Gedichte, zweisprachig.
Aus dem Tschechischen von Ró¸a Domašcyna
Die hier vorgestellten Gedichte sind seinen bisherigen Gedichtbänden entnommen. So auch aus Nepokoje (Unfrieden), Ústí nad Labem 1994,Na svatbu k chagall?m (Zum Fest mit Chagall), Brno 2000, Cestou bolesti a víry (Auf dem Weg des Schmerzes und des Glaubens), Praha 2010 und aus Manuskripten.
eine unbekannte Frau
steht an der Mauer
sie schweigt in fremder Sprache
die aufgesogen wurde von den Ziegeln
beim Bau dieses Hauses
in den Sudeten
Wann bleibt einem das Haus der Kindheit trotz aller Nähe seltsam fremd? Ist es doch das eigene, das Elternhaus. Aber diesem Ort haftet etwas Fremdes an, was man erstnach und nach begreift. Es ist anwesend und gibt den Dingen des Lebens eine weitere Legende hinzu.
Die Eltern des Dichters, nach dem 2. Weltkrieg junge Leute, wollten bauen. Da sagte man ihnen: Zieht doch nach Varnsdorf, dort stehen Häuser leer. Häuser, aus denen die deutschsprachige Bevölkerung ausquartiert geworden war, wie man im Tschechischen sagt. Das Haus seiner Kindheit hatte einer Frau gehört, die im Ort eine Apotheke hatte, sagten die Leute. Eine Apotheke mit dem Namen„Schwarzer Hund“. Nur dies wußte er als Kind. Keinen Namen. Kannte keine ihrer Verwandten. Das hat ihm schon früh zu Denken gegeben. Und das floss in seine Erfahrungen mit sich, den Eltern und Freunden. Und diese Bilder bleiben, keins läßt sich aus dem Garten des Erinnerns entfernen.
Sein Kinderfreund wurde in Zittau geboren und kam dann mit den Seinen nach Varnsdorf. Es war eine deutschsprachigen Familie, in der auch tschechisch gesprochen wurde. Einmal nahm ihn der Freund mit ins „gute Wohnzimmer“. Da sah er das Bild über dem Sofa: ein Soldat in deutscher Uniform. „Dein Opa war Nazi!“, rief das Kind entsetzt. Die Großmutter jagte die Kinder aus dem Zimmer. „Der Freund schämte sich sehr“, sagte Milan Hrabal, als er mir das erzählte. Dabei war es nur eine einfache Wehrmachtsuniform. Aber die Klischees waren schon in den Kinderköpfen und erst mit zunehmenden Alter zu relativieren.
Unter diesen Einflüssen ist Milan Hrabal erwachsen geworden. Und all dies findet sich auch in seinen Gedichten. Als ständige Auseinandersetzung mit sich selbst, der Welt seiner Kindheit, der Religion und der Geschichte. Auseinandersetzung meint nicht Abrechnung, das zu betonen, ist ihm wichtig. Wichtig ist der genau hingewandte, ja zugewandte Blick. Dazu kommt im Dreiländereck Deutschland-Tschechien-Polen das Vor-Augen-Führen einer Versehrtheit der Umwelt, die vor Ländergrenzen nicht halt macht. Das Abholzen ganzer Wälder, verwüstete Landstriche, karge, steppenähnliche Tagebaufolgelandschaften. Eine ausgebeutete, unbefestigte Gegend, wie man sie auch anderswo auf der Welt findet. Genügend Stoff, um sich im Gedicht daran zu reiben. Und ganz selbstverständlich drängen dabei solche Themen in den Text, die an Wichtigkeit nichts einbüßen: geboren werden, Leben, Sterben. Milan Hrabals Gedichte sind verknüpft mit dem Dasein. Durch diese unbedingte Nähe sind sie um so eindringlicher.
Milan Hrabal wurde 1954 in Varnsdorf geboren und lebt dort. Nach dem Abitur an der Schule für Ökonomie in Ceska Lipa war er als Ökonom tätig, später als Leiter der Schul- und Kulturabteilung des Stadtamtes in Varnsdorf und Leiter des Poetikstudios “Doteky” (Berührungen). In den Jahren 1990-2003 war er Redakteur und arbeitete auch für die Literaturzeitschrift “psí víno” (Gänsewein). Er organisiert literarische Wettbewerbe für Kinder und Jugendliche in Varnsdorf. Milan Hrabal ist Mitglied in mehreren literarischen Vereinigungen, u. A. im P.E.N.- Zentrum Tschechien und im Tschechischen Schriftstellerverband.
Er schreibt Lyrik und Prosa, ist auch Nachdichter, vor allem aus dem Sorbischen. Und er hat auch mehrere Anthologien herausgegeben, darunter eine mit dem Titel: Jazyk, jím¸ porozumíš v?tru (Die Sprache, mit der man den Wind versteht), mit Poesie aus dem Sorbischen, wo er zugleich Nachdichter war. Bisher hat er als Herausgeber über 50 Publikationen veröffentlicht. Er hat 11 Lyrikbände geschrieben. Im Jahr 1981 erschien sein Debütband Sólo v?tru (Solo für den Wind) im Nordtschechischen Verlag Ústi nad Labem.
Für seine Arbeit bekam er mehrere Literaturpreise, darunter 1989 den “Olomoucký tvar?¸ek“ (Ölmützer Quargel) in Gold 1989 und den Internationalen Preis des Warschauer Poesieherbstes 1999.
Einige seiner Arbeiten wurden in die polnische, sorbische, bulgarische, deutsche, englische, litauische und ungarische Sprache nachgedichtet.
Ró¸a Domašcyna, geboren 1951 in Zerna bei Kamenz. Lyrikerin, Nachdichterin. Übersetzt aus dem Polnischen, Slowakischen, Tschechischen und Russischen ins Sorbische bzw. Deutsche und aus dem Sorbischen ins Deutsche. (Letzteres z. B. in “Santera pantera”, Lyrik der Gegenwart aus dem Sorbischen, Edition Thanhäuser, Ottensheim, Österreich, 2003, “Das Meer die Insel das Schiff”, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, 2004.) Im Jahr 1998 erschien "Zelene zet - Das grüne Gej", Lyrik - Jurij Kh?¸ka, RanitzDruck Nr. 6, Edition Thanhäuser, Ottensheim, Österreich; 2010 dann der Band “Meja – Maj”, Lyrik - Karel Hynek Mácha, aus dem Tschechischen ins Sorbische, Domowina-Verlag, Bautzen und Obec spisovatel? ?eská republika, Prag sowie 2012 ein Auswahlband mit Lyrik - Ján Zambor “Zelený ve?er – Grüner Abend”, aus dem Slowakischen ins Deutsche, Verlag im Wald, Rimbach. Mitglied des P.E.N. Deutschland und der Sächsischen Akademie der Künste.
Die Entstehung der Nachdichtungen wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen gefördert.
Leseprobe:
Haus der Geburt
still ist mit uns
verwachsen
das Haus
zu seinen Fundamenten
bückt sich der Vater erneut
zu den Rissen der Zeit
zwischen den Steinen
als ich so klein war
dass ich dort leicht
hinreichte
entdeckte ich
eine schimmernde Wabe
Glimmer
als kleinen Spiegel
damals erkannte ich
darin niemanden
neig dich doch nicht so tief
Vater
doch er hört nicht
lauscht am Stein
alt an alt
versuche ich sie
zu begreifen
Das Kellergewölbe
das Zwischenspiel zwischen den Spielen
fällt die feuchte Treppe herab
watet im Nest aus schlüpfriger Dunkelheit
der Geruch von Märchen reicht nicht bis hierher
und doch – die Stille ist reich an Geklimper
beim Aufschlagen der Tropfen
erinnert sie an Mutters Küche
früh beizeiten
Ist es das Trampeln beim Ausschütten überreifer Äpfel?
im Winkel deiner Gedanken
hat jemand mit Nachdruck geseufzt
Trennungen
schon ist hier Nacht
da der verdammte Zug die Tochter fortträgt
immer weiter von Zuhause weg
sie - kopflos vor Liebe
eine unbekannte Frau
steht an der Mauer
sie schweigt in fremder Sprache
die aufgesogen wurde von den Ziegeln
beim Bau dieses Hauses
in den Sudeten
schweigend blickt sie mit den Augen
des Mädchens das schwanger wurde
von einem der tot ist
der Mond durchbricht den Nebel
gießt sein Licht
vor uns aus
ich nehm meine Frau an die Hand
führe sie zum Bett
die Tür klappt zu
in der Stille wird laut
ihr Atem
mein Atem
im Flur säuert
Kraut
In den Nächten
kaum dass ich einschlafe
rütteln mich die Toten
mit Ungeduld
als ob der Tod
hinter ihnen her wäre
als ob sie nicht einmal jetzt
ausgereift wären
ihnen die Welt gehört
Weshalb also sterben?
Immer wieder
immer wieder
und wieder
durchleb ich das
sie fahren mich in ein weißgetünchtes Haus
beschneiden mich
dann kehre ich in die Sudeten zurück
wohne im gelben Haus mit dem roten Ziegeldach
die Nachbarn fliehen
kurz darauf
suche ich den Erhängten unterm Sims
ich kann niemanden finden
obwohl Wäscheleinen
mir den Atem abschnüren
höre das Scheuern
der Reisigbesen
auf der Treppe
umsonst verschließ ich
die Kellertür
die Soldaten kommen nicht
immer wieder durchleb ich das:
die letzte Scheibe Wurst
probier ich auf der Zunge
aufzulösen
wie Schokolade
ein Hund leckt sich
das Fett aus dem Mundwinkel
der tote Hund
in jenem Film
dem aus Grauen das Celluloid
ausgegangen ist
Raum für génia loci
hinter dem Hund der sich weigert
den Mond anzuheulen
und der auf Großmäuler bellt
durchwate ich die Sudeten
gleich jenen die einst hier gingen
hinter der Wegkrümmung vermute ich
die Zeitschleife
dort hol ich sie ein
in fremder Sprache
klauben wir das Geschick wie man Erbsen klaubt
unweit
in der Bauernkate am Kamin
lebt die Tochter mit Mann dazu ein Hund:
von den beiden gibts nur eins zu sagen
über kurz oder lang wollen sie
mit ihrem Blut meins weitertragen
dann kehr ich zurück
das Mondauge bildet einen Kreis
wie wir
der Hund die Frau das Wiegenkind
und am Bajonett verröcheln allein
die Jünger des Tötens in Gott