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Roman
Nelli ist 14. Sie und ihre Freundin Sara gehen ins Café, ins Kino, klauen in einer Boutique. Sie haben Cyber- und Telefonsex, langweilen sich auf Partys und begehen beinahe einen Raubüberfall auf offener Straße. Als Nelli den gleichaltrigen Robert kennenlernt, spürt sie so etwas wie Glück - aber zur gleichen Zeit entgleitet ihr das Leben. Sie und Sara verabreden sich im Chat mit einem Mann, der sie zu Hause fast vergewaltigt. Als Nelli schließlich Robert Gewalt antut, scheint dies für beide das Ende zu sein. Und doch geht es irgendwie weiter, ganz anders, als man vermutet.
"Hast du manchmal auch einen Traum, den du gar nicht haben dürftest? Der etwas erzählt, worüber du gar nichts wissen kannst? Überlegst du dir manchmal, den Traum aufzuschreiben, für später? Denkst du überhaupt an später? Was erzählt der Traum, sitzt du an einem Tisch mit anderen Erwachsenen, tun sie etwas, was dir merkwürdig erscheint, sagst du etwas, was du gar nicht verstehst, schreibt eine Frau, die du gar nicht kennst, dir aber bekannt vorkommt, ein Buch? Willst du der Sache nach dem Aufwachen auf den Grund gehen, oder vergißt du sie irgendwann? Wie ist es überhaupt mit dem Vergessen, wie weit kannst du zurückgehen in deine Kindheit, wann hört das Erinnern auf? Wann bist du geboren, mit deiner Zeugung, deiner Geburt oder mit deinem ersten Gedanken? Wann hast du zum ersten Mal etwas gesehen, wann hat etwas deinen Blick erwidert? Wann hast du aufgehört zu glauben, daß jeder Tag etwas Neues bringt? Wann haben die Tage aufgehört, etwas Neues zu bringen?"
Oliver Bendel: geboren 1968 in Ulm, Studium der Philosophie, Germanistik sowie Informationswissenschaft, Promotion an der Universität St. Gallen, Gedichte und Kurztexte u.a. in der Zeitschrift neue deutsche literatur (ndl), Gedichtband "Die Stadt aus den Augenwinkeln" (Alkyon Verlag)
"Ihm fallen nicht die Tags der Sprayer auf, sondern die vielen kleinen Winkel, die Lieder der Vögel, die Treppen, die in die Höhe führen, Weitblick öffnen ... das hat ihn nicht von der Poesie weg-, sondern erst recht zu ihr hingeführt." (St. Galler Tagblatt)
Leseprobe:
Nelli liegt im Bett, man sieht sie ruhig schlafen, halb zusammengerollt, wie ein Tier. Die Bettdecke ist auf den Boden gerutscht, ein weicher, noch etwas warmer Haufen. Es ist ihre Wärme, die darin steckt. Gleich wird sie aufwachen, weil ein neuer Tag angebrochen ist.
Sie ist 14 Jahre alt, 165 cm groß und 48 Kilo schwer, hat lange braune Haare, grüne Augen und ein Bauchnabelpiercing. Ihr weißer Arsch zeigt zum Fenster, vor das nachlässig die roten Vorhänge gezogen sind. Unten ein grüner Baum, ein Blumenbeet, eine Hecke, dahinter gleich die anderen Häuser, aufgereiht an einer kleinen, langen Straße.
Als sie erwacht, ist sie erschöpft. Sie überlegt, ob sie schlecht geträumt hat, erinnert sich aber an nichts. Sie streckt sich, bis sich ihre Glieder besser anfühlen. Dann lauscht sie in die Stille des Morgens. Die Mutter ist schon aus dem Haus. Sie wird vielleicht abends oder nachts heimkommen, wer weiß.
Nelli wird heute eine Entschuldigung schreiben für die Schule und die Unterschrift ihrer Mutter daruntersetzen. Sie versteht nicht, warum man einer Unterschrift glaubt: Es sind ein paar Zentimeter Farbe, mit einem Kugelschreiber aufs Papier gebracht. Und darauf war die Welt gebaut.
Sie geht ins Bad nebenan und steigt in die Dusche. Die Wassertropfen in der Wanne sind von ihrer Mutter, aber sie könnten auch von ihr selbst sein vom vorhergehenden Tag. Keine Ahnung, wie alt Tropfen werden. Sie lässt heißes Wasser über ihren Körper laufen, bis er sich allmählich rötet. Die Haut an den Fingerspitzen bleibt weiß und zieht sich zusammen. Wenn Nelli ihr Gesicht betastet, fühlt sie alte Hände. Sie nimmt den Brauskopf und richtet ihn wie eine Waffe gegen einzelne Körperteile. Das Wasser schießt heraus und trifft auf ihren Bauch. Der wird hart nach einer Weile, gefühllos, wie von einem anderen Menschen.
Nach dem Duschen rasiert sie sich. Sie hat keinen starken Haarwuchs, aber einmal in der Woche die Beine und die Muschi, unter den Armen weniger oft. Ob sie mit einem Jungen zusammen ist oder nicht, macht keinen Unterschied. Es ist ein Ritual, das dazugehört, und nun ist es soweit. Wachs kommt nicht in Frage, so viele machen das, aber es kommt nicht in Frage, für die Muschi schon gar nicht.
Zuerst sind die Beine dran, die brauchen Zeit, aber es ist nicht so schlimm, wenn man etwas falsch macht. Große, gleichmäßige Bewegungen, über die immer glatter werdende, noch etwas blasse Haut. Dann die Muschi einschäumen, einen Fuß auf den Badewannenrand, von unterhalb des Bauchnabels und vom Hintern kommend zuerst die größeren Flächen, dann langsam der Mitte zu, wo es gefährlich wird, ganz vorsichtig an der Spalte entlang, balancierend, und schließlich zurück in die Obhut der Schenkel und auf die weiten, glatten Flächen der Haut.
Sie fährt noch mit einem Roll-on in ihren Achselhöhlen herum, sie kontrolliert das Gesicht und trägt das Nötigste auf. In ihrem Zimmer schlüpft sie in einen rosaroten String und zieht eine blaue, enge, dünne Jeans ohne Gesäßtaschen darüber. Ein weißes, bauchfreies Shirt, schon ist sie fertig.
Mit einem Ruck zieht das Mädchen die Vorhänge ganz auf. In der Frühe hat es wohl noch geregnet, sie sieht die großen, hellen, fast rechteckigen Flecken, die von den parkenden Autos zurückgeblieben sind. Die Sonne kommt heraus, die Straße beginnt zu dampfen, die Flecken scheinen sich auszubreiten, die ganze Straße als heller, grauer Fleck, nur hier und da mit dem Schatten eines Baums.
Sie nimmt ihr Handy, keine SMS seit gestern Abend, bis auf eine von ihrer Freundin Sara. Sie simst zurück, jetzt fliegt die Nachricht durch die Luft, jetzt kommt sie an.
Dann fährt Nelli ihr Notebook hoch, schaut kurz in ihren Lieblingschat, als schlampe14, sie ist schon zwei Jahre dabei, damals hat sie sich den Nick geholt, der zum Glück noch frei war und der sie mit einem Schlag zwei Jahre älter gemacht hat. Zwei Jahre, die nun eingeholt sind. Sie geht auch mit anderen Nicks hinein, aber diesen mag sie am liebsten.
Ein Bot hat sie eben begrüßt, willkommen schlampe14. Am Anfang hat Nelli zurückgegrüßt, dann hat sie begriffen, dass es Maschinen sind. Der Bot ist zu schnell beim Grüßen, kaum taucht der Name im Raum auf, kommt die Begrüßung. Wenn man den Chat verlässt, wird man nicht verabschiedet. Man ist zu schnell für den Bot. Er kann das Verschwinden nicht voraussehen. Außer, er ist selbst für das Verschwinden verantwortlich. Dann sagt er etwas Böses und wirft einen hinaus.
Sie fängt mit einem Jungen eine Partie Schiffeversenken an, aber er geht, nachdem sie seinen Flugzeugträger gefunden hat. Sie klickt noch ein paar andere im Chat an, Jungen und Mädchen, Alterslose, Geschlechtslose, Unbekannte, aber alle sind beschäftigt, alle in den Dias, die die anderen nicht sehen.
meld dich später nochmals ok