyrik auch sein - ohne erst einen Historienschinken zu bemühen... Da weiß ich Bescheid über das Credo des V. Kalinke: Unaufdringlich - und doch sozial engagiert." Reinhard Bernhof
Leseprobe:
Gonzalo Guerrero
Angeheuert : mit Skorbut über den großen
Teich getrieben : Blasphemie wäre es
anzukommen in Indien : die Würmer
im Zwieback auf dem Schiff : besser
als der löchrige Mehlsack daheim
in Spanien : als Juan de Valdivia
zur Expedition aufrief : gegen den katholischen
Glauben den katholischen Glauben
in wärmeren Ländern zu verbreiten : 1510
als in Europa alles nach Pestbeulen
roch : die Stadtbürger im Kot
versanken beim Überqueren
der Straße : Gerüchte
von der Neuen Welt : Wärme & Gold
lockten aus Mutters Schoß hinaus
ins fernfiebrige Abenteuer : wer
hätte geahnt : daß der Ausflug
übern Atlantik mit Schiffbruch
endete : den nur dreizehn Matrosen
überlebten : dank der nahen
Küste Yucatans : der göttlichen
Offenheit der Maya : die Gestrandeten
aufzunehmen : strohgedeckte
Lehmhütten in der Savanne : besser
als im Salzwasser zu ersaufen : Gonzalo
Guerrero : Jerónimo de Aguilar : sie lernten
sprechen : bis Cortés kam : der lächelnde
Würger : acht Jahre später betrat er
Amerika : die anderen hatten
nicht überlebt : Jerónimo verdingte sich
ihm als Dolmetscher : bei der freundlichen
Ausrottung indígener Hochkulturen
diplomatisch mitzuwirken : auch Hitler
schloß bekanntlich mit Eifer
Nichtangriffs- & Friedensverträge
bevor er den Krieg begann : eine List
die Gonzalo kannte : er kannte die Spanier
gut : ihren Hunger nach Macht : ihr
inquisitorisches Hochpeitschen der Moral
im Namen des Herrn zu sündigen
Reichtümer anzuhäufen nach Absolution
durch bettelnde Franziskanermönche
Gonzalo kannte ihre Besessenheit : er blieb
seinem Nachwuchs treu : auf Yucatan
mit einer Maya gezeugt : fiel bei einer Stecherei
mit Cortés’ Leuten : um
als Vorbild für Tarzan
in kindlichen Hirnen weiterzuleben
Finnländischer Bahnhof
Einst von staatlich bezahlten Barden besungen : ein Imbiß
verstellt nun den Blick auf den Genossen Lenin : seine Hand
wegweisend zum Horizont erhoben : oder zum Gruß
als er ankam : hier : im heißen November
nach neuer Zeit : war die Schlacht schon geschlagen
Trotzki kommandierte die Arbeiterschaft : Lenin
kannte nicht einmal den Weg : durch die Barrikaden
er brauchte einen Führer zum Smolny : bevor er
zum Führer sich deklarierte : dieses Spiel
hatte er oft geübt : auf den Parteitagen
im Londoner Exil : wo sich die Zelle
von zwölf sozialdemokratischen Jüngern im Lagerhaus
traf : einer stillgelegten Fabrik
eine glorreiche Mehrheit von sieben begründete die Bolschewiki
so einfach war es für den Lehrersohn : in die Geschichte
einzugehen : er ließ niemanden außer sich selbst
zu Wort kommen oder niemandes Wort
neben sich gelten : schon gar keine Umsicht
duldete er : der besessene Theoretiker
im Schweizer Refugium träumt es sich leicht
von Weltumsturz : weg mit dem raffinierten
Trotzki : viel zu geschickt
hat er den Aufstand gegen Kerenski
eingefädelt : zu wenig Blut ist geflossen
eine ernste Gefahr : dieser konvertierte
Vertreter des Bürgertums : wie Marx & Engels übrigens
damit ließ er sich packen : ihm fehlte
die proletarische Herkunft : dann hätte es richtig
viel Blut gegeben : im heißen Oktober
& Kerenski hätte gewonnen : hätte der Lackaffe
Stalin oder der Träumer in seiner finnischen Hütte
ohne Kenntnis der Lage die Truppen geführt : Trotzki
war wirklich gefährlich : mit ihm
hätte die Weltrevolution in Brest-Litowsk
nicht aufgehört : nicht an der Berliner
Mauer & nicht im mexikanischen Exil : die Imbißbude
würde trotzdem am Finnischen Bahnhof
stehen : ohne Lenin als Mosaik dahinter
Besuch im „Blauen Haus“
für Frieda Kahlo & Diego Rivera
Mexikanischer Mikrokosmos, beschattet von Palmen, Geburtsort des surrealen Realismus, der nach dem Ende des Weltkrieges als Vision vom menschlichen Staat erschien: in Gestalt des weltumspannenden Kommunismus. Frieda Kahlo starb zu früh, um die Korruption des Ideals durch die Bauernsöhne Mao und Stalin zu erleben. Die Schwierigkeit ist nicht, die passende Gelegenheit zum Umsturz zu nutzen und eine Revolte anzuzetteln. Die permanent ungelöste Frage der Revolution lautet: Was folgt nach ihr, damit das neue System einen qualitativen Sprung gegenüber dem vorangegangenen darstellt, statt lediglich die Anführer der einen durch die Anführer einer anderen Clique zu ersetzen? Dieser Frage läßt sich nur mit einer Analyse der Funktionalität gesellschaftlicher Institutionen beikommen: Sind Hierarchien entscheidungsnotwendig oder Produkt der Machtanmaßung einer Minderheit? Wie lassen sich Existenzräume für demokratische Partizipation schützen, zur Gewährung von Autonomie für Subkulturen, zur Einschränkung von Machtakkumulation, sei sie politisch oder ökonomisch fixiert?
Surreal ist die Nutzung der Kunst zur Irritation der Gesellschaft, damit diese ihren letzten Sinn in der Ermöglichung von Kultur wiederentdeckt. Die Surrealisten betrieben zumeist nur einen geringen technischen Aufwand, um Wirkung zu erlangen, verglichen mit Monumentalkünstlern wie Bellini oder Michelangelo. Ihre Werkstätten sind klein und ins Exil transportierbar. Im Mittelpunkt steht die Idee, das Immaterielle, die magische Konstruktion, der Traum. Nun sehen wir, wie diese fluiden Formen des Bewußtseins die Boulevards der kapitalen Städte erobern
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