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Aus dem Serbischen von Mirjana & Klaus Wittmann
Milos Crnjanski zählt zu den herausragenden Autoren der jugoslawischen Avantgarde. Seine poetische Prosa hat die moderne serbische Literatursprache geradezu erschaffen. Ab 1928 weilte Crnjanski als Kulturattaché in Berlin. Seine Beobachtungen sind gerade für das deutschsprachige Publikum von herausragendem Interesse. Sie stellen die Außensicht eines intellektuellen Serben auf die Mentalität und das Alltagsleben der Weimarer Republik dar. Weit davon entfernt, ein passiver und oberflächlicher Beobachter zu sein, gibt Crnjanski nicht nur seine Eindrücke, sondern auch seine Vermutungen und Zweifel wieder, wobei sich manche seiner Schlußfolgerungen als verblüffend prophetisch erweisen sollten.
So bemerkt er, der (Erste) Weltkrieg sei „eigentlich nur die Generalprobe für einen nächsten Krieg“ gewesen, und kommt zu dem Schluß, Deutschland würde, nach dem "Ende der Unbestimmtheit und der Zurückhaltung der heutigen deutschen Außenpolitik und deren Friedfertigkeit", diesen nächsten Krieg gegen Polen führen. Hinter den glitzernden Kulissen der deutschen Hauptstadt sah er die Bestrebung, das Bild von Deutschland und seiner Rolle in der Geschichte zu beschönigen.
Zu Recht wies er auf die Verdrängung der jüngsten Vergangenheit hin: "Daß das deutsche Volk in einem schrecklichen Krieg geschlagen wurde, davon ist auf deutschem Boden nichts zu spüren." Er befürchtete daher, daß, sobald die Frage der Reparationen gelöst sei, es "zu einer Rückbesinnung auf das alte Deutschland" kommen und man in Berlin wieder beginnen würde, "unkontrolliert, fieberhaft, fantastisch zu denken".
Milos Crnjanski (1893-1977): geb. in Csongrád (Ungarn), studierte Philosophie und Kunstgeschichte in Wien, Belgrad und Paris, erzwungenermaßen k.u.k. Offizier im Ersten Weltkrieg, Anarchist und Sozialist, zahlreiche Romane, Reisebeschreibungen, Dramen und Essays, übersetzte klassische chinesische und japanische Lyrik, gründete verschiedene Zeitschriften, u.a. Puteve (Wege), ab 1928 Kulturattaché in Berlin, Rom und Lissabon, 1934 Herausgabe der rechtsgerichteten Zeitschrift Ideje (Ideen), Emigration nach London, 1965 Rückkehr nach Belgrad.
Mit hellwachen Sinnen durch das Berlin des Jahres 1929: Iris Berlina - Ralf Julke, L-IZ
⇒ www.l-iz.de/Bildung/Bücher/2011/03/Iris-Berlina-Mit-hellwachen-Sinnen-durch-Berlin.html
Leseprobe:
Erscheinungen und Dinge in Deutschland sind keineswegs farblos, sie sind im Gegenteil von einer üppigen, prächtigen Farbenvielfalt, oft herb und gerade deswegen unvergesslich.
Der Nebel, das Fehlen der Farben und der graue Himmel, die wir uns über Preußen gewöhnlich vorstellen, gehören zu den vielen irrigen und überholten Informationen, die früher über die deutschen Länder und das deutsche Leben verbreitet wurden.
Ein tieferes, saftigeres Grün als das der Wälder um die außergewöhnlich blauen Seen im Norden Deutschlands kann man schwerlich finden, ja sich nicht einmal vorstellen. Eine breite Farbskala, die bis zu ganz faszinierenden Grüns reicht; darüber leuchtet der preußische Himmel – im Sommer von einem ungewöhnlichen Opal, das im Winter noch reiner wird.
Die Veränderungen dort sind nicht farblos, die Menschenwerke nicht grau.
Die Überschreitung der Grenze ist zwar immer noch nicht denkbar ohne die steifen, so oft geschilderten Zollbeamten und Wachposten, doch auch diese geben ein prächtiges Bild ab. Das bayrische Blau, das sächsische Grün, das rheinländische Rot, das preußische Gelb tauchen immer wieder vor dem Reisenden auf.
Mit seinen blauweißen Ärmeln dirigiert der bayrische Schutzmann auf einem in ebensolchen Farben gestrichenen Podest den dichten Verkehr. Ein Zug, der sich an der deutschen Grenze in eine streng vorgeschriebene Reihe von Waggons und Abteilen für Raucher und Nichtraucher, für Damen und für Reisende mit Hunden verwandelt, führt immer einen roten Schlafwagen mit sich. Einer der größten und neuesten Bahnhöfe der Deutschen Reichsbahn, der Leipziger Bahnhof, ist eine gewaltige Konstruktion aus Eisen, Stahl, Beton, Asphalt und Stein, das Wichtigste daran sind jedoch die Farben. Die Signale, die Weichen, die Zeichen in allen möglichen geometrischen Formen, aufgestellt an den wichtigsten Punkten, haben ihre eigene, kausale Reihenfolge, die sich entlang den Schienen mit roten, grünen, blauen und phosphoreszierenden Lichtern auch nachts bis weit in die Ferne fortsetzt. Dieser Bahnhof ist großartig als Bauwerk, aber noch bedeutender und noch „deutscher“ ist, insbesondere nachts, das Zusammenspiel seiner bunten Kreise, Sterne, Pfeile Parallelen, Ellipsen. Man kann es wie den Sternenhimmel außerhalb des Gebäudes stundenlang in Gedanken versunken betrachten.
Der erste Eindruck von deutschen Bauwerken an den Flüssen, zwischen den Docks, den Kränen, den Flaschenzügen und den Schiffen besticht ebenfalls durch eine Vielfalt an Farben. Die Häfen, sowohl am Rhein, als auch im hohen preußischen Norden, sind weder schwarz noch grau. Vielleicht macht das die Nähe des Meeres.
Die Bilder vom deutschen Leben, die man unterwegs aufschnappt, sind ganz und gar nicht düster. Es wäre zwar übertrieben zu behaupten, dass die Erde, die alte Erde unter den wuchtigen Bauwerken, die man entlang der Eisenbahnlinie, vom Fluss aus oder aus dem Flugzeug sieht, verschwunden ist: man kann jedoch nicht übersehen, dass Teile der Natur, dass ihre Farben an Bedeutung verloren haben. Die Erde verschwindet zugunsten immer neuer von Menschen geschaffener Werke, Gebäude und Fabriken, und die Farben der Erde weichen oft den Farben der Reklame für die Industrie. Denen gegenüber wirken die Farben der Kornfelder fast schon unnatürlich.
Die Anhäufung bunter, von Menschenhand geschaffener Werke ist mancherorts schon so groß, dass sie den Eindruck eines Farbenwirbels hinterlässt, was bei der Natur nie der Fall ist. Mitnichten eine graue und farblose Welt, wie von Schriftstellern und Reisenden verbreitet wurde.
Im Gegenteil, das Bild, das man sich vorstellen muss, hat große, stark farbige Flächen, riesige bunt angemalte Quadrate und Rauten, darin gigantische Eisenkonstruktionen in ständiger Bewegung. Flaschenzüge, gezahnte Schienen, Pyramiden, Palmen aus Stahl schaukeln und gleiten, bleiben über geschwungenen Bögen und Brücken stehen. Große glühende Blocks werden in die Höhe gehievt und erbeben unter den donnernden Schlägen blauer Hämmer, die imstande wären, ganze Straßenzüge niederzureißen. Reges Straßentreiben unter mehrstöckigen Türmen und Glasflächen, in denen sich die Sonnenstrahlen brechen. Das Leben spielt sich nicht mehr zwischen Frühling, Herbst oder Winter ab, sondern zwischen den Aussparungen und Dächern architektonischer, optischer oder elektrotechnischer Zweckbauten. Aber auch in dieser neuen deutschen Romantik ist der Grundton nicht das Grau, nicht die Farblosigkeit, sondern vielmehr das Rot, das Gelb, das Blau, das durchsichtige und das feurige Grün.
Das graue und farblose Beamtendeutschland gibt es nicht mehr; Spuren davon sind nur noch in alten, düsteren, verregneten Provinzstädtchen zu finden. Dort wird noch das Schwarz der Militärmäntel beschworen, als gäbe es auf den Ziffernblättern altmodischer Uhren dafür eine besondere Stunde.
Ansonsten ist ganz Deutschland voller Farben, äußerlich wie innerlich. Sie sind für den Fremden herb, jedoch kräftig und schillernd.