



Mit neun farbigen Wortbildern und einer Bildtafel von Jürgen Dreißig
In den acht Kapiteln seines religionsgeschichtlichen Werkes schlägt Uwe Nösner einen Bogen von der Mystik der Upanishaden bis hin zu Rudolf Steiners Anthroposophie. Am Anfang ordnet er theosophisches Denken in die Geschichte der religiösen Ideen ein, wo es in allen Weltreligionen seinen Ursprung besitzt. Er charakterisiert die neue spirituelle Dimension, die seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert in Erscheinung tritt und in der bereits alle Grundsätze theosophischen Denkens und Seins wie die Lehren von der Wiederverkörperung des Geistes und den Ebenen der Welt und des Menschen formuliert worden sind. Der östlichen Mystik und griechischen Mysterienweisheit als den ältesten Quellen theosophischen Denkens folgen Kapitel über die christliche Gnosis und den Neuplatonismus sowie die spirituellen Bewegungen des Mittelalters, wobei der Kabbala besondere Beachtung geschenkt wurde. Einen zentralen Stellenwert nimmt dann die Systematik der frühen Bezüge zwischen Theosophie und Naturwissenschaft ein, ehe die neuzeitlichen Entwicklungen von Paracelsus bis Emanuel Swedenborg und von Goethe bis zur theosophischen Bewegung des 19. Jahrhunderts nachvollzogen werden. Mit Rudolf Steiner schließt sich der in den Upanishaden eröffnete Kreis, aber der Autor lässt den Leser an dieser Stelle nicht allein. Vielmehr lädt er ihn ein, die Theosophische Bibliothek selbst zu betreten, die er in einer gutsortierten und übersichtlich gegliederten Bibliografie zusammengetragen hat.
„Theosophisches Denken“, so Nösners Fazit, „hat sprach- und Kulturkreisgrenzen durchbrochen und war während der letzten 2.500 Jahre vielfältigen qualitativen Wandlungen unterworfen. Es stand unter der Akzendenz von Philosophie und Theologie, Naturwissenschaft und Mystik, Alchemie und Magie, Okkultismus und Astrologie. In der historischen Zusammenschau aber stellen sich uns die aus scheinbar so unterschiedlichen Perspektiven gewonnenen Ideenwelten als großartige Variationen einer bestimmten, ziemlich kleinen Zahl von unvergänglichen Wahrheiten über das Wesen des Göttlichen, die Geheimnisse des Universums, das Schicksal des Individuums und die geistige Entwicklung des Menschen und der Menschheit dar. Ihre Aktualisierungen sind für die Generationen der Gegenwart im 21. Jahrhundert zu suchen und werden, wenn überhaupt, dann nur im schöpferischen Geist des Einzelnen zu finden sein.“
Der Band empfiehlt sich als Einführung in die Geschichte spirituellen Denkens und als Inspirationsquelle für den Dialog zwischen den Religionen der Welt. Gesonderte Personen- und Sachregister laden darüber hinaus aber auch zum gelegentlichen Nachschlagen ein.Uwe Nösner: geb. 1960 in Dresden, lebt dort als Redakteur und Redenschreiber.
LESEPROBE:
Vorwort
Worte wie Geist, Weg, Wort, Mystik, Natur, Licht, Freiheit, Mensch und Buch, die den Wortbildern von Jürgen Dreißig zugrundeliegen und uns auf dem Weg durch dieses Buch von Kapitel zu Kapitel begleiten werden, sind Grundbegriffe, die jedem Leser begegnen, wenn er sich mit den Quellen von Religion und Theosophie zu befassen beginnt und sich darum bemüht, seine Religiosität schöpferisch zum Ausdruck zu bringen. Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Geschichte der theosophischen Ideen, wie sie mir innerhalb der Religions- und Geistesgeschichte entgegengetreten sind. Die Keimzelle zu dieser Arbeit wurde 1998 in Form eines Privatdrucks in wenigen Exemplaren gelegt, der auf einen eng gezogenen Interessentenkreis beschränkt geblieben ist und als Einführung in ein umfangreiches, möglicherweise mehrbändiges Werk angelegt war. Seitdem bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass es für die heutige Zeit wichtiger ist, die durch eine oberflächliche Esoterik überschwemmten Wege zu den Quellen schöpferischer Religiosität und theosophischer Ideen freizulegen, als eine großangelegte historische Bestandsaufnahme theosophischer Stoffe vorzunehmen. Ich habe mich daher vor allem darum bemüht, theosophisches Denken aus dem Gang der Geschichte der religiösen Ideen herauszukristallisieren, um die Inhalte verständlich werden zu lassen, die von den Upanishaden im 7. vorchristlichen Jahrhundert bis hin zur Anthroposophie des 20. Jahrhunderts immer neue Variationen erfahren haben, aber in ihrem spirituellen Grundbestand über die Jahrtausende gültig geblieben sind.(4)
Meinen Ausgangspunkt fand ich in den 90er Jahren bei Rudolf Steiner, nicht weil meinerseits eine besondere Nähe zur anthroposophischen Bewegung bestanden hätte, sondern weil unter den „spirituellen Meistern des Westens“ – wie Gerhard Wehr sie benennt - zuallererst von ihm eine Geschichte der theosophischen Ideen zu erwarten gewesen wäre. Während Steiner keine zusammenfassende Gesamtschau seiner Quellen hinterlassen hat, ist sie dem großen Religionswissenschaftler Mircea Eliade für den Kosmos der religiösen Ideen geglückt. Seine „Geschichte der religiösen Ideen“ hat für mich den Beweis erbracht, dass ein derartiges Unterfangen menschenmöglich, wenn auch nur unter den Bedingungen einer freien und materiell unabhängigen Existenz zu bewerkstelligen sei. Auch wenn mir das zu keiner Zeit vergönnt war, so blicke ich doch mit Dankbarbeit auf eine spirituelle Reise zurück, die ich ohne die Werke von Rudolf Steiner und Mircea Eliade niemals gewagt hätte. Der geistige Ertrag wäre auch dann unschätzbar gewesen, wenn dieses schmale Buch niemals das Licht der Welt erblickt hätte.(5)
Das Zentrum theosophischen Denkens bildet der Geist und dort, wo der Einzelne mitten im profanen Leben vom Heiligen berührt wird, der Dialog des Menschen mit Gott. Dieser Dialog ist zu allen Zeiten besonders intensiv in den Randbezirken der großen Religionen gepflegt und allen äußeren Widerständen zum Trotz geführt worden. In den theosophischen Weltbildern, die auf dem Boden des Hinduismus, des Buddhismus, des Judentums, des Christentums und des Islam erwachsen sind, hat dieses Ringen des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott und mit seiner eigenen Bestimmung die tiefsten Spuren hinterlassen. Die Lichter der göttlichen Weisheit (Theosophia) haben zu allen Zeiten geleuchtet. Sie finden sich in allen Jahrhunderten, in allen Weltkulturen und über den gesamten Erdkreis zerstreut. Sie sind – um mit Goethe zu sprechen – die Bruchstücke einer großen Konfession, die über das einzelne Ideensystem hinaus Gültigkeit besitzen, weil sie dem Gesetz des Geistes und der Freiheit folgen.
Zur göttlichen Weisheit als Offenbarung an den menschlichen Geist und als Überlieferung in der Geschichte der Menschheit tritt die messianische Freiheit als jene schöpferische Kraft hinzu, die dem Weg des Menschen seine Dynamik nach der Zukunft hin schenkt. Das Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft baut sich in der Gegenwart Gottes und des geistesgegenwärtigen Menschen auf. Einer solchen Vergegenwärtigung in der Anbindung des menschlichen Geistes an die geistige Welt gibt der Geist das Gesetz. Wenn der Geist Gottes, der keine Grenzen kennt, im Menschen erwacht, hat daher zugleich auch die Stunde der Freiheit des Menschen geschlagen. Darunter verstehe ich schöpferische Religiosität. Der Mensch des Weges ist der messianische Mensch. Er ist der Weg und ist das Leben. Er wandelt den Königsweg, auf dem die Freiheit in Gott immer wieder gesucht wurde und von jedem Einzelnen durch die Wiederanbindung des menschlichen Geistes (religere) an das Göttliche auf dem Boden aller Religionen und vor allem in ihren theosophischen Früchten zu finden ist. (6)
Wenn ich den Wegen meiner Spurensuche auf den Seiten dieses Buches folge, so verstehe ich mich nicht als Neuerer, sondern vielmehr als Bewahrer einiger weniger Wahrheiten, die immer wieder Gefahr laufen, im Alltag der Gegenwart verloren zu gehen. Deshalb waren mir gedankliche Anstöße wichtiger als inhaltliche Ausgewogenheit um jeden Preis. Erst recht nicht erhebe ich den Anspruch, ein Historiker der Geschichte der theosophischen Ideen zu sein. Es geht nicht mehr, aber auch nicht weniger als darum, theosophisches Denken und schöpferische Religiosität als tausendstimmiges Vorspiel einer Religion der Zukunft wahrzunehmen, in meinem eigenen Leben und Denken und jenem Gegenüber, das jeder von uns in sich selber trägt, zu erkennen zu geben.
Ginge es mir darum, Geschichte zu schreiben, so müsste ich eine Opfer-, eine Leidensgeschichte schreiben. Ich würde diese Geschichte vielleicht nicht ertragen können, niemandem zumuten dürfen, meinen Berichten aus der irdischen Hölle zu folgen und mich aus dieser mörderischen Geschichte verabschieden wollen. Aber ich schreibe eine Geschichte der Ideen, in denen der Geist seine Ausdrucksmöglichkeiten gegen alle Widerstände gefunden hat und lege Zeugnis ab für deren Lebendigkeit, deren Unaustilgbarkeit über die Genozide der Jahrhunderte hinweg und auch über die Schwelle dieses 2. Jahrtausends hinaus.
Das Reich der Ideen und jener, die sie dachten in den dunkelsten Stunden der Welt, unterliegt nicht den Gesetzen der Zeit. Es ist die ewige Gegenwart, die unvergängliche Essenz, aus der wir immer von neuem Leben, Liebe und Freisein schöpfen, während die Hieroglyphe verglüht und Geschichte vergeht. (7)
ERSTES KAPITEL
Theosophisches Denken
in der Geschichte der religiösen Ideen
1. Das Wesen der Theosophie
Theosophisches Denken ist ein fester Bestandteil der Geschichte des menschlichen Geistes und der religiösen Ideen von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, wobei für die prähistorische Frühzeit allenfalls von geistigen Hinweisen, aber noch nicht von ausformulierten Ideen gesprochen werden kann. Grundsätzlich erkennen wir in der Theosophie zwei Tendenzen, die bereits in ihren frühesten Erscheinungsformen, den Upanishaden im Osten und den orphischen Mysterien im Westen, zutrage treten. Es sind eine philosophische und eine religiöse, die einander durchdringen und jene Steigerungen überhaupt erst möglich machen, die höhere Erkenntnis (Gnosis) und Gotteserfahrung (Mystik) miteinander verbinden. In dieser Verknüpfung und gegenseitigen Befruchtung liegt das Erscheinen jener denkerischen und religiösen Qualität begründet, die wir mit den Begriffen „Gottesweisheit“ oder „Theosophie“ zu erfassen suchen. Immer wird es das Streben des Theosophen sein, seine Erkenntniskräfte und seine religiösen Erlebniskräfte gleichermaßen zu entwickeln und zu voller Entfaltung zu führen. Als Denker wird er bei philosophischen Vernunftgründen nicht haltmachen, sondern die Grenzen der sinnlichen Welt überschreiten wollen. Andererseits wird er der Gefahr zu begegnen wissen, die das Versinken in reiner Gefühlsmystik für die Bestimmung des geistigen Menschen bedeuten kann. (8)
Es ist die Ausbildung des höheren Erkenntnisvermögens (Gnosis), die den mystischen Gehalt theosophischer Lehre von Mystizismus und Gefühlsmystik unterscheidet. Die Unio mystica, das In-Gott-Sein, beschreibt Seinsweisen des Mystikers und des Theosophen gleichermaßen. Ohne eine der möglichen Ausdrucksformen mystischen Erlebens herabsetzen zu wollen, weise ich bereits an dieser Stelle darauf hin, dass nur ein spezifisches und genau zu definierendes Segment der Weltmystik in einer Geschichte der theosophischen Ideen zur Sprache kommen kann. Entscheidend ist der Ideengehalt eines Mystikers, nicht die Intensität seiner mystischen Erfahrung. Das ist der Unterschied. Die Schauungen des Jüngsten Gerichts, des höllischen Infernos oder der Leiden Christi stehen, zu wessen Erbauung die Wunden auch immer bluten mögen, für seherische Begnadungen höchsten Grades und tiefste Empfindungskraft. Und dennoch fallen sie in eine individuelle Erlebnissphäre, die kein eigenschöpferisches und weiterwirkendes Moment in den Gang der Geistesgeschichte einträgt, weil sich das Bild nicht zur Idee verdichtet und sich in der Welt des Gedankens nicht zu entfalten vermag.(9)
Die Mystik der Frauenklöster des abendländischen Mittelalters wird ihren Platz in jeder Geschichte der Mystik behaupten können. Eine Geschichte der theosophischen Ideen wird sich beschränken müssen auf Phänomene und Systeme von denkerischem Rang, wie sie seit der Geheimlehre der Upanishaden im Schrifttum aller Religionen überliefert sind. Es handelt sich um theosophische Weltbilder, um Türme von Ideen, wie wir sie im deutschen Denken bei Meister Eckhart und Jakob Böhme und innerhalb der Hauptströmungen der jüdischen Mystik in der klassischen und lurianischen Kabbala gefunden haben. Ich fühlte mich immer gehalten, die Substanz selbst zu prüfen und es zumindest für die vorliegende Gesamtübersicht zu vermeiden, persönlichen Vorlieben nachzugeben. Das Quellenmaterial hat mir die Grenzen gezeigt und mir zugleich immer auch signalisiert, wo es Grenzen zu überschreiten galt, um dem Wesen und den Wegen schöpferischer Religiosität gerecht zu werden.
Eines aber steht außer Zweifel: Eine Abkehr von der Außenwelt, dem Getriebe der Zeit, wird dem Theosophen ebenso notwendig sein wie dem Mystiker. Abkehr bedeutet nicht Isolation, sondern die Voraussetzung, jenes Wieder-Anbinden (religere) an das Göttliche überhaupt erst möglich werden zu lassen. Zu übermächtig bricht das Trennende immer wieder in den geistigen Werdegang des Einzelnen und in den historischen Prozess der Menschheitsentwicklung ein. Individualismus als geistiger Mantel innerhalb einer orientierungslosen und wertverwahrlosten Welt ist nicht nur in den Biographien Gautama Siddhartas, der Buddha wurde, und des Jesus von Nazareth, der Christus wurde, bezeugt. Der Weg in die Hauslosigkeit, der Wüstenweg, ist ein Initiations-, ein Einweihungsweg für die Wenigen geworden. Aber diese Wenigen haben durch ihre Bindung an den göttlichen Abgrund unserer Herkunft die Seele des Menschen wieder tragfähig gemacht für das Göttliche. Geistes-Gegenwart setzte zu aller Zeit den geistesgegenwärtigen Menschen voraus, der Kontemplation und Aktion in sich selbst und aus sich selbst heraus schöpferisch zu vereinigen wusste. Und mag innenweltliches Wachstum des Einzelnen auch über weitere Strecken hinweg ohne Einfluss auf den historischen Gang der Gattung sein, so gibt es sich doch ein in den untergründigen Strom, der das erstarrte Gestein profaner Geschichte durchpulst. Der stete Tropfen, der den Stein höhlt, wird hier zur überlebenswichtigen Essenz. (10)
Der Mystiker des 20. und 21. Jahrhunderts wird sich in seiner geistigen Substanz und seiner Deutung des Daseins nicht grundlegend vom frühgriechischen Orphiker, vom irischen Anachoreten, vom Spirituellen der aufdämmernden Neuzeit unterscheiden. Aber er wird, beladen durch den Zustand der abendländischen Zivilisation, in den er sich hineingeworfen findet, eine Tendenz zum Theosophischen in sich vorgeprägt finden. Er wird seinen Gefühlen misstrauen und – um seiner Aufgabe gerecht zu werden – zugleich Theologe und Philosoph sein müssen.
Ich vermute, dass bereits Eckhart – und Rudolf Steiner erst recht – vor einem Erfahrungshintergrund gearbeitet haben, der dem unseren nahe verwandt ist. Wenn wir aber die Erfahrungsdistanz ermessen, die sich zwischen dem Zeit-Erleben beider, der Erfahrung von Kultur auf der einen Seite und Zivilisation auf der anderen auftut, müssen wir möglicherweise ein eigenes Blatt in der Geistesgeschichte aufschlagen helfen, auch wenn es uns hier um die Geschichte der theosophischen Ideen geht.
2. Die Vorgeschichte
Die Vorgeschichte der theosophischen Ideen, in der von einem religiösen Denken in unserem Sinne nicht gesprochen werden kann, reicht bis in die Steinzeit zurück. Mircea Eliade warnt davor, einen so großen Teil der Geschichte des menschlichen Denkens unerforscht zu lassen, weil man damit nur allzuleicht die Vorstellung begünstige, während dieser ganzen Zeit habe sich die Aktivität lediglich auf die Bewahrung und Weitergabe der Technologie beschränkt. Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod scheint schon für die früheste Zeit bewiesen zu sein. Dieses Fortleben konnte rein geistig, also als Weiterleben der Seele verstanden werden, eine Vorstellung, die durch das Erscheinen der Toten in Träumen bestärkt wurde und auf eine Wiedergeburt hoffen ließ. Eliade nimmt für jene Zeit nicht nur den Glauben an ein persönliches Weiterleben nach dem Tode an, sondern auch die Gewißheit, dass der Tote im Jenseits seine spezifische Aktivität in irgendeiner Art und Weise fortsetzen werde. Die nach Osten ausgerichtete Position der Toten verrate zudem die Absicht, das Geschick der Seele mit dem Lauf der Sonne zu verbinden, also die Hoffnung auf ein Weiterleben in einer jenseitigen Welt. Dass die geistige Aktivität des Altsteinzeitmenschen darüber hinaus nur sehr schwache Spuren hinterlassen hat, versteht sich von selbst. Dennoch stellt sie sich nach dem heutigen Wissensstand weit komplexer dar, als man das noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts angenommen hat. So wird heute davon ausgegangen, dass der Kopf, das heißt, das Gehirn bereits damals als Zentrum der im ganzen Körper gegenwärtigen Seele bzw. des Geistes gegolten hat. Der Mensch der frühen Ackerbaukulturen hat kosmische Zyklen erkannt und offenbar auch zyklisch gedacht. Er war den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit und dem „Geheimnis von Geburt, Tod und Wiedergeburt“ auf der Spur, was „der periodischen Erneuerung der Welt“ in kosmischen Dimensionen entspricht. Das hat offenbar dazu geführt, dass den mesopotamischen Religionen das Gesetz der ewigen Wiederkehr zugrundeliegt. Vor diesem Hintergrund sollten sich die Mysterien entwickeln, die dem Heil der Menschen und ihrer Bestimmung nach dem Tode gewidmet sind. Der Geist des Menschen gewährt ihm die Teilhabe an der geistigen Welt. Gleichzeitig gewinnt die Persönlichkeit zusehends an Kontur. Indem wir die religiöse Gedankenwelt des alten Ägypten betreten, ohne sie in diesem Zusammenhang gesondert würdigen zu können, bewegen wir uns im Gang der Weltgeschichte bereits ins Vorfeld der Theosophie.(11)
Ich bin in diesem Zusammenhang immer wieder überrascht, mit welchem Selbstbewusstsein akademische Forscher, Ausgräber und Interpreten diesen Schleier vollständig fallen lassen und uns in die ägyptische und sumerische Geisteswelt des 4. vorchristlichen Jahrtausends vielbändig einzuführen verstehen. Wie vorsichtig nähern sich dagegen Mythendeuter wie Jung, Eliade und Kerenyi jenen so verwegen aufgedeckten „geschichtlichen Realitäten“, die für unser Tagesbewusstsein keine „Realität“, und schon gar keine „geschichtliche“, sondern bestenfalls eine „mythologische Wahrheit“ enthalten können.
Das erste im eigentlichen Sinne und auch für den heutigen Leser rekonstruierbare „theosophische System“ lässt sich nicht aus Keilschrift-Bruch, Sarg-Hieroglyphe, Schlemm-Sand und Tonscherbe entziffern. Es liegt vor in der ursprünglich vom Lehrer auf den Schüler in „geheimen Sitzungen“ übermittelten und später auch schriftlich niedergelegten Mystik der Upanishaden, wie das am Anfang des zweiten Kapitels dargelegt ist.
3. Die Initialzündung
Ehe wir von den Frühformen theosophischen Denkens zu sprechen beginnen, müssen wir uns eingestehen, dass wir uns auf unsicherem Boden bewegen, da dessen Anfänge keine klaren Konturen zeigen und gleichsam im Nebulösen kaum rekonstruierbarer magischer Überlieferung und mündlich vermittelter Traditionen zu suchen sind. Es wäre vermessen, unsere Perspektive, die durch die Bewusstseinslage des Abendländers der Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend bestimmt ist, auf den Erfahrungs-, Erkenntnis- und – vor allem – Erinnerungshorizont eines altindischen Rishis oder orphischen Mysten projizieren zu wollen, deren spirituelle Genealogien für uns im Dunkeln liegen.(12)
Entscheidend ist unser eigener Standort, wobei weniger auf historische und geographische Gegebenheiten zu orientieren ist, als vielmehr auf die uns zugewachsenen, jedoch nicht auf alle menschlichen Entwicklungsphasen anwendbaren Möglichkeiten spirituellen und intellektuellen Denkens. Diese markieren das Zentrum, den Ursprung; begrenzen, erweitern, verzerren die Horizonte; entscheiden aber letztlich über den uns verfügbaren Weltinhalt. Ideen- und entwicklungsgeschichtlich ist diesem Gedanken- und Weltinhalt ein Rahmen von nicht einmal 3.000 Jahren gesetzt, auch wenn – wie beispielsweise im Judentum – Offenbarungen überliefert worden sind, die noch weiter zurückreichen. Deren Aufzeichnung ist uns jedenfalls in einer Form erhalten geblieben, die unseren eigenen Gedanken, Vorstellungen und Erfahrungen entspricht. Was Imagination, Inspiration und Intuition über diese Zeitschranke hinaus an Erinnerungsgut zu übertragen vermögen, wird dann zur Sprache gebracht, wenn wir uns am Ende unserer spirituellen Reise auch der Akasha-Chronik als Form des universellen Gedächtnisses zuwenden werden.
Jene Epoche der Geistes- und Bewusstseinsentwicklung des Menschen, der wir selbst noch angehören und der allein wir mit unseren Mitteln Ausdruck verleihen können, hat im siebenten vorchristlichen Jahrhundert ihren Anfang genommen. Die kulturellen Bezugssysteme (Mensch – Gesellschaft – Kosmos) verlagern ihre Koordinaten zugunsten des Individuums. Das Allerheiligste erhält Risse; göttliche Weisheit verlässt die Tempelbezirke; der Priester gibt seine Mittlerrolle ab an den menschlichen Geist als unmittelbarem Resonanz- und Erfahrungsraum Gottes. Zwischen Mittelmeer und Pazifik erfassen geistige Impulse zeitgleich und nahezu schlagartig die gesamte zivilisierte Welt, aus denen heraus sich der Rhythmus der Geschichte als Pulsschlag der geistigen Entwicklung des Menschen und der Menschheit völlig neu definiert. (13)
Es sind Zeitgenossen, die aus jener Initialzündung heraus ans Licht der Geschichte treten und: auch und noch immer die unseren. Genannt seien, als die religions- und ideengeschichtlich Schöpferischen: Anaxagoras, Buddha, Empedokles, Hekaklit, Hesekiel, Hesiod, Jeremia, der zweite Jesaja, Konfuzius, Lao-tse, Mahavira, die Orphiker, Protagoras, Pythagoras, die Schöpfer der Upanishaden, Xenophanes und Zarathustra. Wir finden unter ihnen Dichter und Philosophen, Propheten und Religionsstifter, Wanderprediger und Weisheitslehrer. Ihre Biographien überschneiden sich, verdichtet im Zeitraum zwischen 580 und 480 v. Chr., vielfach. Die Stätten ihres Wirkens markieren ein geo-graphisches Kraftfeld, das von Sizilien und Süditalien im Westen über Griechenland, Thrakien, Kleinasien, Israel, Mesopotamien, Persien und Indien bis nach China im Fernen Osten pulsiert und in dem zugleich alle Weltreligionen ihren Ursprung besitzen.
Von hier aus zeichnet sich ein geistiger Rhythmus der Menschheitsgeschichte ab, der nach Perioden von jeweils 700 Jahren Knotenpunkte aufzuweisen hat, von denen im 1., 8. und 15. Jahrhundert neue geistige und religiöse Entwicklungsimpulse ihren Ausgang genommen haben.
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