Erzählungen
Immer wartet jemand. Wir alle warten. Wir warten auf den Bus, den Flieger, wir warten auf Antwort, Lob und Zuneigung. In der Erzählung "Das Zimmer" wartet eine Frau. Sie wartet auf den Geliebten. Aber wo? Sie wartet in einem "vernachlässigten Haus". Und zieht sich im Zimmer aus, wo es nur einen Stuhl und eine Matratze gibt. Der Mann aber, auf den sie wartet, wird nicht kommen. Sie bleibt allein. Sie weiß das. Es gibt keine Illusionen. Das Ende einer Beziehung. Ein leerer Raum in einem abbruchreifen Haus. Hier haben sie sich geliebt. Als könnte die Liebe die Umwelt ändern, als wäre Liebe unfähig, die Vernachlässigung zu akzeptieren, verwandelt sich das schäbige Zimmer in ein Paradies. In Pfammatters Momentaufnahmen, die eine göttliche Komödie weiterschreiben, öffnen sich die Geschichten durch Beiläufiges: Das letzte Rendezvous im vernachlässigten Haus, dieses Warten wird zu einem ganzen Leben. Ein heruntergekommenes Haus ist, was es ist. Eine kaputte Beziehung ist, was sie ist. Das weiß Pfammatter, das weiß die Wartende. Aber sie gestaltet die Liebe nach der Liebe, sie gestaltet - nicht anders als wir auch - nicht zuletzt die Sprache, der wir die Erinnerung verdanken.
Christine Pfammatter: geb. 1969 in Leuk-Stadt, Schweiz, lebt in Berlin, Studium der Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte in Bern und Fribourg, Veröffentlichungen in manuskripte, entwürfe, ndl, Nord Sud Passage, in der Anthologie Natürlich die Schweizer! u.a., Arbeitsstipendien der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Berlin, der Dürr-Stiftung, Elba, und Chretzeturm, Stein am Rhein
Geerdet
Neue Zürcher Zeitung
⇒ www.nzz.ch/magazin/buchrezensionen/geerdet_1.16724950.html
Leseprobe:
Das Zimmer
Es gibt ein Zimmer. Es ist in einem vernachlässigten Haus. Das Haus trägt Abzeichen. Parolen und Sterne wie Medaillen einer schäbigen Uniform. Hier leben Veteranen. Sie sind jung. Die Zukunft hat für sie keine Bedeutung.
Das Haus ist mit Brettern umzäunt, ein Eisenbett, das quietscht, dient als Tor. Ich stosse es auf. Die Federn spannen sich und es prallt zurück. Ich gehe über den Hof. Über nackten Boden. Ich laufe hastig und gespannt. Eine hagere Gestalt mit grell gefärbten Haaren überquert den Platz. Sie verschwindet in einem der Wohnwagen. Hoffentlich ist er noch da. Bei diesen Menschen weiss man nie. Eines Tages sind sie einfach weg.
Unvermittelt tauchen zwei Hunde auf. Sie kämpfen um einen Knochen. Ich gehe ihnen aus dem Weg. Der Knochen fällt in eine Pfütze, die Hunde stürzen sich auf ihn, Wasser spritzt und klatscht auf die Strümpfe. Ich bücke mich, streiche den Rock glatt. Und zwinge mich, Schritt für Schritt, an den Hunden vorbei. Ich hasse sie und den Gestank ihres Felles.
Träge Mittagshitze füllt die Luft. Bierflaschen liegen in einer Mulde, eine zerquetschte Dose blinkt in der Sonne. Unweit davon die Feuerstelle mit den Resten der Nacht. Kalte Asche. Der Geruch von verbranntem Plastik. Ich gehe weiter und stolpere über ein Holzbrett, auf dem mehrere, kaum angefangene Flaschen stehen, Kegelfiguren, bereit, jederzeit umzufallen. Ein schwarzer, gläserner Fleck breitet sich aus. Sofort bücke ich mich und stelle die Flasche wieder hin, möglich, dass jemand sich nur hinter einem Busch entleeren musste. Ich schaue mich um. Erleichtert stelle ich fest, dass mich niemand gesehen hat.
Aus dem Wohnwagen neben dem Autowrack dröhnt Musik. Ich klopfe und drehe mich hastig um. Die Augen huschen über den Platz. Ich warte und klopfe fester. Der Wagen bewegt sich. Die Tür geht auf. Der Junge mit der durchlöcherten Oberlippe. Ich strecke ihm Geld entgegen. Er lässt es in seiner Lederjacke verschwinden und drängt sich an mir vorbei. Ich weiche zur Seite und schaue ihm nach.
Dann gehe ich zum Haus. Die Mauer hat Lücken. Über dem Türpfosten die Warze. Ein grosses A, schwarz und eingekreist. Der Buchstabe steht auf schwachen Beinen, Stelzen, die allein der Kreis hindert, auseinanderzufallen. Ein Zeichen, dessen Bedeutung nirgendwo zu finden ist. Buchstaben, Begriffe und Ideen verkümmern. Sie verlottern und verwaisen wie alles.
Im Treppenhaus riecht es nach Urin. Ich gehe den Flur entlang und öffne die letzte Tür. Im Zimmer hat sich nichts verändert. Am Boden liegt die Matratze, vorne am Fenster steht der Stuhl. Der Baum im Hof hält das Licht zurück. Es ist kühl und dunkel. Ich gehe zum Fenster und schaue hinaus. Nichts tut sich. Ich setze mich auf den Stuhl und warte. Gelegentlich streiche ich den Rock glatt oder fahre mit der Hand über die Knie und Strümpfe. Und fasse mich am Handgelenk. Die Uhr ist da, aber ich will sie nicht benutzen. Noch hat sich die Türe nicht bewegt. Ich stehe auf und gehe hin und her. Ausser den Hunden ist nichts zu hören. Eine Brise kommt auf und lässt den Baum vor dem Fenster zittern. Seine Äste sind breit und berühren die Fassade. Niemand kümmert sich um das Grün. Wildwuchs beherrscht diese Stadt. Wiesen versanden. Bäume und Sträucher verwildern. Büsche und Hecken.
Es ist spät. Sie nimmt den Stuhl und stellt ihn neben den Eingang. Auf diesen Stuhl legen sie ihre Kleider. Und die Matratze wird zu Moos, das Zimmer zum Meer. Das Zimmer, in das er kommt. Im Treppenhaus ist es still. Unruhe ergreift sie. Sie zwingt sich, sitzenzubleiben. Ich werde nicht hin- und hergehen. Nur Tiere im Zoo drehen sich um sich selbst und machen sich verrückt. Sie beginnt zu weinen. Sieht wie Tränen auf den Boden tropfen.
Sie hört ein Geräusch im Flur. Doch die Türe geht nicht auf. Sie steht am Fenster und weiss plötzlich, dass er nicht kommt. Er wird nie mehr kommen. Es ist vorbei. Sie dreht sich um, geht im Kreis, sie muss jetzt gehen. Sie will sich an der Decke festhalten, an den Wänden, am Boden. Arme und Hände in der Ecke. Sie muss jetzt gehen. Es ist dunkel. Sie geht zur Tür, greift nach dem Stuhl und stellt ihn zurück. Auf diesen Stuhl legten sie ihre Kleider. Und die Matratze am Boden wurde zu Moos. Und das Zimmer zum Meer. Und das Dämmerlicht wurde hell. Und die Brise trug Salz herein. Gleissen und glitzern. Die Bäume bewegten sich. Rascheln und zittern. Die Äste wogten, wurden zu Palmen und schrieben in den Himmel mit japanischem Pinsel, immer. Das Meer rauschte im Zimmer.
Sie öffnet das Fenster, Wasser soll sich ergiessen und alles überfluten. Denn das Meer lag hier, in diesem Zimmer. Sie geht hinaus, geht, ohne die Türe hinter sich zuzumachen. Draussen brennt ein Feuer. Der Abend ist mild. Auf der Strasse gehen die Lichter an. Sie geht an der Fabrik vorbei, dann an der Tankstelle. Die Strasse geht immer geradeaus. Niemand ist zu sehen. Das ist der Vorteil dieser Stadt, dass alles immer geradeaus geht. Manche Strassen hören nie auf.
Der Nachtzug
Der Nachtzug kommt pünktlich an. Tausend Kilometer nördlich ist die Luft dünner. Ein Hauch Kaffee, eine Spur Bockwurst öffnen die Türen. Mit einem fremden Gesicht schob ich mein Gepäck durch die schmalen Gänge. Und müde. Ich sass, seit ich geweckt wurde, dem neuen Tag allein gegenüber. Im Spiegel, hinter der Glasscheibe, stand die Landschaft. Ich schaute ins Morgenlicht, in beispielhafte Felder, Flächen, von tiefem Himmel begrenzt, in Dörfer, auf den Bodennebel, Windräder, eine Schnellstrasse und in den Wald, ein Zeichen, dem Ziel näher zu sein: Berlin. Bahnhof Zoo. Die Station schien unverändert. Der glatte Klinker und die silbrigen Stahlträger glänzten. Die Glashalle atmete.
Leute warten auf die S-Bahn. Ich sehe Gesichter und spüre, dass ich eine Adresse nicht erwarten kann, eine warme Dusche. Mit zusammengekniffenen Augen steht er da und suchte unter den Ankommenden mein Gesicht. Nie konnte ich ihn dazu bewegen, eine stärkere Brille zu kaufen. Jetzt, da ich ihn von weitem sehe, fällt mir auf, wie unscheinbar er eigentlich ist. Die Nähe verfälscht die Verhältnisse. Aber ist es nicht gut, einem Menschen nahe zu sein?
Ich lächle. Er nimmt meine Tasche und geht schweigend neben mir her. Wir reihen uns in die Schlange, die zur Rolltreppe führt. Ich wende meinen Kopf, schaue auf seine Seite. Wie bleich er ist. „Was hast du?” frage ich ihn. Er antwortet nicht. Wir gehen durch die Eingangshalle. „Komm, trinken wir einen Café”, sagt er. Wir überqueren die Strasse und versuchen, den Menschen auszuweichen. Es ist Sommer. Frauen tragen Leichtes. Offene Schuhe. Ich fühle mich, als trüge ich seit Wochen nichts.
Warum schweigt er? Wie schön wäre es, aus seinem Mund, die Wetterlage und die Fussballresultate zu hören. Vermischte Meldungen. Oder Neues aus Forschung und Technik. Aber sein Schweigen ist lauter als der Verkehr.
Wir sitzen draussen. Auf einem grünen Kunstrasen, unter Palmen und Bananenbäumen. Der Kellner bringt die Cocktailkarte. Wir bestellen Kaffee. Den Kellner begleitet Kubanische Musik. Er drückt die Zigarette in den Aschenbecher und greift in die Hemdtasche nach der Schachtel. Sein Hemd ist zerknittert wie sein Gesicht. Endlich sagt er, während er sich die Zigarette anzündet: „Ich habe aufgeräumt und sauber gemacht.” Schön. Mich beruhigt das. Es rettet einem das Leben. Der Kellner kommt mit den Getränken. Der Kaffee schmeckt bitter und wässrig zugleich. Ich schaue mir die Menschen an, die vorbeigehen. Was haben sie alle, gerade hier, an diesem Ort verloren? Ja, sie tragen Plastiktüten mit Markennamen, sie schwärmen in die Kaufhäuser. Als erfüllten sie wie das Ungeheuerliche eine Pflicht. „Hast du noch Hemden?”, frage ich, während ich ebenfalls eine Zigarette nehme. „Ich hatte keine Zeit mehr, die Sachen zu bügeln“, antwortet er und streift mit seinen Augen eine junge Frau, die in knappem Kleid vorbeigeht. Ich schaue ihr nach. Sie hat schöne Beine.