Roman
Tag um Tag schreibe ich in meine Hefte, tetrad, anfangs nur russische Wörter, Sätze aus dem Lehrbuch, bald auch deutsche, Hilferufe, Wünsche, auch Aufzeichnungen. Nur kurze. Zwischen den kyrillischen Buchstaben mehren sich die Eintragungen, Treibsand gegen die Wellen, kleine Inseln, inmitten einer Buchstabenflut. Es ist ein Halt in meinem treibenden Tag, ein Vermessen fremden Gewässers, es sind Marken, wie um einen Weg zurückzufinden. Teile von mir, die ich später nicht mehr anschauen mag. Hefte ohne Inhalt, dennoch vollgeschrieben. Hefte für eine Erinnerung, die mich nicht mehr erreicht.
Markus Sahr: geb. 1962 in Mainz, Studium der Allgemeinen Rhetorik, Neueren Deutschen Literatur sowie Älterer Deutscher Sprache bei Walter Jens in Tübingen und in Berlin, Hospitanz an der „Theatermanufaktur am Halleschen Ufer“, an der „Freien Volksbühne“ in Berlin und beim „Südwestfunk“ in Tübingen, freie Mitarbeit beim „Tagesspiegel“, der „Jungen Welt“ und dem „Freitag“, Deutschlehrer in Lissabon (1996-1999) und Bristol (1999-2001), lebt seit 2002 in Leipzig
Taschkenter Hefte oder Die Liebe in Zeiten unaussprechlicher Erwartungen
Ralf Julke, L-IZ
⇒ www.l-iz.de/Bildung/Bücher/2011/12/Markus-Sahr-Taschkenter-Hefte-40338.html
Leseprobe:
Das glühende Licht vor der Markthalle draußen ergoß sich weit über die Stände, über die Reihen der Zelte und Händler, bis zu den Türmen, den Kuppeln wie aus silbernem Schildpatt. Es war ein riesiger Platz, ein Feld fast, auf dem die Verkaufsstände sich ausbreiteten, niedrig, über dem Boden, ein paar ausgetretene Stufen weiter unten. Über alles schweifte der Blick ungehindert, fing sich in einzelnen Farben, geknüpft wie in einem Teppich, aufgehalten erst von den Klinkern der mit Leben wieder erfüllten Medrese. In noch größerer Ferne, in anderer Richtung ein paar schlank aufragende Türme, weitere Kuppeln. Dort lag das Gelände der Altstadt, waren Häuser aus Lehm, enge, staubige Gassen. Es war Ende November, die Luft warm.
Die Fäden in der Hand
Du liegst im Bett, schläfst, bist von Jerome zurück. Dein Gesicht hat etwas Seliges, verzeih, wenn ich es schreibe. Ein Engel, denke ich, wenn ich es anschaue. Die Züge klar, entspannt, freudig. Die Haut ganz glatt, der Atem ruhig. Ich wende mich ab, gehe in die Küche. Ich will dich nicht anschauen, beobachten wie eine Fremde. Das Bild bleibt in mir, es verläßt mich nicht in den kommenden Wochen. Ich sage dir das von dem Engel. Freudig entgegnest du, Aber das bin ich nicht.
Erstmals lese ich deinen vollständigen Namen. Regina Veronika. Bislang hast du den Zweitnamen verschwiegen. Veronika. Vera ikon. Das wahre Bild.
Ich stehe neben dir am Schalter der Flughafengesellschaft, unsere Beschwerden werden notiert, die Verspätung von dreizehn Stunden. Wir erhalten einen Gutschein für die Fahrt ins Hotel, einen weiteren für die Übernachtung, einen dritten als Zuschuß für die Verpflegung. Im Abstand, immer im Abstand, Jerome und Freundin, die kleine Tochter. Stets sind sie uns um ein paar Meter voraus, beim Einchecken, im selben Flugzeug, später im Hotel, ein paar Meter, nicht weit genug, um sie aus dem Blick zu verlieren. Aus den Augen, aus dem Sinn. Vera ikon. Das wahre Bild.
Du hältst alle Fäden in der Hand, sage ich zu dir in der dritten Nacht, Du auch, sagst du, Du hältst auch alle Fäden in der Hand, doch du gebrauchst es nur, um mir ein Bein zu stellen.
Da hast du wahrscheinlich noch geglaubt, daß du die Fäden ausein-anderhalten könntest, zwei sauber getrennte Geschichten. Der Austausch hier, die Zärtlichkeit dort. Mein bester Freund ist in Taschkent, mit dem ich mich austauschen kann, aber es ist nicht Karl, ich auf dem Gang zur Toilette, nachts um halb drei. Ich höre deine Stimme, Geh weiter, denke ich, bleibe nicht stehen, nicht lauschen, Jeden Tag stellt er wieder alles in Frage, deine Stimme am Telefon, Jetzt ist es keine Probezeit mehr. Wenn es wirklich nur das war, warum ist es dann so rasch gescheitert? Du sprachst von Belagerung, von Lauschen. Ich hatte keinen Raum, ich konnte nur belagern. Der Platz im Bett war mein Raum. Der Platz in der Küche. Ein Platz, wenn du nicht da warst. Wir haben nichts geteilt, nichts aufgebaut, kein Heim geschaffen. Wolltest du es nicht? Konnte ich es nicht? Wir waren doch frei.
Philemon und Baucis
Die hellblaue Wand des Treppenhauses. Die zerbrochenen Fliesen. Die Zigarettenstummel. Die Mülltüten, aufgeplatzt. Niemanden schien es zu kümmern. Der bärtige Mann mit dem stumpfen Blick, jung noch, an den Mülltonnen. Er umstrich sie. Ausdruckslosen Gesichts stand er da, wenn ich mit den Mülltüten kam. Erwiderte den Gruß nicht, wandte sich ab. Die beiden Alten, die auf einem Stück Erde neben dem Haus ihren winzigen Garten anbauten. Fast nur ein Erdloch. Wie oft sah ich sie umgraben, harken. Ein Bretterverschlag unter Lehm, Erde oder Dachpappe, den kleinen Hang hinab. Vor ihm standen sie, gruben, harkten. Ein Tuch um den Kopf, einen Hut auf dem Kopf. Sie als einzige grüßten. Beinahe freute ich mich, sie zu sehen, grüßte zuerst. Mein bescheidenes Russisch. Du sprachst es fließend, fürchtetest, ich könne dich einholen, dir den Rang ablaufen. Nicht einmal richtig bestellen konnte ich. Nicht einmal anrufen in der Nacht, in der du zum ersten Mal wegbliebst. Hilflos war ich. In allem angewiesen auf dich.
Ich bin immer gern neben dir gegangen. Gleich wo. Es hatte etwas Festliches, Kräftigendes. Wie fehlende Teile, beieinander. Ich bin dir auch gerne gefolgt, habe gern Neues mit dir gesehen. Eine Aussicht, und sei es von einem verregneten Berg inmitten der Stadt. Hinunter, auf deine Stadt. In der du lebtest, gearbeitet hattest, ehe du arbeitslos wurdest. Du zeigtest sie mir, auf langen Fußwegen, eine Geste hinauf zur Kathedrale, zu einem Verbindungsweg zwischen zwei Türmen, auf dem du das Jahr begonnen hattest. Zeigtest sie mir, zu Fuß aus der Stadt, in eine grüne Umgebung. Zwischen dem Regen saßen wir, du auf einem Baumstumpf, ich auf einer ausgebreiteten Jacke, auf der Erde, sahen in den Himmel. Kurz, immer nur wenige Tage. Mal ich ein paar Tage bei dir, mal du für eine knappe Woche bei mir. Zwischen den Zügen, dem Intercityexpress. Ich holte dich ab, in ein paar Tagen würde ich dich zurückbegleiten. Vom Bahnhof zum Bahnhof.
Einmal bist du wieder aus der Zugtür gesprungen. Ich stand auf der Plattform, du auf den Stufen des in Minuten fahrenden Zugs. Unsere Blicke hingen aneinander, du schautest immer verzweifelter, ich versuchte, dich zu ermuntern, nickte in deine Richtung, da sprangst du die Stufen wieder hinunter, den kleinen Rucksack auf dem Rükken, rechtzeitig, ehe die Türen sich schlossen. Wir hatten uns für einen weiteren Abend, eine weitere Nacht.
Wie oft muß ich die Nacht noch bei Jerome verbringen, bis du begreifst, daß es aus ist? Wie oft muß ich dich hintergehen, ehe deine Liebe endet?
Du machst es mir schwer, mit deinem großen Herzen, von dir freizukommen.
Ich bin gern neben dir gegangen, auch hier, in der Stadt, die eigentlich deine ist, du bist hier geboren. Schön war es, mit dir zu meiner Wohnung zu gehen. Du kanntest den Weg schon beim zweiten oder dritten Mal. Mochtest die Brücke, bliebst oft auf ihr stehen. Die Spinnen im nächtlichen Licht in der Stahlkonstruktion. Weiße Gespinste, ein brauner Leib in der Mitte. Regungslos manche, andere die Beine bewegend, kleine Tentakel. In den Gespinsten Myriaden von Mücken. Unter dir der dunkle Fluß, deine Hand auf das Geländer gestützt. Wenn du zu mir kamst, war es, als schließe sich meine Welt, als wärst auch du hier zu Hause, als wärst du es, die mich mitnehmen würde. Ich bin gerne neben dir gegangen.
Ich habe gerne neben dir gesessen. Auf der Bank, die du mir zeigtest, außerhalb deiner Stadt. Zwischen den Steinhäusern, den Höfen. Weideland, abgezäunt, wir saßen vor einer Hecke. Sonnten uns. Du lehntest dich an mich. Die Luft war kalt, klar. So saßen wir eine Weile, eine kleine Ewigkeit. Hingeschmiegt an den Stadtrand, ein Teil dieser Bank, am Wegrand. Am Rand.
Verklärst du es nicht? Machst du es nicht im nachhinein schöner, als es war?
Ich war gerne bei dir, in deinem Zimmer, der Wohnung. Noch deine Küche war ein Stück Heimat. Der Blick aus dem Fenster, die Kuppel über den gegenüberliegenden Häusern, der rote Stein, die Bilder deiner Neffen, ihre Zeichnungen an der Wand, dir gewidmet. Ein farbiger Junge auf einer Postkarte des Hamburger Hafens schien mir immer ein Foto, das du selbst gemacht hattest, das Foto eines früheren Freundes. Ich traute mich nicht, dich nach ihm zu fragen. So schön fand ich den Jungen, derart liebenswürdig sein Lächeln. Das dir galt, wie ich dachte.