Erzählungen
Mit Tuschzeichnungen von Susanne Schüffel
eBook im zitierfähigen pdf-Format
„Die schöne Jugendzeit“ vereint Erzählungen, die zwischen 1986 und 2019 entstanden. Es sind Geschichten von Frauen und ihrem Miteinander, aber auch die der Männer, die ihnen verbunden sind. Frühe Verletzungen, die Suche nach Eigenständigkeit und die Lust am Leben bestimmen ihren Weg von den späten achtziger Jahren in der DDR bis in die Gegenwart.
Katja Winkler: 1960 geboren in Berlin, Germanistik-Studium in Leipzig, Arbeit als Dramaturgin und Mitarbeiterin in Literatur- und Theaterprojekten. Seit 2004 Sprachlehrerin in Integrationskursen. Zahlreiche Veröffentlichungen von Gedichten und Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Textfassungen für das off-Theater. Mehrmalige Förderung durch die Stiftung Kulturfonds und den Berliner Senat. Im LLV bereits erschienen: "Die besten Jahre" (Gedichte).
Susanne Schüffel: geboren 1967 in Berlin, pädagogische Ausbildung, Studium an der Kunsthochschule, Berlin-Weißensee bei Dieter Goltzsche und Werner Liebmann, Diplom, Meisterschülerin bei Werner Liebmann, diverse Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen, lebt und arbeitet in Berlin. www.susanne-schueffel.de
Leseprobe:
aus: "Pappelallee"
Marina steht an einer Kreuzung, wie es sie bei ihr zu Hause im Vorort nicht gibt. Ein Bahnhof thront über ihr und gibt der Kreuzung ein Dach, darunter ein Gewirr aus Straßen und Schienen, denn da unten fährt auch die Straßenbahn, gerade quält sich eine um die Ecke, während oben in den Bahnhof eine U-Bahn einfährt. Aber sie sieht nur den Himmel, der blauweiß und gelb flirrt, und die braune Häuserwand, aus der sie vor ein paar Minuten heraus getreten ist. Ich muss jetzt meine Mutter anrufen, denkt sie und kramt in ihrem Beutel.
„Rina? Wo bist du denn?“
„Ich komme jetzt nach Hause.“
Marina hört die Stimme der Mutter und denkt, komisch, sie klingt gar nicht besorgt, ich bin gerade das erste Mal nachts nicht nach Hause gekommen! Dann ist das Zwanzig-Pfennig-Stück klimpernd durchgerutscht, und ihr Hochgefühl versickert. Die Morgenluft verliert an Frische. Marina hört plötzlich das Brausen und Donnern der Hochbahn und die Straßenbahn, die über die Kreuzung rattert und in der Kurve kreischt.
Im Jazzklub hat sie den ganzen Abend an der Mauer hinter den Zuschauerbänken gelehnt und nur ab und zu das Standbein gewechselt, bis ihr der Rücken weh tat. Schon lange hatte sie den Mann bemerkt, der sie immer wieder anschaute. Als sie sich erschöpft endlich doch hinsetzte, die letzten Gäste standen an der Theke oder waren dabei zu gehen, setzte er sich neben sie. Sie fürchtete sich vor der Frage und schämte sich, als sie sagte, dass sie noch zur Schule geht. Sie sah, dass er zögerte, oder bildete sie sich das nur ein? Er brachte ihr noch ein Bier vom Tresen mit.
Wie sich alles in wenigen Monaten verkehrt hat! Seit Leo sie für Doreen verlassen hat, geht sie immer wieder allein in den Klub, aber noch nie hat sie jemand angesprochen.
Vor einem halben Jahr lag sie noch mit Leo auf ihrem Bett. Ihre Erregung brach sich in Wellen Bahn, immer höher und höher, bis sie beide innehielten, und der Sturm in ihren Eingeweiden sich wieder legte. Einmal klopfte die Mutter und rüttelte an der verschlossenen Tür. Marina hielt die Luft an, dann rief sie, „was ist denn“? Da hatte die Mutter schon verstanden und war wieder abwärts gelaufen. Sie hörten ihre Schritte klappern bis zum Treppenabsatz und der Zwischentür, dann pressten sie sich wieder aneinander und streichelten und liebkosten sich. Aber das eine taten sie nicht, das, was ihnen noch zu ungeheuerlich zu sein schien und ihr Angst machte. Bis Leo sie verließ.
Marina kneift die Augen zusammen. Das helle Licht blendet sie unvermittelt, als sie über die Kreuzung geht. Der warme Wind bläht ihren Rock, die Streublümchen auf dem graublauen Stoff zittern. Wenn die anderen aus der Klasse sie jetzt sehen könnten! Jeden Tag hat Marina die Frischverliebten vor Augen, ihr Händchenhalten unter der Bank, die Küsse, ihr Lachen. Leo und Doreen sind in ihrer Klasse, Marina kann ihnen nicht ausweichen, nur so tun, als sehe sie nicht ihr Glück und das Mitleid der anderen.
Sie fährt mit der U-Bahn, zuerst ein kurzes Stück im gleißenden Sonnenlicht, dann im Tunnel. Als sie umsteigt und sich in den unterirdischen Gängen verläuft, bekommt sie Angst. In der S-Bahn sucht sie in ihrem Beutel nach dem Zettel, auf dem sie seine Adresse vermerkt hat, Albert Nast, Pappelallee 4. Sieht ihr die Frau auf dem Platz gegenüber an, woher sie kommt? Sie schaut aus dem Fenster. Marina sieht ein blasses Gesicht in der Scheibe. Bin ich das? Was für ein Gefühl, ein Luftballon zu sein, der immer höher fliegt, oder nein, eine Seglerin, die an unbekannten Ufern gelandet ist, stolz und müde.
Als sie zu Hause ankommt, geht sie schnell in ihr Zimmer unterm Dach, die Mutter hat sie nur kurz begrüßt und angelächelt. Sie setzt sich vor den Schreibtisch am Fenster und schreibt ein Gedicht. Es handelt von einem Gefäß aus Ton, das im Feuer gebrannt und gehärtet wird und dabei zerbricht. Das wird sie ihm schicken. Ob er es gelten lassen wird? Es ist nicht ihr erstes Gedicht. Dann klopft es an der Heizung. Sie geht nach unten. Die Mutter hat Eierkuchen gebacken, sie setzen sich und essen. Marina erzählt ein bisschen. Dass er Regie studieren möchte und gerade erst aus Dresden hierher gekommen ist, dass er sich am Theater vorgestellt und prompt die Stelle bekommen hat, die er wollte, eine Assistenz.
Die Mutter sieht ihre Tochter an und denkt, wo habe ich eigentlich das Bernsteinarmband, das mir – wie hieß er noch – geschenkt hat? Sie hat es, seitdem sie verheiratet ist, nicht mehr getragen. Das ist nun schon so lange her, mein erster Liebhaber. Er war so enttäuscht und wütend, als ich nicht mitkommen wollte in den Westen. Aber was sollte ich denn machen, meine Mutter war hier, mein Vater bei der Staatsbank, es war sein Verlobungsgeschenk, ich werde es Rina schenken. Sie räumen zusammen den Tisch ab. Die Mutter wedelt die Tischdecke aus dem Verandafenster und denkt, Rina sieht blass aus. Hoffentlich geht es diesmal gut.
Marina ist froh, als sie wieder allein ist. Sie schreibt das Gedicht noch einmal ab und adressiert den Brief an ihn. Dann sitzt sie da und hört die Schwalben über dem Karree der Gärten zwitschern. Sie stellt sich an die Gaube und sieht über die Wipfel der Bäume hinweg in den Himmel. Der Schwarm dreht unermüdlich seine Runden. Acht Wochen Ferien liegen jetzt vor ihr. Marina denkt an Leo. Er ist mit einem Freund in Prag. Sie fühlt sich plötzlich wie betäubt. Als hätte ihr jemand das Ruder aus der Hand gerissen und sie vom Boot gestoßen, mit dem sie eben noch auf großer Fahrt war.
Am Abend kommt der Vater von der Arbeit nach Hause. Nach dem Essen fahren sie alle drei baden. Sie schwimmen bis zu den Bojen, die für die Ruderer ausgelegt sind. Der Vater mustert seine Tochter, als sie aus dem Wasser steigt. Hat sie wieder jemanden gefunden? Dieser Leo war doch nichts für sie mit seinen hochtrabenden Reden. Der Vater taucht noch mal die Füße ins Wasser, ehe er die Sandalen anzieht. Der hat ihr doch bloß Flöhe ins Ohr gesetzt, Japanologie studieren! Sie radeln durch den Wald zurück und trinken noch etwas im Gartenlokal.
Als Marina im Bett unter der Schräge liegt, denkt sie an Albert. Sie war so stumm! Als er fragte, wie sie die Musik fand, fiel ihr gar nichts ein. Er kannte sich aus mit Jazz und plauderte über ihr Schweigen hinweg, sie nippte an ihrem Bier. Dann lief sie neben ihm her und war froh, nichts mehr sagen zu müssen. Sie genoss das Gehen über die vierspurige Straße zum Alex und später den Berg hoch. Ihr wehte der Wind um den Leib, eine laue Nacht, dann bog er in das Haustor ein, und sie gingen über zwei Höfe und im letzten Hinterhaus die Treppe zu seiner Wohnung hoch.
Etwas lässt sie nicht schlafen. Sie steht wieder auf und nimmt sich Papier und Stift. Sie schreibt: mein erstes mal. ein ruck, ein schmerz / ein letztes wiedersehen. ein brennen, ach / auf nimmer wiedersehen / mein zweites mal: ein krampf, ein kampf / ein auswegloser / was ist bloß geschehen.
Sie legt sich wieder ins Bett und kann doch immer noch nicht einschlafen.
Als Leo in sie eindrang, hat sie nur ein Brennen gespürt. Aber sie hatte es gewollt, und er machte mit. Es war das letzte Mal, dass Leo bei ihr oben im Zimmer unterm Dach war. Sie hatte nur gedacht, das ist nun alles, so schnell und sonst nichts? Sie hatten sich wieder angezogen, und die Fremdheit war endgültig zwischen sie getreten. Zwei Wochen vorher hatte er gesagt, dass er sie verlassen würde, weil er sich in Doreen verliebt hätte. Da hatte sie ihren Körper wie ein Pfand eingesetzt.
Umsonst, es war völlig umsonst. Und ich habe mir dafür extra die Pille verschreiben lassen.
Die Frauenärztin hatte ihr zuerst erklärt, was es noch für Möglichkeiten gäbe zu verhüten, und dann zu ihr gesagt, als sie auf dem Stuhl lag und sich schämte, „aber Sie hatten doch schon Verkehr!“
Nein, denkt Marina, nein!
Die Ärztin hatte abschätzig gelächelt und ihr das Rezept mit spitzen Fingern über den Tisch gereicht.
Nie wieder gehe ich zu der, nie wieder!