Ein Gedicht zu später Stunde
Ausgezeichnet mit dem Preis des Literaturfestes Meißen 2024
Kollateralschädel verweist – mit konkretem Bezug auf das Wording der amerikanischen Regierung hinsichtlich ihrer Drohnenangriffe im Nahen Osten - auf die zivilen Opfer politischer und gesellschaftlicher Willkür. Die Opfer tauchen als zunächst blasse Konturen wechselnder Tagesnachrichten auf, mal entstammen sie der persönlichen Erinnerung, mal einem kollektiven Geschichtsbewusstsein. Die Erzählstimme problematisiert die Absurdität des eigenen Alltags im Spiegel ihres Weltwissens. Sie versucht die Unvereinbarkeit dessen, was gleichzeitig hier und dort geschieht, in eine gedankliche - also sprachliche - Form zu bringen. Der Erzähler bemüht sich um eine Identifikation mit den anonymen Opfern, gibt ihnen Namen und erprobt die Grenzen seiner Empathie, verfällt in radikale Selbstzweifel, sucht nach Trost, ohne dafür die Schonungslosigkeit gegenüber der eigenen Scham aufgeben zu wollen. Aus der Spannung von moralischem Anspruch, medialem Zynismus und alltäglichen Bedürfnissen ergibt sich der düster-ironisch-melancholische Ton des Textes, seine assoziativen Einschübe aus Newsflashs, Rückblenden und Gedankensplittern sowie die unmittelbare Mündlichkeit als Ausdruck eines Mitleidens, das sich vorgenommen hat, nicht abzustumpfen.
Benjamin Baumann wurde 1985 als jüngstes von vier Geschwistern in der westsächsischen Kleinstadt Rodewisch geboren. Er studierte ab 2005 an der TU Dresden Philosophie, Soziologie, Ev. Theologie und Germanistik, später an der FSU Jena schloss er einen Master of Arts in Angewandter Ethik mit einer Arbeit zur Normativität der Sprache innerhalb der philosophischen Theoriebildung ab. Baumann arbeitete in verschiedenen Brotjobs, etwa im Einzelhandel, als Pokerspieler oder Nachhilfelehrer. Als Arbeiterkind und sogenannter "Bildungsaufsteiger" beschäftigt er sich literarisch unter anderem mit den Phänomenen klassistischer Diskriminierung etwa im Online-Essay "Bärchenwurst & Lyrik" (Ferrar & Fields). Seit 2013 publiziert Baumann literarische Texte in Zeitschriften und Anthologien wie Die Novelle, Kritische Ausgabe, &radieschen, eXperimenta u.a. 2015 begann er, mit politischen Texten auf die Bühne zu gehen und gewann etliche Poetry Slams im deutschsprachigen Raum. Seit 2023 ist er Fellow bei Teach First Deutschland und engagiert sich für Bildungsgerechtigkeit unter anderem an der Lene-Voigt-Schule in Leipzig. Seine Texte kreisen um die Absurdität von Alltag und Weltwissen, Privatsorge und der Notwendigkeit sowie den Grenzen globaler Empathie.
Bisherige Veröffentlichungen:
- 2013: was es ist, in: Die Novelle. Zeitschrift für Experimentelles Nr. 1, 119, Bonn.
- 2015: Kaffee oder Tee oder beides, in: &radieschen. Zeitschrift für Literatur Nr. 36, 30-31, Wien.
- 2016: Vom Vater, in: Lars Ruppel (Hrsg.): Geblitzdingst. Slam Poetry über Demenz, 56-60, Berlin.
- 2016: Long poem, in: Rüdiger Heins & Mario Andreotti (Hrsg.): eXperimenta. Magazin für Literatur, Kunst und Gesellschaft, 2/2016: Arbeitswelt, 18-29, Edition Maya: Bingen [online abrufbar unter: https://experimenta.de/archiv/2016/experimenta-02_16_Februar_ES.pdf].
- 2016: Clausnitzer Demokratie in drei Akten, in: Rüdiger Heins & Mario Andreotti (Hrsg.): eXperimenta. Magazin für Literatur, Kunst und Gesellschaft, 4/2016: Analogie, 40-42, Edition Maya: Bingen (online abrufbar unter: https://experimenta.de/archiv/2016/experimenta-04_16_April_ES.pdf].
- 2017: Politische Logik / Bücherverbrennung / 1492-2016, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik und Literatur, Nr. 31 Untergrund, 88, 92 & 103, Bonn.
- 2018: Nach Auschwitz, in: Rüdiger Heins & Mario Andreotti (Hrsg.): eXperimenta, Magazin für Literatur, Kunst und Gesellschaft, 2/2018: Die Kunst des Vergessens, 26-30, Edition Maya: Bingen [online abrufbar unter: https://d-nb.info/1197160086/34].
- 2021: Es war still, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik und Literatur, Nr. 32 Macht, Bonn.
- 2021: Bärchenwurst, Kunst & Klassismus. Ein Essay aus dem Prekariat, in: Ferrar&Fields Mag. Bilingual Magazine for Art, Society & Politics, Online-Artikel vom 12.12. 2021 abrufbar unter: https://ferrarsundfields.de/2021/12/12/baerchenwurst-kunst-klassismus-ein-essay-aus-dem-prekariat/.
- 2022: Ende, in: Norbert Weiß (Hrsg.): Signum. Blätter für Literatur und Kritik, 23. Jg. Heft 1 2022, S. 115f., Dresden.
- 2023: Man stelle sich vor, in: Lyrikmond (online), achter Lyrikmond-Wettbewerb (1.Preis): www.lyrikmond.de/gedichte-thema-15-225.php#2949.
- 2023: hagerer Freund, in: Rüdiger Heins (Hrsg.): 365 Tage Liebe, Edition Maya: Bingen.
Kapitel I
Das Gewicht der Stille
Kapitel II
in einem Raum den es nicht gibt
Kapitel III
Rastplatzurinale
Kapitel IV
Die Fabrik durch ein Guckloch betrachtet
Kapitel V
biografisch bedingt. aus aktuellem Anlass
Kapitel VI
Das Ende der Lyrik
Einführung in die folgenden Kapitel
Sollte in den folgenden Kapiteln
#dieAbsichtwokezusein
Die ästhetischen Qualitätskriterien
gelingender Lyrik
überwuchern
Bitte ich alle #Jurymitgliederdeutscherlyrikwettbewerbe
um Verzeihung (Grüße an Max C.)
Es ist nach wie vor unmöglich
über Opfer zu schreiben
ohne Täter zu werden
Ich mache die Opfer erneut zu Opfern
indem ich das sage
Indem ich schreibe
schreie ich nicht
Indem ich schreibe
spreche ich nicht mit den Worten der Opfer
Indem ich euch etwas sage
rede ich mit den falschen
Indem ich so tue als ob
stelle ich mich auf die Gräber der Opfer
Ich könnte mich auch daneben stellen
und das wäre allemal besser
Aber es ist kein Platz mehr
auf den ausverkauften Friedhöfen der Welt
Hier ruht ein Kollateralschaden
Der Friedensbemühungen der freien Welt
1
Immer öfter am Abend
denke ich
an all die Menschen
in Afghanistan Syrien Libyen
die ihr Telefon nehmen
um ihre Familie anzurufen
um deren Stimmen zu hören
und dann hören
Das ist die Mailbox von
Das ist die Mailbox von
Das ist die Mailbox von
Es dauert ein paar Sekunden
Eine Welt auszulöschen
Dann verschwindet der Anblick
Der nächsten Wesen
Ich spüre
wie sich meine Trauer verliert
im Licht des Tages
im Verkehrslärm
im Applaus
Meine verlorene Trauer macht mich wütend
Sie schauen wie drei Tage Regenwetter
sagt der Mensch
der die Heizung repariert
Verzeihung,
ich denke gerade an ein irakisches Mädchen,
das vor den Augen ihrer Mutter zu Staub zerfiel,
als wir den Terror bekämpften,
ich denke an den Mann aus Caracas,
von dem man noch ein Bild machen konnte,
bevor er verhungerte.
Das verstehe ich
Sagt der Heizungsmensch
Daran musste ich auch gerade denken
2
besser bekannt als Beduinen
Bidun dürfen kein Eigentum erwerben
Bidun dürfen keinen Führerschein erwerben
Bidun dürfen keine Schule besuchen
Bidun dürfen nicht standesamtlich heiraten
Bidun dürfen keine Krankenversicherung abschließen
Der Bidunstatus wird vererbt
Bidun dürfen nicht zur Schule gehen
Denn sie sind Bidun
Bidun müssen arm bleiben
Denn sie sind ungebildet und gehen nicht zur Schule
Bidun sollen krank werden
Denn sie sind arm und besitzen nicht einmal einen Führerschein
Bidun dürfen nicht heiraten
Denn sie sind krank und besitzen keine Krankenversicherung
Bidun leben von der Luft
Die sie für uns sind
Sollen sie doch von der Luft leben
So wie wir ja auch manchmal von der Luft leben
Sollen sie doch Luft werden
So wie wir ja auch manchmal Luft geworden sind
ein sanfter Wind weht über die Wüste
und gelb dröhnt ihr Schweigen
entlang der fahlen Dünengräber
Ich nippe am heißkalten Ring der sich
um den Geschmack des Morgens zieht
Endlich erscheinen
Gott
und die Welt
mit dem ersten Schluck
des Tages
ein Kaleidoskop aus Gut und Böse
in dem Sonnenfetzen
schimmern
runde Lichtspiegel tanzen
weiße Kugeln bilden
ersten Schaum
vor meinem Mund
ein Jahr Krieg
und keine Sieger
3
Am Ende des Tunnels
Am Ende des Tunnels
Solange wir leben
Brennt das Licht
Bis zur Nacht in der er
In seinem Blut lag
pflegte mein Vater nachts
nachdem er sich betrunken hatte
vielfach zur Toilette zu stürmen
um dort den Rest seiner Würde
hinunterzuspülen
Dabei geriet er aus dem Gleichgewicht
das er schon oft verloren hatte
stürzte die steinerne Treppe kopfüber
bis zu ihrem Ende und
lag
nicht einmal röchelnd
eher schlafend
am Boden
weil er so betäubt war
dass ihn nichts mehr hielt
Sie holten ihn ab
Und ich betete am Gartentor
er möge überleben
ohne zu wissen warum
Jetzt noch nicht
murmelte ich
ohne Überzeugung
Eigentlich wäre sein Tod
keine große Sache gewesen
er war schon seit geraumer Zeit
kaum noch lebendig
Aber ich redete mir ein
Ich könne es nochmal versuchen
mit ihm
Natürlich wurde daraus nichts
als er dann überlebte und
wir mündeten ein
ins Schweigen
Irgendwann wenige Jahre später
Klingelte dann das Telefon
dein Vater ist tot
4
Ich machte schon seit einiger Zeit nichts mehr.
Ich spielte Klavier und betrachtete die Zimmerdecke.
Ich trank Kaffee.
Ich beobachtete den Dampf über der Tasse.
Wie er tanzte.
Ich schwang ein wenig mit.
Dann setzte ich mir einen Kaffee auf, damit der Tag nicht endete.
Irgendwann war mein Kopf voller Nebel und ich schlief ein.
Am Morgen setzte ich mir einen Kaffee auf, damit er Tag begann.
Natürlich empfand ich Sehnsucht.
Aber wie ich sollte ich diese Sehnsucht beschreiben.
Sehnsucht sollte man nicht beschreiben.
Das vertreibt sie.
Und was dann übrigbleibt, ist ohne Sehnsucht.
Und ohne Sehnsucht lässt sich nicht leben.
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